Familienanamnese besonders wichtig

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Transkript:

Quelle: Theresa Patzschke von Dr. Thomas Kron ist ein Befund, der vielleicht einfach zu erheben, aber angesichts der vielen möglichen Ursachen umso schwieriger einzuordnen ist. Es handelt sich nicht um eine differenzierte Diagnose, vielmehr um ein Leitsymptom, das noch genau abzuklären ist, sagte PD Dr. Matthias Kieslich. Diese differenzialdiagnostische Abklärung sei sehr anspruchsvoll, sowohl beim Neugeborenen als auch bei Kindern, die wegen Entwicklungsverzögerung und muskulärer Hypotonie im ersten Lebensjahr vorgestellt werden. Das kann langwierig und für das Kind wie die Eltern belastend sein, sei aber unumgänglich, denn eine gute Aufklärung der Eltern, etwa über die Prognose, sei nur mit einer genauen Diagnose möglich, betonte der Neuropädiater der Universitätskliniken Frankfurt in einem Gespräch mit Pädiatrix. Eine genaue Ursachenklärung mahnte auch der Hamburger Neuropädiater Dr. Burkhard Püst vom Kinderkrankenhaus Wilhelmstift an: Die primäre Verordnung von Physiotherapie und/oder manualtherapeutischen Manipulationen vor adäquater Diagnostik provoziert unnötig lange Irrwege und Fehleinschätzungen [1]. Familienanamnese besonders wichtig Zunächst gilt es festzustellen, ob überhaupt eine muskuläre Hypotonie oder etwa eine muskuläre Schwäche besteht. Eine muskuläre Hypotonie ist definiert als er Widerstand gegen passive Bewegungen im Gelenk. Eine Muskelschwäche besteht, wenn die maximale Kraft reduziert ist [2]. Nach der Befund-Objektivierung beginnt mit einer ausführlichen Anamnese die Diagnostik. Hier sollte unter anderem geklärt werden, seit wann die Symptomatik besteht, ob sie bereits seit der Geburt oder im Verlauf des ersten Lebensjahrs aufgetreten ist. Außer auf die Schwangerschafts- und Geburtsanamnese ist großer Wert auf die Familienanamnese zu legen. Dies gilt vor allem bei Verdacht auf eine genetisch bedingte Muskelhypotonie, in deren Diagnostik es in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gegeben hat etwa durch die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) und die vergleichende Genomhybridisierung (Comparative Genomic Hybridization, CGH) [3]. Rund 30 Prozent der Diagnosen könnten heute molekulargenetisch gestellt werden, schätzt Prof. Rainer König vom Institut für Humangenetik der Universität Frankfurt. Die Familienanamnese sollte immer über drei Generationen gehen, aber nicht einfach nur aufgeschrieben werden. Zeichnen Sie stattdessen einen Stammbaum! Dann sehen Sie sofort, wie die Zusammenhänge sind und wer betroffen ist, empfahl König bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft

5 für Kinder- und Jugendmedizin im September dieses Jahres in Mannheim. Nach der Anamnese gilt es, die muskuläre Hypotonie zu definieren. Dabei genügt es meist nicht, allein das Neugeborene oder das Kind zu untersuchen. Achten Sie immer auch auf die Mutter! Ein myopathisches Aussehen, also ein langes und schmales Gesicht der Mutter, eine myotone Reaktion beim Händedruck und Probleme beim kräftigen Augenschluss sind deutliche Hinweise auf eine kongenitale myotone Dystrophie, eine der häufigsten genetischen Ursachen für ein Floppy-infant-Syndrom, bei der immer die Mütter mitbetroffen sind, erläuterte König. Zu unterscheiden sind bei der Hypotonie: die zentral bedingte Hypotonie die neuromuskuläre Hypotonie eine Hypotonie im Rahmen eines Syndroms Eine weitere Differenzierung ermöglichen die anatomischen Strukturen, die betroffen sein können, außer dem Gehirn also die peripheren Strukturen motorische Vorderhornzelle, motorische Endplatte, peripherer Nerv und Muskulatur. Die präzise Unterscheidung kann allerdings weiterführende diagnostische Verfahren, etwa elektrophysiologische und laborchemische Verfahren, erfordern. Für eine erste Differenzierung zwischen zentraler und peripherer (neuromuskulärer) Hopotonie geben klinische Symptome meist schon wichtige Hinweise [4] (siehe Tabelle). Auf eine schwere ZNS-Anomalie als Ursache einer zentralen Hypotonie weisen postnatale Vigilanz- und Trinkstörungen hin, außerdem Apnoen und Krampfanfälle sowie abnorme Hirnstammreflexe und Augenbewegungen [1]. Säuglinge mit einer zentralnervösen Schädigung haben oft einen niedrigen Tonus mit relativ gut erhaltener Muskelkraft. Die Muskeleigenreflexe sind meist erhalten oder gesteigert. Fehlbildungen und Dysmorphien weisen auf ein genetisch bedingtes Syndrom hin. Zentrale Ursachen sind am häufigsten Bei 60 bis 80 Prozent aller Kinder mit Hypotonie liegt eine zentrale Ursache vor [2]. Ein Beispiel für eine zentrale Erkrankung mit Hypotonie ist die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie die häufigste Ursache des Floppy-infant-Syndroms. Zusätzlich zur Hypotonie haben die Säuglinge weitere Symptome, zum Beispiel eine e Aufmerksamkeit. Im Verlauf der ersten zwei Jahre entwickeln sie dann Pyramidenbahnzeichen mit gesteigerten Muskeleigenreflexen und erhöhtem Muskeltonus [2,5]. Ebenfalls zu einer zentral bedingten Hypotonie können metabolisch-toxische Enzephalopathien führen, bei denen zusätzlich zur Hypotonie und Bewusstseinsstörung oft Krampfanfälle auftreten. Ein Beispiel für eine metabolische Erkrankung ist der Morbus Pompe, der sowohl im Kindes- als auch im Jugend- oder Erwachsenenalter auftreten kann. Ursache ist ein genetisch bedingter Mangel oder das völlige Fehlen der lysosomalen sauren Alpha-1,4-Glukosidase (saure Maltase) [6]. Eine weitere zentrale Störung ist das Joubert- Syndrom oder der Joubert-Phänotyp, eine angeborene Erkrankung mit autosomal-rezessivem Erbgang, die zu den sogenannten Ciliopathien zählt [7]. Die Säuglinge haben, wie König berichtete, eine Hypoplasie des Kleinhirnwurms und sind schwer retardiert. Weitere Befunde Tabelle: Klinische Befunde in Abhängigkeit von der betroffenen anatomischen Struktur Quelle: modifiziert nach [2] Parameter Kraft Struktur Muskeleigenreflexe Pyramidenbahnzeichen Muskelmasse (proximale Atrophie, Pseudohypertrophie) Muskel-Faszikulationen ZNS etwas gesteigert Motorische Vorderhornzelle Peripherer Nerv Motorische Endplatte Muskel oder fehlend positiv negativ negativ negativ negativ (proximale Atrophie) (distale Atrophie) negativ positiv negativ negativ negativ Gefühl normal normal verstärkt oder normal normal

6 Abbildung 1: Zehnjähriger Junge mit Morbus Duchenne und der typischen pseudohypertrophen Muskulatur sowie einer neuromuskulären Skoliose Quelle: Dr. P. Kluger/ Dr. Th. Kron Abbildung 2: Familienanamnese für Diagnosestellung Zweites Kind gesunder Eltern. Die Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits sind gesund. Der Sohn einer Schwester der mütterlichen Großmutter war mit 20 Monaten gestorben. Er hatte eine schwere Hypotonie, musste beatmet und über eine PEG ernährt werden. Die Störung wurde auf eine schwere und lange Geburt zurückgeführt. Diagnose: myotubuläre Myopathie, X-gekoppelt rezessiv. Quelle: modifiziert nach Prof. R. König sind eine unregelmäßige Atmung, zusätzliche Finger oder Zehen (postaxiale Polydaktylie), Spaltbildungen des Auges (Kolobome), Nierenzysten, fehlende Blickzielbewegungen (okulomotorische Apraxie) und degenerative Netzhaut-Erkrankungen (tapetoretinale Degeneration). Ebenfalls mit einer Hypotonie einher geht die Holoprosenzephalie, eine unvollständige oder fehlende Differenzierung des Vorderhirns, bei der das Riechhirn fehlt [8]. Klinische Symptome sind auch hier eine mentale Retardierung und Krampfanfälle. Die Erkrankung kommt nicht nur isoliert vor, sondern auch im Rahmen von Syndromen, sodass unter anderem nach Symptomen wie einem kleinen Penis, dysplastischen Ohren und Syndaktylie gesucht werden sollte, empfahl der Humangenetiker. Da es erbliche Formen der Holoprosenzephalie gibt, ist auch hier die Untersuchung der Eltern und Geschwister besonders wichtig. König: Fahnden Sie bei der Mutter immer nach Mikrosymptomen wie Hypotelorismus, singulärem Schneidezahn, flachem Gesicht sowie flacher Nase. Und achten Sie auch darauf, ob der Vater oder die Mutter extrem klein sind, was auf einen Mangel an Wachstumshormon hinweist. Bei geringstem Verdacht ist eine Gendiagnostik indiziert Neuromuskuläre, also periphere Erkrankungen sind im Gegensatz zu den zentralen Störungen meist durch isolierte motorische Symptome gekennzeichnet. Außer dem Muskeltonus ist auch die Kraft deutlich reduziert, die Muskeleigenreflexe sind oder nicht auslösbar, die Muskulatur ist atrophiert [2]. Klassisches Beispiel für eine neuromuskuläre Erkrankung auf spinaler Ebene ist die Muskelatrophie Werdnig- Hoffmann [9]. Die Häufigkeit beträgt laut König etwa 1:6000. Diese autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung mit progredientem Untergang der spinalen Vorderhornzellen führt in der schwersten Ausprägung (Typ I) zu einer proximal betonten muskulären Hypotonie mit Areflexie, Zwerchfellatmung und Zungenfaszikulationen bei mental sehr wach wirkenden Neugeborenen beziehungsweise Säuglingen [2,4,9]. Ursache sind meist Mutationen im telsmn-gen (SMN1- Gen) auf dem Chromosom 5q13, was leicht nachweisbar ist. Bestehe der geringste Verdacht auf eine spinale Muskelatrophie, sollte daher auf jeden Fall eine molekulargenetische Untersuchung veranlasst werden, riet König. durch Muskelerkrankungen Zu den primär muskulär bedingten Hypotonien zählen zum einen die kongenitalen Muskeldystrophien, etwa die Dystrophia myotonica Curschmann-Steinert, die autosomal-dominant vererbt wird und auf einer Vermehrung von Trinukleotidsequenzen beruht. Der Schweregrad der recht häufigen Erkrankung (1:10 000) nimmt, wie König erklärte, durch Zunahme der Trinukleotidsequenzen von Generation zu Generation zu (Antizipation). Bei Neugeborenen klinisch leicht betroffener Mütter kann daher eine Symptomatik mit schwerer Hypotonie, globaler Schwäche und Ateminsuffizienz auftreten. Die Diagnose erfolgt durch klinische Untersuchung und Elektromyogramm speziell auch bei der Mutter und molekulargenetisch [4]. Ein weiteres Beispiel für eine Muskeldystrophie ist der Morbus Duchenne, der rezessiv X-chromosomal vererbt wird und wie andere neuromuskuläre Erkrankungen auch außer zu einer Ateminsuffizienz und Kontrakturen zu einer ausgeprägten Skoliose führt (Abbildung 1). Zu den muskulären Hypotonien gehören zum anderen die kongenitalen Myopathien wie die Central-Core-Myopathie, Nemaline Myopathie und Myotubuläre Myopathie, die durch struk-

turelle Veränderungen der Muskulatur charakterisiert sind [10,11]. Zu Beginn sind sie klinisch nicht von Muskeldystrophien zu unterscheiden, auch hier bestehen Hypo- beziehungsweise Areflexie, Kontrakturen und schwere Muskelschwäche. Die Kreatinkinase ist jedoch nicht verändert. Die Diagnose erfolgt elektromyografisch, bioptisch und molekulargenetisch. Einfache Gen-Diagnostik beim Prader-Willi-Syndrom Ein typisches Beispiel für eine syndromale Erkrankung ist das Prader-Willi-Syndrom mit einer Häufigkeit von 1 zu 15 000. Diese Säuglinge zeigen schon unmittelbar nach der Geburt die ersten Symptome mit einer rumpfbetonten muskulären Hypotonie, schlecht auslösbaren Muskeleigenreflexen, reduzierten Spontanbewegungen, Trinkschwäche und Dystrophie [2,5,12]. Die Dysmorphiezeichen im Gesicht sind sehr variabel (mandelförmige Augen, Strabismus, schmale, zeltförmige Oberlippe); meist besteht ein Hypogenitalismus. Es liegt auch eine leichte mentale Behinderung vor, häufig mit Verhaltensauffälligkeiten, außerdem Wachstumshormonmangel, pathologisch gesteigertem Appetit und Adipositas. In über 99 Prozent der Fälle besteht eine Methylierungsstörung der DNA. Genetisch sind eine Mikrodeletion und eine Epimutation (Methylierung einer DNA-Sequenz, die eine regulierte Gen-Expression ermöglicht) an 15q11.2-q13 auf dem paternalen Chromosom oder eine maternale uniparenterale Disomie (homologes Chromosomenpaar nur von der Mutter) nachweisbar. Die Diagnostik, die sehr früh erfolgen sollte, ist nach Aussage von König auch hier einfach. Versorgung in Deutschland ist vorbildhaft Wie sieht es nun mit den therapeutischen Optionen beim Floppy-infant-Syndrom aus? Eine kausale Therapie ist nach Aussage von Kieslich nicht möglich, gentherapeutische Ansätze werden noch erforscht, etwa beim Morbus Duchenne. Zur Versorgung der Patienten ist auf jeden Fall eine multidisziplinäre Behandlung durch Neuropädiater, pädiatrische Pulmologen, Gastroenterologen, Orthopäden und Kardiologen notwendig. Zu den therapeutischen Optionen zählen generell: Physiotherapie Ergotherapie Atemtherapie und Heimbeatmung orthopädische Therapieverfahren, etwa kontrakturlösende Eingriffe und Wirbelsäulen- Operationen bei neuromuskulären Skoliosen Tracheotomie, Bronchialtoilette Logopädie Substitution verschiedener Substanzen wie Thiamin, Riboflavin, Kreatin, Coenzym Q10 Prophylaxe von Pneumonien, Thrombosen und Dekubiti Bezogen auf Diagnostik und Therapie des Floppy-infant-Syndroms ist Deutschland im internationalen Vergleich gut aufgestellt und hat fast schon Vorbildcharakter. Kieslich: Insgesamt haben wir in Deutschland eine der besten Versorgungssituationen für Kinder, das gilt für alle neurologisch kranken Kinder, wenn man das weltweit im Vergleich sieht. Das gilt auch für die Diagnostik. Wir bekommen zum Beispiel sehr viele Anfragen aus dem Ausland, nicht nur aus Russland, Aserbaidschan oder aus arabischen Ländern, sondern sogar aus Schweden und Dänemark, weil dort oft lange Wartezeiten bestehen. Literatur 1. Püst B: Das Floppy-infant-Syndrom. Differenzialdiagnostische Abklärung infantiler Hypotonie. pädiatrie hautnah. 2006 Okt; 5: 232-234 2. Peredo DE et al.: The floppy infant: evaluation of hypotonia. Pediatr Rev. 2009 Sep; 30(9): 66-76 3. Moeschler JB: Genetic evaluation of intellectual disabilities. Semin Pediatric Neurol. 2008 Mar; 15: 2-9 4. Bodensteiner JB: The evaluation of the hypotonic infant. Semin Pediatr Neurol. 2008 Mar; 15(1): 10-20 5. Marina AD et al.: Der Säugling mit muskulärer Hypotonie. Wann besteht ein Floppy-Infant-Syndrom? pädiatrie hautnah. 2009 Sep; S1: S24-S29 6. Das AM et al.: Metabolische Myopathien. Monatsschrift Kinderheilkd. 2006 März; 154: 365-367 7. Doherty D: Joubert Syndrome: insights into brain development, cilium biology, and complex disease. Semin Pediatric Neurol. 2009 Sep; 16: 143-154 8. Dubourg C et al.: Holoprosencephaly. Orphanet J Rare Dis. 2007 Feb; 2: 8 9. Iannaccone ST et al.: Spinal Muscular Atrophy. 2004 Jan; 4: 74-80 10. Goebel HH et al.: Kongenitale und andere Myopathien. Pathologe. 2009 Aug; 30: 365-369 11. Gdynia HJ et al.: Central-core-Myopathie. Eine Erkrankung mit Relevanz im Kindes- und Erwachsenenalter. Nervenarzt. 2007 Jan; 78: 387-392 12. Cassidy SB et al.: Prader-Willi syndrome. Europ J Hum Genet. 2009 Jan; 17: 3-13 Weitere Informationen Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.v.: www.dgm.org 7