Maß- und Integrationstheorie

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Transkript:

Maß- und Integrationstheorie Klaus Ritter Kaiserslautern, SS 2014 Literatur Insbesondere J. Elstrodt, Maß- und Integrationstheorie, Springer, Berlin, 1. Auflage 1996, 7. Auflage 2011. Vorkenntnisse Grundlagen der Mathematik Fortsetzung Die Inhalte der Vorlesung sind grundlegend für die Veranstaltungen Funktionalanalysis und Wahrscheinlichkeitstheorie und damit für jede Vertiefung in den Gebieten Funktionalanalysis oder Stochastik.

Inhaltsverzeichnis I Einleitung 1 II σ-algebren und meßbare Abbildungen 4 1 Mengensysteme............................... 4 2 Borelsche Mengen.............................. 7 3 Meßbare Abbildungen........................... 9 III Inhalte und Maße 15 1 Grundbegriffe................................ 15 2 Fortsetzungssätze.............................. 19 3 Das k-dimensionale Lebesgue-Maß..................... 23 IV Das Lebesgue-Integral 26 1 Definition und Eigenschaften........................ 26 2 Maße mit Dichten.............................. 33 3 L p -Räume.................................. 35 V Produktmaße 39 1 Produkträume................................ 39 2 Produktmaße................................ 43 A Zum Lebesgue-Integral der GdM II 52 Literatur 55 Definitionen 56 ii

Kapitel I Einleitung Wir präsentieren die Begriffe Maß und Integral. Gegeben: eine Menge Ω und eine Menge A P(Ω) mit den Eigenschaften (i) Ω A, (ii) A 1, A 2,... A n=1 A n A, (iii) A A A c A. Eine Abbildung µ : A [0, ] heißt Maß auf A, falls (i) µ( ) = 0, (ii) A 1, A 2,... A paarweise disjunkt µ Beispiele: ( A i ) = µ(a i). (i) Ω = R d oder Ω Sphäre in R d und µ(a) Längenmaß, Flächeninhalt, Volumen etc. einer meßbaren Menge A Ω, (ii) Ω abzählbar, Ω = R N oder Ω = C([0, T ]) und µ(a) Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A Ω, wobei µ(ω) = 1. Ein Thema der Vorlesung ist die Konstruktion von Maßen µ durch eindeutige Fortsetzung von geeigneten Abbildungen µ : A 0 [0, ] auf kleinen Mengen A 0 zu einem Maß auf A. Dies geschieht ohne Annahmen an die Struktur von Ω. Das Ziel A = P(Ω) läßt sich oft nicht erreichen. Gegeben: eine Menge Ω und eine Menge L R Ω mit den Eigenschaften (i) L Vektorraum, (ii) f L f L, (iii) f L min(f, 1) L. 1

I. Einleitung 2 Eine Abbildung I : L R heißt abstraktes Integral, falls (i) I linear, (ii) f L f 0 I(f) 0, (iii) f 1, f 2,... L mon. wachsend sup n N f n L I(sup n N f n ) = sup n N I(f n ). Beispiele: (i) Ω = R d oder Ω Sphäre in R d und I(f) Mittelwert einer integrierbaren Funktion f : Ω R, (ii) Ω abzählbar, Ω = R N oder Ω = C([0, T ]) und I(f) Erwartungswert einer integrierbaren Zufallsvariable f : Ω R. Ein Thema der Vorlesung ist die Konstruktion abstrakter Integrale mit Hilfe von Maßen µ, ausgehend von A A 1 A L I(1 A ) = µ(a), und ohne Annahmen über die Struktur von Ω. Der Weg vom Integral zum Maß wird in Floret (1981) vorgestellt. Im Spezialfall einer beschränkten Menge Ω R d steht das Riemann-Integral zur Verfügung. Wir betrachten den Vektorraum R(Ω) der Riemann-integrierbaren Funktionen f : Ω R. Das Riemann-Integral besitzt u.a. folgende Mängel. (i) Sei Ω ein kompakter Quader. Genau dann gilt f R(Ω), wenn f beschränkt und fast überall stetig ist, siehe Elstrodt (2011, Satz IV.6.1) sowie Bemerkung IV.1.3 und Übung 2.2. Hiermit ist teilweise nicht leicht zu klären, ob f R(Ω) für eine unstetige beschränkte Funktion f gilt. (ii) Sei Ω kompakt und gelte f C(Ω). Daraus folgt nicht f R(Ω), siehe Elstrodt (2011, Aufg. II.8.1) und (i). (iii) Für f 1, f 2,... R(Ω) und f : Ω R gelte und ω Ω : lim f n (ω) = f(ω) sup n N sup f n (ω) <. ω Ω Daraus folgt nicht f R(Ω). Gegenbeispiel: Ω = [0, 1] und f = 1 Q [0,1]. (iv) Der Raum R(Ω), versehen mit der Halbnorm f = f(ω) dω, ist nicht vollständig. Gegenbeispiel: Übung 5.1.b. Ω

I. Einleitung 3 (v) Die Behandlung unbeschränkter Mengen Ω R d oder unbeschränkter Funktionen f erfordert eine neue Begriffsbildung (uneigentliches Riemann-Integral) und bleibt dennoch unbefriedigend. Die Vorlesung liefert insbesondere eine diese Mängel vermeidende Fortsetzung des Riemann-Integrals auf Menge von Funktionen, die R(Ω) umfaßt.

Kapitel II σ-algebren und meßbare Abbildungen 1 Mengensysteme Mit Blick auf die Konstruktion von Maßen studieren wir Systeme von Teilmengen einer gegebenen Menge, die abgeschlossen gegenüber gewissen Mengenoperationen sind. Gegeben: eine Menge Ω und eine Menge A P(Ω) von Teilmengen von Ω. Setze Definition 1. { n A + = } A i : n N A 1,..., A n A paarweise disjunkt. (i) A schnittstabil, falls A, B A A B A. (ii) A vereinigungsstabil, falls A, B A A B A. (iii) A Semi-Algebra 1 (in Ω), falls (a) Ω A, (b) A schnittstabil, (c) A A A c A +. (iv) A Algebra (in Ω) falls (a) Ω A, (b) A schnittstabil, (c) A A A c A. 1 Elstrodt (2011) betrachtet sogenannte Halbringe; es gilt: A Semi-Algebra A Halbring Ω A. 4

II.1. Mengensysteme 5 (v) A σ-algebra (in Ω), falls (a) Ω A, (b) A 1, A 2,... A n=1 A n A, (c) A A A c A. Bemerkung 1. (i) A σ-algebra A Algebra A Semi-Algebra. (ii) A schnittstabil A + schnittstabil. (iii) A Algebra und A 1, A 2 A A 1 A 2, A 1 \ A 2, A 1 A 2 A. (iv) A σ-algebra und A 1, A 2,... A n=1 A n A. Beispiel 1. (i) Sei Ω = R. Die Menge I = {]a, b] : a, b R a < b} {], b] : b R} {]a, [ : a R} {R, } von Intervallen ist eine Semi-Algebra, aber keine Algebra. (ii) {A P(Ω) : A endlich oder A c endlich} ist eine Algebra, aber im allgemeinen keine σ-algebra. (iii) {A P(Ω) : A abzählbar oder A c abzählbar} ist eine σ-algebra. (iv) P(Ω) ist die größte σ-algebra in Ω, {, Ω} ist die kleinste σ-algebra in Ω. Definition 2. A Dynkin-System (in Ω), falls (i) Ω A, (ii) A 1, A 2,... A paarweise disjunkt n=1 A n A, (iii) A 1, A 2 A A 1 A 2 A 2 \ A 1 A. Bemerkung 2. A σ-algebra A Dynkin-System. Satz 1. Für jedes Dynkin-System A gilt A σ-algebra A schnittstabil. Beweis. : Für A A gilt A c = Ω \ A A, da A Dynkin-System. Für A, B A gilt A B = A (B \ (A B)) A, da A auch schnittstabil. Für A 1, A 2,... A und B m = m n=1 A n ergibt sich somit B m A und A n = (B m \ B m 1 ) A, wobei B 0 =. n=1 m=1

II.1. Mengensysteme 6 Bemerkung 3. Betrachte σ-algebren (Algebren, Dynkin -Systeme) A i für i I. Dann ist i I A i eine σ-algebra (Algebra, Dynkin-System). Siehe auch Übung 1.1.a). Gegeben: eine Menge E P(Ω) von Teilmengen von Ω. Definition 3. Die von E erzeugte σ-algebra ist σ(e) = {A : A σ-algebra in Ω E A}. Analog α(e) die von E erzeugte Algebra, δ(e) das von E erzeugte Dynkin-System. Bemerkung 4. Für γ {σ, α, δ} und E, E 1, E 2 P(Ω) gilt (i) γ(e) ist das kleinste γ-system, das E enthält, (ii) E 1 E 2 γ(e 1 ) γ(e 2 ), (iii) γ(γ(e)) = γ(e). Beispiel 2. Seien Ω = N und E = {{n} : n N}. Dann α(e) = {A P(Ω) : A endlich oder A c endlich}. Beweis: Die rechte Seite A ist eine Algebra, siehe Beispiel 1.(ii), und E A. Somit α(e) A. Für jede endliche Menge A Ω gilt andererseits A = n A {n} α(e), und für jede Menge A Ω mit endlichem Komplement gilt A = (A c ) c α(e). Dies zeigt A α(e). Ferner σ(e) = P(N), Satz 2. E schnittstabil σ(e) = δ(e). Beweis. Bemerkung 2 sichert Wir zeigen Dann sichert Satz 1 Setze so daß (1) äquivalent zu ist. Man prüft leicht nach, daß Da E schnittstabil, ergibt sich ferner δ(e) σ(e). δ(e) = P(N). δ(e) schnittstabil. (1) σ(e) δ(e). C B = {C Ω : C B δ(e)}, B δ(e), B δ(e) : δ(e) C B (2) B δ(e) : C B Dynkin-System. (3) E E : E C E.

II.2. Borelsche Mengen 7 Somit was äquivalent zu ist. Verwende (3), um (2) zu erhalten. E E : δ(e) C E, B δ(e) : E C B Eine Algebra α(e) kann explizit beschrieben werden, siehe Elstrodt (2011, Aufg. I.5.3). Zur entsprechenden Frage für σ-algebren verweisen wir auf Elstrodt (2011, p. 17). Wir halten hier folgendes fest. Lemma 1. E Semi-Algebra α(e) = E +. Beweis. Klar ist E E + α(e). Zu zeigen bleibt, daß E + eine Algebra ist. Details findet man bei Gänssler, Stute (1977, p. 14). Wir diskutieren kurz die Mächtigkeit von σ-algebren. Für jede Menge V gilt 2 V R V N = R V R = {0, 1} R, siehe Hewitt, Stromberg (1965, Exercise 4.34). Satz 3. Gelte E P(Ω) und E 2. Dann σ(e) E N. Beweis. Siehe Hewitt, Stromberg (1965, Theorem 10.13). 2 Borelsche Mengen Wir studieren σ-algebren, die von Topologien erzeugt werden. Definition 1. (Ω, G) topologischer Raum, falls G P(Ω) mit (i), Ω G, (ii) G schnittstabil, (iii) für jede Familie (G i ) i I mit G i G gilt i I G i G. Die Elemente G G heißen offene Teilmengen von Ω, ihre Komplemente heißen abgeschlossene Teilmengen von Ω. In der Regel betrachten wir folgende Situation. Beispiel 1. Sei (Ω, ρ) ein metrischer Raum. Für G Ω gelte G G genau dann, wenn ω G r > 0 : {ω Ω : ρ(ω, ω ) < r} G. Dann ist (Ω, G) ein topologischer Raum; man spricht von der durch ρ induzierten Topologie.

II.2. Borelsche Mengen 8 Auf Ω = R k betrachten wir stets die durch die euklidische Metrik induzierte Topologie; das entsprechende System offener Mengen wird mit G k bezeichnet. Auf der Menge R = R {, } der erweiterten reellen Zahlen betrachten wir stets die durch ρ(a, b) = f(a) f(b) mit { a, falls a R, 1+ a f(a) = ±1, falls a = ± induzierte Topologie. Für spätere Zwecke definieren wir für a R (± ) + (± ) = a + (± ) = (± ) + a = ±, a/ ± = 0, ±, falls a > 0, a (± ) = (± ) a = 0, falls a = 0,, falls a < 0 sowie < a <. Damit enthält I aus Beispiel 1.1.(i) genau die Mengen der Form {x R : a < x b}, a, b R. Ferner ist O R genau dann offen, wenn O R G 1 und, falls O oder O, auch ]a, ] O bzw. [, a[ O für eine reelle Zahl a gilt. Für eine Folge (x n ) n N in R gilt lim x n = ± genau dann, wenn für alle M ]0, [ eine ganze Zahl n 0 existiert, so daß x n ±M für alle n n 0 gilt. Auf Ω = C([0, T ]) betrachten wir stets die durch induzierte Topologie. ρ(ω, ω ) = sup ω(t) ω (t), ω, ω C([0, T ]), t [0,T ] Definition 2. Sei (Ω, G) ein topologischer Raum. Eine Menge K Ω heißt kompakt, falls für jede Familie (G i ) i I mit G i G und K i I G i eine endliche Menge I 0 I mit existiert. K i I 0 G i Bemerkung 1. Für Ω = R k gilt: K Ω ist genau dann kompakt, wenn K abgeschlossen und beschränkt ist. Für Ω = C([0, T ]) wird die Kompaktheit im Satz von Arzelà-Ascoli charakterisiert, siehe Werner (2011, Satz II.3.4).

II.3. Meßbare Abbildungen 9 Definition 3. Für einen topologischen Raum (Ω, G) heißt B(Ω) = σ(g) die Borelsche σ-algebra (in Ω bzgl. G). Die Elemente A B(Ω) heißen Borel-Mengen. Notation: B k = B(R k ), B = B 1, B = B(R). Bemerkung 2. Es gilt und B k = σ({f R k : F abgeschlossen}) = σ({k R k : K kompakt}) = σ({], a] : a R k }) = σ({], a] : a Q k }) B = {B R : B R B}. (1) Da B k und R k dieselbe Mächtigkeit besitzen, was sich aus Satz 1.3 ergibt, folgt Siehe auch Bemerkung III.3.3. B k P(R k ). Definition 4. Für eine σ-algebra A in Ω und Ω Ω heißt à = { Ω A : A A} die Spur-σ-Algebra von A in Ω; sie wird gelegentlich mit Ω A bezeichnet. Bemerkung 3. (i) à ist eine σ-algebra. (ii) Im allgemeinen gilt à A, aber Ω A à = {A A : A Ω}. (iii) A = σ(e) à = σ({ Ω E : E E}). (iv) [a, b[ B k = σ({[a, c[ : a c b}), siehe (iii). 3 Meßbare Abbildungen Definition 1. (Ω, A) heißt Meßraum, falls Ω eine nicht-leere Menge und A eine σ- Algebra in Ω ist. Die Elemente A A heißen meßbare Mengen. Wir studieren strukturverträgliche Abbildungen zwischen Meßräumen. Dazu betrachten wir Meßräume (Ω i, A i ) für i = 1, 2, 3. Bemerkung 1. Sei f : Ω 1 Ω 2. (i) f 1 (A 2 ) = {f 1 (A) : A A 2 } ist eine σ-algebra in Ω 1. (ii) {A Ω 2 : f 1 (A) A 1 } ist eine σ-algebra in Ω 2.

II.3. Meßbare Abbildungen 10 Definition 2. f : Ω 1 Ω 2 heißt A 1 -A 2 -meßbar, falls f 1 (A 2 ) A 1. Beispiel 1. Sei f : Ω 1 Ω 2. (i) f konstant f A 1 -A 2 -meßbar. (ii) Seien Ω 2 = {0, 1} und A 2 = P(Ω 2 ). Dann f A 1 -A 2 -meßbar A A 1 : f = 1 A. Wie läßt sich die Meßbarkeit einer gegebenen Abbildung nachweisen? Satz 1. Falls f : Ω 1 Ω 2 A 1 -A 2 -meßbar und g : Ω 2 Ω 3 A 2 -A 3 -meßbar sind, so ist g f : Ω 1 Ω 3 A 1 -A 3 -meßbar. Beweis. Es gilt (g f) 1 (A 3 ) = f 1 (g 1 (A 3 )) f 1 (A 2 ) A 1. Lemma 1. Für f : Ω 1 Ω 2 und E P(Ω 2 ) gilt f 1 (σ(e)) = σ(f 1 (E)). Beweis. Aus f 1 (E) f 1 (σ(e)) und Bemerkung 1.(i) ergibt sich σ(f 1 (E)) f 1 (σ(e)). Sei F = {A Ω 2 : f 1 (A) σ(f 1 (E))}. Dann E F, und F ist eine σ-algebra, siehe Bemerkung 1.(ii). Somit σ(e) F, d.h. f 1 (σ(e)) σ(f 1 (E)). Satz 2. Gelte A 2 = σ(e) mit E P(Ω 2 ). Dann f 1 (E) A 1 f A 1 -A 2 -meßbar. Beweis. : Gelte f 1 (E) A 1. Lemma 1 sichert f 1 (A 2 ) = f 1 (σ(e)) = σ(f 1 (E)) σ(a 1 ) = A 1. : klar. Korollar 1. Für jedes Paar topologischer Räume (Ω 1, G 1 ) und (Ω 2, G 2 ) und jede Abbildung f : Ω 1 Ω 2 gilt Beweis. Nach Voraussetzung Verwende Satz 2. f stetig f B(Ω 1 )-B(Ω 2 )-meßbar. f 1 (G 2 ) G 1 σ(g 1 ) = B(Ω 1 ). Gegeben: Mengen Ω und I, Meßräume (Ω i, A i ) und Abbildungen f i : Ω Ω i für i I. Definition 3. Die von (f i ) i I (und (A i ) i I ) erzeugte σ-algebra 2 ist ( ) σ({f i : i I}) = σ f 1 i (A i ). Notation σ(f) = σ({f}) im Fall I = 1 und f = f i. i I 2 Bei Elstrodt (2011) als Initial-σ-Algebra bezeichnet.

II.3. Meßbare Abbildungen 11 Bemerkung 2. σ({f i : i I}) ist die kleinste σ-algebra A in Ω, für die alle Abbildungen f i A-A i -meßbar sind. Satz 3. Für jeden Meßraum ( Ω, Ã) und jede Abbildung g : Ω Ω gilt g Ã-σ({f i : i I})-meßbar i I : f i g Ã-A i-meßbar. Beweis. Aus Lemma 1 folgt ( )) ( ) g 1 (σ({f i : i I})) = σ (g 1 f 1 i (A i ) = σ (f i g) 1 (A i ). i I i I Somit g 1 (σ({f i : i I})) Ã i I : f i g Ã-A i-meßbar. Beispiel 2. Betrachte Ω = R k und (Ω i, A i ) = (R, B) für i I = {1,..., k} zusammen mit den durch f i (x 1,..., x k ) = x i definierten Projektionen. Es gilt Beweis: Korollar 1 sichert σ({f 1,..., f k }) = B k. σ({], a] : a R k }) σ({f 1,..., f k }) B k, und gemäß Bemerkung 2.2 gilt σ({], a] : a R k }) = B k. Wir untersuchen den wichtigen Spezialfall von Abbildungen mit Werten in R oder R, und wir betrachten die Borelsche σ-algebra in R bzw. R. Für beliebige Meßräume (Ω, A) setzen wir Z(Ω, A) = {f : Ω R : f A-B-meßbar}, Z + (Ω, A) = {f Z(Ω, A) : f 0}, Z(Ω, A) = { f : Ω R : f A-B-meßbar }, Z + (Ω, A) = { f Z(Ω, A) : f 0 }. Sieht man f : Ω R auch als Funktion mit Werten in R, so ist f Z(Ω, A) äquivalent zu f Z(Ω, A). Korollar 2. Für {, <,, >} und f : Ω R Beweis. Beispielsweise gilt f Z(Ω, A) a R : {ω Ω : f(ω) a} A. {ω Ω : f(ω) a} = f 1 ([, a]) und B = σ({[, a] : a R}), siehe Bemerkung 2.2. Wende Satz 2 an.

II.3. Meßbare Abbildungen 12 Satz 4. Für f, g Z(Ω, A) und {, <,, >, =, } gilt {ω Ω : f(ω) g(ω)} A. Beweis. Beispielsweise folgt mit Korollar 2 {ω Ω : f(ω) < g(ω)} = {ω Ω : f(ω) < q < g(ω)} q Q = q Q({ω Ω : f(ω) < q} {ω Ω : g(ω) > q}) A. Wir verwenden die übliche Kurzschreibweise {f A} = {ω Ω : f(ω) A} für f : Ω Ω und A Ω. Satz 5. Für jede Folge f 1, f 2,... Z(Ω, A) gilt (i) inf n N f n, sup n N f n Z(Ω, A), (ii) lim inf f n, lim sup f n Z(Ω, A), (iii) falls (f n ) n N in jedem Punkt ω Ω konvergiert, so gilt lim f n Z(Ω, A). Beweis. Für a R gilt { } inf f n < a = {f n < a}, n N n N { } sup f n a = {f n a}. n N n N Somit folgt (i) aus Korollar 2. Da lim sup f n = inf sup f n, m N n m lim inf f n = sup inf f n, n m m N ergibt sich (ii) aus (i). Schließlich folgt (iii) aus (ii). Mit f + = max(0, f), f = max(0, f) bezeichnen wir den Positiv- bzw. Negativteil von f : Ω R. Bemerkung 3. Für f Z(Ω, A) gilt f +, f, f Z + (Ω, A). Satz 6. Gelte f, g Z(Ω, A). f ± g, f g, f/g Z(Ω, A), falls die jeweilige Abbildung wohldefiniert ist.

II.3. Meßbare Abbildungen 13 Beweis. Wir verwenden wiederum Korollar 2. Der Einfachheit halber seien f und g reellwertig. Aus g Z(Ω, A) folgt g Z(Ω, A), und für alle a R gilt {f + g < a} = q Q{f < q} {g < a q}. Dies zeigt f ± g Z(Ω, A). Offenbar gilt f g Z(Ω, A), falls f konstant ist. Ferner definiert x x 2 eine B-B-meßbare Funktion, siehe Korollar 1, und f g = 1/4 ((f + g) 2 (f g) 2). Satz 1 sichert f g Z(Ω, A). Schließlich folgt aus g Z(Ω, A), daß 1/g Z(Ω, A), wie leicht zu zeigen ist. Definition 4. f Z(Ω, A) heißt einfache Funktion 3, falls f(ω) <. Setze S(Ω, A) = {f Z(Ω, A) : f einfache Funktion}, S + (Ω, A) = {f S(Ω, A) : f 0}. Bemerkung 4. f S(Ω, A) genau dann, wenn f = n α i 1 Ai mit paarweise verschiedenen α 1,..., α n R und paarweise disjunkten A 1,..., A n A, so daß n A i = Ω. Satz 7. Für jede (beschränkte) Funktion f Z + (Ω, A) existiert eine Folge f 1, f 2,... S + (Ω, A), so daß f n f (gleichmäßig). Beweis. Für n N setzen wir A n,k = {(k 1)/(2 n ) f < k/(2 n )}, B n = {f n}. Dann leistet das Verlangte. f n = n 2 n k=1 k 1 2 n 1 An,k + n 1 Bn Gegeben: eine Abbildung T : Ω 1 Ω 2 und eine σ-algebra A 2 in Ω 2. Wir charakterisieren die Meßbarkeit von Funktionen bzgl. σ(t ) = T 1 (A 2 ). Satz 8 (Faktorisierungslemma). Für jede Abbildung f : Ω 1 R gilt f Z(Ω 1, σ(t )) g Z(Ω 2, A 2 ) : f = g T. 3 Bei Elstrodt (2011) als Treppenfunktion bezeichnet.

II.3. Meßbare Abbildungen 14 Beweis. : klar. : 1. Fall: f S + (Ω 1, σ(t )), d.h. f = n α i 1 Ai mit paarweise disjunkten A 1,..., A n σ(t ). Wähle paarweise disjunkte B 1,..., B n A 2 mit A i = T 1 (B i ), und setze g = n α i 1 Bi. Offenbar f = g T und g Z(Ω 2, A 2 ). 2. Fall: f Z + (Ω 1, σ(t )). Wähle eine Folge (f n ) n N in S + (Ω 1, σ(t )) gemäß Satz 7. Bereits bekannt ist f n = g n T mit geeigneten g n Z(Ω 2, A 2 ). Somit f = sup n für g = sup n g n Z(Ω 2, A 2 ). f n = sup n Im allgemeinen Fall ist bereits bekannt, daß (g n T ) = (sup g n ) T = g T n f + = g 1 T, f = g 2 T mit geeigneten g 1, g 2 Z(Ω 2, A 2 ). Setze C = {g 1 = g 2 = } A 2, und beachte, daß T (Ω 1 ) C =, da f = f + f. Fazit: f = g T mit g = g 1 1 D g 2 1 D Z(Ω 2, A 2 ) für D = C c. Die Beweismethode für Satz 8 wird auch als algebraische Induktion bezeichnet.

Kapitel III Inhalte und Maße Wir studieren die Konstruktion und Eigenschaften von Maßen. Speziell erhalten wir das k-dimensionale Lebesgue-Maß auf den Borel-Mengen in R k. 1 Grundbegriffe Gegeben: Ω und A P(Ω). Definition 1. µ : A [0, ] heißt (i) additiv, falls A, B A A B = A B A µ(a B) = µ(a) + µ(b), (ii) σ-additiv, falls ( ) A 1, A 2,... A paarweise disjunkt A i A µ A i = µ(a i ), (iii) Inhalt 1 (auf A), falls A Algebra µ additiv µ( ) = 0, (iv) Prämaß 2 (auf A), falls A Semi-Algebra µ σ-additiv µ( ) = 0, (v) Maß (auf A), falls A σ-algebra µ Prämaß, (vi) Wahrscheinlichkeitsmaß (auf A), falls µ Maß µ(ω) = 1. 1 Abweichend von der Terminologie bei Elstrodt(2011). 2 Dito. 15

III.1. Grundbegriffe 16 Definition 2. (Ω, A, µ) heißt (i) Maßraum, falls µ ein Maß auf einer σ-algebra A in Ω ist, (ii) Wahrscheinlichkeitsraum, falls µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf einer σ-algebra A in Ω ist. Beispiel 1. (i) Für jede Semi-Algebra A in Ω und ω Ω definiert ε ω (A) = 1 A (ω), A A, ein Prämaß. Im Fall einer σ-algebra A heißt ε ω das Dirac-Maß im Punkt ω. Allgemeiner: wähle Folgen (ω n ) n N in Ω und (α n ) n N in R + mit n=1 α n = 1. Dann definiert µ(a) = α n 1 A (ω n ), A A, n=1 ein diskretes Wahrscheinlichkeitsmaß auf einer beliebigen σ-algebra A in Ω. Beachte µ = n=1 α n ε ωn. (ii) Zählmaß auf einer σ-algebra A µ(a) = A, A A. Gleichverteilung im Fall Ω < und A = P(Ω) µ(a) = A Ω, A Ω. (iii) Auf der Algebra A = {A Ω : A endlich oder A c endlich} sei { 0, falls A < µ(a) =, falls A =. Dann ist µ ein Inhalt, aber im allgemeinen kein Prämaß. Bemerkung 1. Für jeden Inhalt µ auf A und A, B A gilt (i) A B µ(a) µ(b) (Monotonie), (ii) A B µ(a) < µ(b \ A) = µ(b) µ(a), (iii) µ(a B) + µ(a B) = µ(a) + µ(b), (iv) µ(a B) µ(a) + µ(b) (Subadditivität), (v) µ(a) < µ(b) < µ(a) µ(b) µ(a B).

III.1. Grundbegriffe 17 Zum Beweis verwende man beispielsweise A B = A (B A c ). Satz 1. Betrachte folgende Eigenschaften eines Inhalts µ auf A: (i) µ Prämaß, (ii) A 1, A 2,... A A i A µ ( A i) µ(a i) (σ-subadditivität), (iii) A 1, A 2,... A A n A A lim µ(a n ) = µ(a) (σ-stetigkeit von unten), (iv) A 1, A 2,... A A n A A µ(a 1 ) < lim µ(a n ) = µ(a) (σ-stetigkeit von oben), (v) A 1, A 2,... A A n µ(a 1 ) < lim µ(a n ) = 0 (σ-stetigkeit in ). Dann Falls µ(ω) <, dann (iii) (iv). (i) (ii) (iii) (iv) (v). Beweis. (i) (ii) : Setze B m = m A i und B 0 =. Dann A i = (B m \ B m 1 ) m=1 mit paarweise disjunkten Mengen B m \ B m 1 A. Offenbar B m \ B m 1 A m. Somit zeigt Bemerkung 1.(i) ( ) µ A i = µ(b m \ B m 1 ) m=1 µ(a m ). (ii) (i) : Seien A 1, A 2,... A paarweise disjunkt mit A i A. Dann ( ) ( n ) n µ A i µ A i = µ(a i ), und deshalb ( µ(a i ) µ A i ). Die Umkehrung gilt nach Voraussetzung. m=1 (i) (iii) : Setze A 0 = und B m = A m \ A m 1. Dann ( ) n ( n µ A i = µ(b m ) = lim µ(b m ) = lim µ m=1 m=1 m=1 B m ) = lim µ(a n ). (iii) (i) : Seien A 1, A 2,... A paarweise disjunkt mit A i A, setze B m = m A i. Dann B m A i und ( µ A i ) = lim m µ(b m) = µ(a i ).

III.1. Grundbegriffe 18 (iv) (v) : trivial. (v) (iv) : Verwende B n = A n \ A. (i) (v) : Beachte µ(a 1) = µ(a i \ A i+1 ). Hiermit 0 = lim k i=k µ(a i \ A i+1 ) = lim k µ(a k ). (iv) µ(ω) < (iii) : Aus A n A folgt offenbar A c n A c. Somit µ(a) = µ(ω) µ(a c ) = lim (µ(ω) µ(a c n)) = lim µ(a n ). Gegeben: ein Maßraum (Ω, A, µ), ein Meßraum (Ω, A ) und eine A-A -meßbare Abbildung f : Ω Ω. Lemma 1. definiert ein Maß auf A. f(µ) : A [0, ] A µ(f 1 (A )) = µ({f A }) Beweis. f(µ) ist wohldefiniert, da f 1 (A ) A für A A. Man verifiziert leicht die geforderten Eigenschaften von f(µ). Definition 3. f(µ) heißt das Bildmaß von µ bzgl. f. Bemerkung 2. Seien (Ω, A, µ) ein Wahrscheinlichkeitsraum und f : Ω R A-Bmeßbar. In der Stochastik heißt jede solche Abbildung (reellwertige) Zufallsvariable, und das Wahrscheinlichkeitsmaß f(µ) auf B heißt die Verteilung von f (bzgl. µ). Die durch F (x) = µ({f x}) = f(µ)(], x]), x R, definierte Funktion F : R [0, 1] heißt die Verteilungsfunktion von f (bzgl. µ). Mit Bemerkung 1 und Satz 1 folgt (i) F ist monoton wachsend, (ii) F ist rechtsseitig stetig, (iii) lim x F (x) = 0 und lim x F (x) = 1. Frage: Ist die Verteilung von f durch die Verteilungsfunktion von f eindeutig bestimmt? Ist jede Funktion F : R [0, 1] mit (i) (iii) die Verteilungsfunktion einer Zufallsvariable (auf einem geeigneten Wahrscheinlichkeitsraum)? Siehe Übung 3.4.

III.2. Fortsetzungssätze 19 2 Fortsetzungssätze Die folgenden Ergebnisse sind Grundlage der meisten maß- bzw. wahrscheinlichkeitstheoretischen Konstruktionen. Satz 1. Für jede Semi-Algebra A und jede additive Abbildung µ : A [0, ] mit µ( ) = 0 gilt 1 µ Inhalt auf α(a) : µ A = µ. Ist µ überdies σ-additiv, so gilt dies auch für µ. Beweis. Es gilt α(a) = A +, siehe Lemma II.1.1. Notwendigerweise ( n ) n µ A i = µ(a i ) (1) für paarweise disjunkte A 1,..., A n A. Verwende (1), um eine wohldefinierte Fortsetzung von µ auf α(a) zu erhalten. Es bleibt zu zeigen, daß µ additiv bzw. σ-additiv ist. Siehe Elstrodt (2011, Satz II.1.6). Satz 2 (Carathéodory (1914)). Für jedes Prämaß µ auf einer Algebra A µ Maß auf σ(a): µ A = µ. Beweis. Definiere µ : P(Ω) [0, ] durch { µ(a) = inf µ(a i ) : A i A, A A i }. Dann ist µ ein äußeres Maß, d.h. µ( ) = 0 und µ ist monoton und σ-subadditiv, siehe Elstrodt(2011, p. 54). Dies folgt bereits aus µ 0 und A mit µ( ) = 0. Wir zeigen (i) µ A = µ, (ii) A A B P(Ω) : µ(b) = µ(b A) + µ(b A c ). Ad (i): Für A A µ(a) µ(a) + und für A i A mit A A i folgt ( ) µ(a) = µ (A i A) aus Satz 1.1.(ii). µ( ) = µ(a), i=2 µ(a i A) µ(a i ) Ad (ii): gilt aufgrund der Subadditivität von µ, und ist leicht zu zeigen. Betrachte die Menge A = A µ = {A P(Ω) : B P(Ω) : µ(b) = µ(b A) + µ(b A c )} der sogenannten µ-meßbaren Mengen.

III.2. Fortsetzungssätze 20 Wir zeigen (iii) A 1, A 2 A B P(Ω) : µ(b) = µ(b (A 1 A 2 )) + µ(b (A 1 A 2 ) c ). (iv) A Algebra. Ad (iii): Es gilt µ(b) = µ(b A 1 ) + µ(b A c 1) = µ(b A 1 A 2 ) + µ(b A 1 A c 2) + µ(b A c 1) und µ(b (A 1 A 2 ) c ) = µ(b A c 1 B A c 2) = µ(b A c 2 A 1 ) + µ(b A c 1). Ad (iv): Offenbar Ω A, A A A c A, und A ist wegen (iii) schnittstabil. Wir zeigen (v) A 1, A 2 A disjunkt B P(Ω) : µ(b (A 1 A 2 )) = µ(b A 1 )+µ(b A 2 ). In der Tat, da A 1 A 2 =, µ(b (A 1 A 2 )) = µ(b A 1 ) + µ(b A 2 A c 1) = µ(b A 1 ) + µ(b A 2 ). Wir zeigen (vi) A 1, A 2,... A paarweise disjunkt ( ) A i A µ A i = µ(a i ). Sei B P(Ω). Aus (iv), (v) und der Monotonie von µ folgt ( µ(b) = µ B n ) ( A i + µ B ( n ) c ) A i n ( ( ) c µ(b A i ) + µ B A i ). Mittels σ-subadditivität von µ ergibt sich µ(b) ( µ B µ(b). ( µ(b A i ) + µ B ) ( A i + µ B ( ) c ) A i ( ) c ) A i Somit A i A. Wähle B = A i, um die σ-additivität von µ A zu erhalten.

III.2. Fortsetzungssätze 21 Fazit: A ist eine σ-algebra, siehe (iv), (vi) und Satz II.1.1, A A wegen (ii), und somit σ(a) A, µ A ist ein Maß mit µ A = µ, siehe (vi) und (i). Setze µ = µ σ(a). Bemerkung 1. Die Fortsetzung gemäß Satz 2 ist im allgemeinen nicht eindeutig bestimmt. Betrachte beispielsweise Ω = R und { 0, falls A = f(a) =, A R., sonst Dann definiert µ = f A ein Prämaß auf der Semi-Algebra A = I 1. Wir erhalten (i) eine eindeutige Fortsetzung von µ zu einem Prämaß µ auf A +, nämlich µ = f A +, (ii) das äußere Maß µ = f, (iii) σ(a) = σ(a + ) = B. Für das Zählmaß µ 1 auf B und für das Maß µ 2 = f B gemäß Satz 2 gilt Definition 1. µ : A [0, ] heißt (i) σ-endlich, falls µ 1 µ 2 µ 1 A + = µ 2 A +. B 1, B 2,... A paarweise disjunkt : Ω = (ii) endlich, falls Ω A und µ(ω) <. Satz 3. Für Maße µ 1, µ 2 auf A und A 0 A mit (i) σ(a 0 ) = A und A 0 schnittstabil, B i i N : µ(b i ) <, (ii) µ 1 A0 ist σ-endlich, (iii) µ 1 A0 = µ 2 A0 gilt µ 1 = µ 2.

III.2. Fortsetzungssätze 22 Beweis. Wähle B i gemäß Definition 1 mit A 0 statt A, und setze D i = {A A : µ 1 (A B i ) = µ 2 (A B i )}. Offenbar ist D i ein Dynkin-System und A 0 D i. Satz II.1.2 sichert D i A = σ(a 0 ) = δ(a 0 ) D i. Somit A = D i und für A A µ 1 (A) = µ 1 (A B i ) = µ 2 (A B i ) = µ 2 (A). Korollar 1. Für jede Semi-Algebra A und jedes σ-endliche Prämaß µ auf A Beweis. Verwende die Sätze 1, 2 und 3. 1 µ Maß auf σ(a) : µ A = µ. Für ein Prämaß µ auf einer Algebra A liefert die Carathéodory-Konstruktion die Fortsetzungen ( Ω, σ(a), µ σ(a) ), ( Ω, Aµ, µ Aµ ). (2) Um wieviel größer ist A µ als σ(a)? Definition 2. Ein Maßraum (Ω, A, µ) heißt vollständig, falls für N µ A N µ = {B P(Ω) : A A : B A µ(a) = 0}. Satz 4. Sei (Ω, A, µ) ein Maßraum. Definiere und Dann A µ = {A N : A A, N N µ } µ(a N) = µ(a), A A, N N µ. (i) µ ist wohldefiniert, und (Ω, A µ, µ) ist ein vollständiger Maßraum mit µ A = µ, genannt die Vervollständigung von (Ω, A, µ), (ii) für jeden vollständigen Maßraum (Ω, Ǎ, ˇµ) mit Ǎ A und ˇµ A = µ gilt Ǎ Aµ und ˇµ A µ = µ. Beweis. Siehe Elstrodt (2011, p. 64). Bemerkung 2. Man zeigt leicht, daß ( Ω, A µ, µ Aµ ) in (2) vollständig ist. Im allgemeinen ist ( Ω, σ(a), µ σ(a) ) nicht vollständig, siehe Abschnitt 3. Satz 5. Sei µ ein σ-endliches Prämaß auf einer Algebra A. Dann ist ( Ω, A µ, µ Aµ ) die Vervollständigung von ( Ω, σ(a), µ σ(a) ). Beweis. Siehe Elstrodt (2011, p. 64).

III.3. Das k-dimensionale Lebesgue-Maß 23 3 Das k-dimensionale Lebesgue-Maß Wir betrachten zunächst die Semi-Algebra I aus Beispiel II.1.1.(i) und die aus achsenparallelen Rechtecken in R k bestehende Semi-Algebra } I k = A i : A 1,..., A k I. { k Das elementargeometrische Volumen λ k auf I k ist wie folgt definiert. Für k = 1 gilt λ 1 (A) =, falls A I 1 unbeschränkt, und λ 1 (]a, b]) = b a für a, b R mit a b. Für k 2 und A i I 1 gilt λ k ( k A i ) = k λ 1 (A i ). Lemma 1. λ k : I k [0, ] ist additiv. Beweis. Klar für k = 1. Seien k 2 und A, B I k paarweise disjunkt, so daß A B I k. Wir betrachten den nicht-trivialen Fall λ k (A), λ k (B) ]0, [. Nach Voraussetzung gilt A = k A i und B = k B i mit A i, B i I. Es existiert ein i {1,..., k} mit A i B i = und A j = B j für j i. Der Einfachheit halber nehmen wir i = 1 an. Dann λ k (A B) = λ k ((A 1 B 1 ) k j=2 = (λ 1 (A 1 ) + λ 1 (B 1 )) A j ) k λ 1 (A j ) = λ k (A) + λ k (B). j=2 Gemäß Satz 2.1 ist λ k eindeutig zu einem Inhalt auf α(i k ) = I + k wiederum mit λ k bezeichnen. fortsetzbar, den wir Satz 1 (Borel (1894)). λ k : I + k [0, ] ist σ-subadditiv. Beweis. Zu zeigen ist λ k (A) λ k(a i ) für A 1, A 2,... I + k mit A = A i I + k. Gemäß Lemma 1 kann man A, A i I k voraussetzen. Wir betrachten den nichttrivialen Fall, daß A i = ]a i, b i ] mit a i, b i R k für alle i N und λ k (A) > 0. Gelte λ k (A) <, also A = ]a, b] mit a, b R k. Zu ε > 0 wähle man α, β i R k mit [α, b] A λ k (]α, b]) λ k (A) ε, A i ]a i, β i [ λ k (]a i, β i ]) λ k (A i ) + ε/2 i.

III.3. Das k-dimensionale Lebesgue-Maß 24 Da [α, b] kompakt, existiert ein n N mit [α, b] n ]a i, β i [. Somit n ( λ k (A) λ k (]α, b]) + ε λk (A i ) + ε/2 i) + ε λ k (A i ) + 2 ε, siehe Bemerkung 1.1.(iv). Gelte λ k (A) =. Zu m > 0 wähle man B I k mit B A und m λ k (B) <. Wir wissen bereits, daß λ k (B) λ k(a i ). Somit λ k(a i ) =. Satz 1.1 zeigt, daß λ k ein Prämaß ist, welches als Lebesguesches Prämaß bezeichnet wird. Die gemäß Korollar 2.1 eindeutig bestimmte Fortsetzung von λ k auf σ(i k ) = B k heißt Lebesgue-Maß auf B k und wird wiederum mit λ k bezeichnet. Betrachte die Vervollständigung ( R k, L k, λ k ) von ( R k, B k, λ k ) mit der sogenannten σ-algebra L k der Lebesgue-meßbaren Mengen und dem Lebesgue-Maß λ k auf L k, für das wir wiederum λ k schreiben. Es gilt B k L k, insbesondere ist (R k, B k, λ k ) nicht vollständig. Wir zeigen dies der Einfachheit halber nur für k = 1. Für die Cantor-Menge C R gilt C B 1 λ 1 (C) = 0 C = R, siehe Übung 4.3. Satz II.1.3 zeigt B 1 = R, während {0, 1} R = P(C) L k {0, 1} R. Bemerkung 1. Bezeichne K die konvexen Mengen in R k. Für k 2 gilt K L k, aber nicht K B k. Siehe Elstrodt (2011, II.7.4). Sei f : [a, b] R Riemann-integrierbar. Dann ist f (L 1 [a, b])-b-meßbar, aber nicht notwendig B([a, b])-b-meßbar. Siehe Bemerkung IV.1.3. Bemerkung 2. Für die in der Vorlesung Grundlagen der Mathematik betrachteten beschränkten Quader Q R k gilt Q B k, und λ k (Q) ist das dort eingeführte Volumen von Q, wie mit Satz 1.1 folgt. Für die dort eingeführten integrierbaren (bzw. Jordan-meßbaren) Mengen A R k gilt A L k, und λ k (A) ist das dort eingeführte Lebesgue-Maß (bzw. Volumen) von A, siehe Korollar A.1. Betrachte die durch f C,b (x) = Cx + b, x R k, für C R k k und b R k definierten affin-linearen Abbildungen. Aus der Stetigkeit folgt die B k -B k -Meßbarkeit von f C,b. Setze f b = f idk,b. Wir studieren das Verhalten des Lebesgue-Maßes unter affin-linearen Abbildungen. Satz 2. Für ein Maß µ auf B k gilt genau dann µ = λ k, wenn (i) µ([0, 1] k ) = 1, (ii) f b (µ) = µ für alle b R k. (Translationsinvarianz)

III.3. Das k-dimensionale Lebesgue-Maß 25 Beweis. : Aus λ k (]0, 1] k ) = 1 ergibt sich leicht λ k ([0, 1] k ) = 1. Für b R k und A I k gilt offenbar f b (λ k )(A) = λ k (A). Satz 2.3 sichert f b (λ k ) = λ k. : Setze α = µ(]0, 1]k ). Aus 1 = µ([0, 1] k ) µ(] 1, 1] k ) = 2 k α folgt α > 0. Das Maß ν = 1/α µ ist ebenfalls translationsinvariant und erfüllt ν(]0, 1] k ) = 1. Für beliebige n 1,..., n k N folgt hieraus ) ) k ν ]0, 1/n i ] = ]0, 1/n i ] ( k 1/n i = λ k ( k und weiter ν = λ k auf {]a, b] : a, b Q k }. Satz 2.3 sichert ν = λ k, woraus α = 1 folgt. Satz 3. Sei C R k k regulär. Dann f C,b (λ k ) = 1/ det C λ k. Beweis. Die beschränkten Mengen aus I k bilden einen schnittstabilen Erzeuger von B k. Für jede solche Menge Q gilt (f C,b (λ k ))(Q) = λ k (C 1 (Q b)) = 1/ det C λ k (Q b), siehe Ritter (2014, Satz XI.5.2) oder Elstrodt (2011, p. 91, 92) sowie Bemerkung 2. Wende die Sätze 2 und 2.3 an. Damit ist insbesondere die Bewegungsinvarianz des Lebesgue-Maßes gezeigt. Frage: Läßt sich λ k zu einem translationsinvarianten Maß auf P(R k ) fortsetzen? Satz 4 (Vitali (1905)). Es existiert kein translationsinvariantes Maß µ auf P(R k ) mit µ Bk = λ k. Beweis. Hier im Fall k = 1. Betrachte die durch ω ω falls ω ω Q definierte Äquivalenzrelation auf R und ein zugehöriges Repräsentantensystem R R, d.h. Für q, q Q mit q q gilt ω R 1 r R : ω r. (q + R) (q + R) =. Ferner R = q Q (q + R). Somit = λ 1(R) = µ(r) = q Q µ(r), woraus µ(r) > 0 folgt. Andererseits gilt für a, b R mit a < b µ(r ]a, b]) = µ(q + (R ]a, b])) = µ ( ) q + (R ]a, b]) q Q ]a,b] q Q ]a,b] µ(]2a, 2b]) = 2(b a), woraus µ(r) = 0 folgt. Widerspruch. q Q ]a,b] Bemerkung 3. Obiger Beweis zeigt insbesondere R L 1. Allgemeiner gilt: für alle A L k mit λ k (A) > 0 existiert B A mit B L k, siehe Elstrodt (2011, Satz III.3.4).

Kapitel IV Das Lebesgue-Integral 1 Definition und Eigenschaften Gegeben: ein Maßraum (Ω, A, µ). Notation: S + = S + (Ω, A) Menge der nicht-negativen einfachen Funktionen. Kanonische Darstellung von f S + f = x f(ω) Beachte, daß f(ω) endlich und {f = x} A. x 1 {f=x}. Die Definition des Integrals bzgl. µ erfolgt in drei Schritten: für nicht-negative einfache Funktionen, für nicht-negative meßbare Funktionen durch monotone Approximation und im allgemeinen Fall durch Zerlegung in Positiv- und Negativteil. Wir erinnern an den in Kapitel I vorgestellten Begriff des abstrakten Integrals. Definition 1. Integral von f S + bzgl. µ f dµ = x µ({f = x}). x f(ω) Definition 2. (Ω j ) j J meßbare Partition von Ω, falls (i) J abzählbar, (ii) Ω j A für j J, (iii) Ω j Ω l = für j l, (iv) Ω = j J Ω j. Lemma 1. Sei f S +, und sei (Ω j ) j J eine meßbare Partition von Ω, so daß f Ωj mit c j R für alle j J. Dann f dµ = c j µ(ω j ). j J = c j 26

IV.1. Definition und Eigenschaften 27 Beweis. Setze J x = {j J : c j = x} für x f(ω). Dann f dµ = x µ(ω j ) = c j µ(ω j ) = c j µ(ω j ). j J x j J x j J x f(ω) x f(ω) Lemma 2. Für f, g S + und c R + (i) (f + g) dµ = f dµ + g dµ, (ii) (cf) dµ = c f dµ, (iii) f g f dµ g dµ (Monotonie). Beweis. ad (i) : Setze J = f(ω) g(ω) und Ω (j1,j 2 ) = {f = j 1 } {g = j 2 }. Lemma 1 zeigt (f + g) dµ = (j 1 + j 2 ) µ(ω (j1,j 2 )) = f dµ + g dµ. ad (ii) : Klar. ad (iii) : Analog (i). j 1 f(ω) j 2 g(ω) Lemma 2 zeigt insbesondere n a i 1 Ai dµ = n a i µ(a i ) für a i [0, [ und A i A. Notation: Z + = Z + (Ω, A) Menge der nicht-negativen A-B-meßbaren Funktionen. Definition 3. Integral von f Z + bzgl. µ f dµ = sup{ } g dµ : g S + g f. Lemma 3. Die Eigenschaften (ii) und (iii) aus Lemma 2 gelten auch auf Z +. Beweis. Klar. Lemma 4. Seien f, f n S + mit n N : f n f n+1 (1) sowie lim f n f. Dann f dµ lim f n dµ. Beweis. Wähle β > 1, setze B n = {β f n f}. Dann B n Ω, und Satz III.1.1 zeigt lim µ({f = x} B n ) = µ({f = x}). Lemma 2 zeigt f dµ = lim x f(ω) x µ({f = x} B n ) = lim f 1 Bn dµ β lim f n dµ.

IV.1. Definition und Eigenschaften 28 Satz 1 (Levi (1906)). Seien f n Z + mit (1). Dann f n dµ = lim Beweis. Verwende Lemma 3. lim f n dµ. Setze f = lim f n. Sei g S + mit g f. Wähle β > 1, setze B n = {β f n g}. Dann 1 Bn g g, und mit Lemma 4 folgt g dµ lim g 1 Bn dµ β lim f n dµ. Bemerkung 1. Für jede Funktion f Z + existiert eine Folge von Funktionen f n S + mit f n f, siehe Satz II.3.7. Bemerkung 2. Sei A A. Gemäß Satz 1 gilt 1 A dµ {0, } und 1 A dµ = 0 µ(a) = 0. Beispiel 1. Betrachte f n = 1 n 1 [0,n] auf (R, B, λ 1 ). Dann f n dλ 1 = 1, lim f n = 0. Lemma 5. Die Eigenschaft (i) aus Lemma 2 gilt auch auf Z +. Beweis. Verwende Satz 1 und Bemerkung 1. Definition 4. Eine Eigenschaft Π gilt µ-fast überall (µ-f.ü., f.ü.), falls A A : {ω Ω : Π gilt nicht für ω} A µ(a) = 0. Bei Wahrscheinlichkeitsmaßen: µ-fast sicher, µ-f.s., f.s., mit Wahrscheinlichkeit eins. Satz 2. Sei f Z +. Dann f dµ = 0 f = 0 µ-f.ü. Beweis. : Setze A n = {f > 1/n}. Da A n {f > 0}, gilt genau dann f = 0 µ-f.ü., wenn µ(a n ) = 0 für alle n N. Aus 1/n 1 An f und Lemma 3 folgt 0 1/n µ(a n ) = 1/n 1 An dµ f dµ = 0. : Aus f 1 {f>0} und Bemerkung 2 folgt f dµ 1 {f>0} dµ = 0. Notation: Z = Z(Ω, A) Menge der A-B-meßbaren Funktionen.

IV.1. Definition und Eigenschaften 29 Definition 5. f Z quasi-µ-integrierbar, falls f + dµ < f dµ <. In diesem Fall: Integral von f (bzgl. µ) f dµ = f + dµ f dµ. f Z µ-integrierbar, falls f + dµ < f dµ <. Satz 3. (i) f µ-integrierbar f < µ-f.ü. (ii) f µ-integrierbar g Z f = g µ-f.ü. g µ-integrierbar f dµ = g dµ. (iii) Für f Z sind äquivalent (a) f µ-integrierbar, (b) f µ-integrierbar, (c) g : g µ-integrierbar f g µ-f.ü., (iv) Seien f und g µ-integrierbar, und sei c R. Dann (a) f + g µ-f.ü. wohldef. und µ-integrierbar mit (f + g) dµ = f dµ + g dµ, (b) c f µ-integrierbar mit (cf) dµ = c f dµ, (c) f g µ-f.ü. f dµ g dµ. Beweis. ad (i) : Verwende lim n µ({ f = }) = 1 { f = } dµ (f + + f ) dµ <. ad (ii) : Verwende f ± 1 {f=g} dµ = g ± dµ f ± 1 {f=g} dµ + f ± 1 {f=g} dµ 1 {f g} dµ sowie f ± 1 {f=g} dµ f ± dµ, und vertausche die Rollen von f und g. ad (iii) : Es gilt f µ-integrierbar f +, f µ-integrierbar f µ-integrierbar. Gelte (c). Setze h = g 1 { f g} + f 1 { f >g} Z. Dann gilt h = g µ-f.ü., und (ii) sichert, daß h µ-integrierbar ist. Offenbar f h, so daß f dµ h dµ <. ad (iv) : Siehe Elstrodt (2011, Satz IV.3.6).

IV.1. Definition und Eigenschaften 30 Satz 4 (Lemma von Fatou (1906)). Für jede Folge (f n ) n in Z + gilt lim inf f n dµ lim inf f n dµ. Beweis. Für g n = inf k n f k gilt g n Z + und g n lim inf f n. Satz 1 und Lemma 3 sichern lim inf f n dµ = lim g n dµ lim inf f n dµ. Definition 6. Seien f, f n Z für n N. Dann konvergiert (f n ) n µ-f.ü. gegen f, falls µ(a c ) = 0 für Notation: A = { lim sup f n = lim inf f } { n lim sup f n = f } A. f n µ-f.ü. f. In obiger Situation gilt offenbar A = { lim f n = f }. Satz 5 (Lebesgue (1910)). Gelte (i) f n Z für n N, (ii) g µ-integrierbar n N : f n g µ-f.ü., (iii) f Z mit f n µ-f.ü. f. Dann ist f µ-integrierbar und f dµ = lim f n dµ. Beweis. Satz 3 zeigt die Integrierbarkeit von f n und f und erlaubt die Annahme, daß f, f n und g reellwertig sind und die fast überall Eigenschaften für alle ω Ω gelten.setze g n = f + g f f n Z +. Dann folgt mit Satz 4 ( f + g) dµ lim inf g n dµ = ( f + g) dµ lim sup f f n dµ. Somit lim f fn dµ = 0. Schließlich f n dµ f dµ f f n dµ.

IV.1. Definition und Eigenschaften 31 Beispiel 2. Betrachte auf (R, B, λ 1 ). Dann f n dλ 1 = 1, f n = n 1 ]0,1/n[ lim f n = 0. Bemerkung 3. Betrachte zunächst (Ω, A) = ([a, b], B([a, b])) mit a < b reell. Schreibe kurz λ für λ 1 A. Sei f : [a, b] R Riemann-integrierbar. Dann existieren Folgen von Funktionen g n, h n : [a, b] R mit (i) g n, h n S(Ω, A), (ii) g n f h n, (iii) (g n ) n N monoton wachsend, (h n ) n N monoton fallend, b (iv) lim g b a n(x) dx = lim h a n(x) dx = b a (v) b a g n(x) dx = g n dλ, b a h n(x) dx = h n dλ. f(x) dx, Setze g = lim g n und h = lim h n. Dann sind g, h beschränkt und A-B-meßbar und somit λ-integrierbar, siehe Satz 3.(ii). Betrachte g n g 1 und h 1 h n, und verwende die Sätze 1 und 3.(iii), um zu erhalten. g dλ = h dλ = b a f(x) dx Sei (Ω, Ã, λ) die Vervollständigung von (Ω, A, λ). Da g h, folgt g = h λ-f.ü. mit Satz 2 und weiter f = h λ-f.ü., d.h. {f h} à und λ({f h}) = 0. Für B B gilt somit {f B} = {h B} {f = h} {f B} {f h}. }{{}}{{}}{{} A à Dies zeigt die Ã-B-Meßbarkeit von f. Satz 3 sichert f dλ = h dλ. Zusatz: es gilt à = L 1 [a, b]. Eine etwas genauere Betrachtung zeigt, daß f λ-f.ü. stetig ist, und daß umgekehrt aus dieser Eigenschaft und der Beschränktheit von f die Riemann-Integrierbarkeit folgt. Siehe Elstrodt (2011, Satz IV.6.1). Gegeben: ein Meßraum (Ω, A ) und eine A-A -meßbare Abbildung f : Ω Ω. Satz 6. à (i) Für g Z + (Ω, A ) g df(µ) = Ω Ω g f dµ. (2)

IV.1. Definition und Eigenschaften 32 (ii) Für g Z(Ω, A ) g is f(µ)-integrierbar g f is µ-integrierbar, und gegebenenfalls gilt (2). Beweis. Algebraische Induktion. Bemerkung 4. Im Spezialfall (Ω, A ) = (R, B) und g = id zeigt Satz 6 f dµ = id df(µ) (3) Ω für µ-integrierbare Abbildungen f : Ω R. In der Stochastik heißt f dµ Erwartungswert der Zufallsvariable f, und dieser hängt nur von der Verteilung von f ab, siehe Bemerkung III.1.2 und (3). Bemerkung 5. Ein Ausblick. Betrachte eine Menge Ω und einen Vektorraum F R Ω mit f F ( f F min {f, 1} F ). Ein abstraktes Integral ist eine monotone lineare Abbildung I : F R mit f, f 1, f 2,... F f n f I(f) = lim I(f n ), R siehe Kapitel I. Offenbar definiert ein abstraktes Integral auf I(f) = f dµ F = {f Z(Ω, A) : f µ-integrierbar} = L 1 (Ω, A, µ). Der Satz von Daniell-Stone besagt: Für jedes abstrakte Integral I : F R existiert ein eindeutig bestimmtes Maß µ auf A = σ(f) mit F L 1 (Ω, A, µ) f F : I(f) = f dµ. Siehe Bauer (1978, Satz 39.4) oder Floret (1981). Anwendung: Rieszscher Darstellungssatz. Hier F = C([0, 1]) und I : F R linear und monoton. Dann folgt mit dem Satz von Dini, daß I ein abstraktes Integral ist, siehe Floret (1981, p. 45). Folglich existiert ein eindeutig bestimmtes Maß µ auf σ(f) = B([0, 1]) mit f F : I(f) = f dµ.

IV.2. Maße mit Dichten 33 2 Maße mit Dichten Wir zeigen, wie sich durch Integration bezüglich eines Referenzmaßes leicht neue Maße konstruieren lassen. Gegeben: ein Maßraum (Ω, A, µ). Definition 1. Sei f (quasi-)µ-integrierbar, und sei A A. Das Integral von f über A ist definiert als f dµ = 1 A f dµ. A Satz 1. Für f Z + wird durch ein Maß auf A definiert. ν(a) = f dµ, A A, A Beweis. Mit Lemma 1.3 folgt ν 0 und ν( ) = 0. Für paarweise disjunkte Mengen A 1, A 2,... A gilt n 1 A f = lim (1 Ai f), und Satz 1.1 und Lemma 1.5 sichern n ν(a) = lim 1 Ai f dµ = ν(a i ). Definition 2. In obiger Situation heißt ν das Maß mit der Dichte f bzgl. µ. Notation: 1 ν = f µ. Beispiel 1. Betrachte das Zählmaß µ auf P(N 0 ) sowie f : N 0 [0, ]. Für f n = f 1 {0,...,n} = n f(k) 1 {k} k=0 gilt f n f. Für A N 0 folgt 1 A f dµ = lim n k=0 1 A (k) f(k) = k A f(k), d.h. f µ = k=0 f(k) ε k, siehe Beispiel III.1.1.(i). Auf diese Weise erhält man alle Maße auf P(N 0 ). Sei f : N 0 R. Dann ist f genau dann µ-integrierbar, wenn k=0 f(k) <. Gegebenenfalls f dµ = k=0 f(k). 1 Elstrodt (2011) schreibt f µ.

IV.2. Maße mit Dichten 34 Satz 2. Sei ν = f µ mit f Z + und g Z(Ω, A). Dann g (quasi)-ν-integrierbar g f (quasi)-µ-integrierbar. Gegebenenfalls g dν = g f dµ. Beweis. Für g = 1 A mit A A gilt die Aussage definitionsgemäß. Für g S + (Ω, A) verwende man die Linearität des Integrals. Für g Z + (Ω, A) wählen wir eine Folge (g n ) n N in S + (Ω, A) mit g n g. Dann g n f Z + und g n f g f. Satz 1.1 und die bereits bewiesenen Aussagen zeigen g dν = lim g n dν = lim g n f dµ = g f dµ. Für g Z(Ω, A) ist g ± dν = g ± f dµ = (g f) ± dµ bereits bekannt. Verwende die Linearität des Integrals. Bemerkung 1. Betrachte offene Mengen U, V R k und einen C 1 -Diffeomorphismus f : U V sowie Dann gilt (Ω, A, µ) = (U, U B k, λ k U Bk ), (Ω, A, µ ) = (V, V B k, λ k V Bk ). µ = f( det Df µ). Die Gleichheit dieser Maße gilt zunächst für die in der Vorlesung Grundlagen der Mathematik betrachteten beschränkten Quader Q R k mit Q V, siehe Ritter (2014, Lemma XI.5.4), und hierauf wendet man Satz III.2.3 an. Siehe auch Elstrodt (2011, V.4); ein Spezialfall wurde in Satz III.3.3 vorgestellt. Es folgt g dµ = g f det Df dµ, V U falls g µ -integrierbar. Dies ist die Transformationsformel für das Integral bzgl. des k-dimensionalen Lebesgue-Maßes. Bemerkung 2. f, g Z + f = g µ-f.ü. f µ = g µ. Wir studieren die Existenz und Eindeutigkeit von Dichten in der Vorlesung Wahrscheinlichkeitstheorie, siehe auch Übung 6.1.

IV.3. L p -Räume 35 3 L p -Räume Gegeben: einen Maßraum (Ω, A, µ) und 1 p <. Setze Z = Z(Ω, A). Notation: L p = L p (Ω, A, µ) = { f Z : } f p dµ < und ( f p = f p dµ) 1/p, f L p. Satz 1 (Höldersche Ungleichung). Seien 1 < p, q < mit 1/p + 1/q = 1, und seien f L p, g L q. Dann f g dµ f p g q. Im Spezialfall p = q = 2: Cauchy-Schwarzsche Ungleichung. Beweis. Siehe Elstrodt (2011, VI.1). Satz 2. L p ist ein Vektorraum, und p ist eine Halbnorm auf L p. Ferner f p = 0 f = 0 µ-f.ü. Beweis. Wir betrachten den nicht-trivialen Fall p > 1. Seien f, g L p. Mit f + g p ( 2 max( f, g ) ) p 2p ( f p + g p ) folgt f + g L p. Zum Beweis der Dreiecksungleichung (Minkowskische Ungleichung) sei q = p/(p 1). Dann sichert Satz 1 f + g p dµ f f + g p 1 dµ + g f + g p 1 dµ ( ( f p + g p ) Falls f + g > 0, dividiere man durch f + g p/q p. Die weiteren Aussagen sind klar. f + g p dµ) 1/q. Definition 1. Seien f, f n L p für n N. Dann konvergiert (f n ) n gegen f in L p (im p-ten Mittel), falls lim f f n p = 0. Insbesondere für p = 1: Konvergenz im Mittel und für p = 2: Konvergenz im Quadratmittel. Notation: L p f. Lemma 1. Seien f, g, f n L p für n N mit f n f n Analog für die fast-überall Konverenz. f n L p f. Dann L p g f = g µ-f.ü.

IV.3. L p -Räume 36 Beweis. Für die Konvergenz in L p : folgt aus Satz 1.3.(ii). Verwende und Satz 2 zum Beweis von. f g p f f n p + f n g p Für die fast-überall Konverenz: gilt offenbar. Verwende zum Beweis von. { lim f n = f } { lim f n = g } {f = g} Satz 3 (Fischer-Riesz (1907)). Sei (f n ) n eine Folge in L p. Dann (i) (f n ) n Cauchy-Folge f L p : f n (ii) f n L p µ-f.ü. f Teilfolge (f nk ) k : f nk f. L p f (Vollständigkeit), Beweis. Ad (i): Betrachte eine Cauchy-Folge (f n ) n und eine Teilfolge (f nk ) k mit Für gilt k N m n k : f m f nk p 2 k. k g l p l=1 g k = f nk+1 f nk L p k g l p l=1 Setze g = l=1 g l Z +. Satz 1.1 sichert g p dµ = sup k ( k l=1 g l ) p dµ = sup k k 2 l 1. l=1 ( k p g l ) dµ 1. (1) Insbesondere konvergieren l=1 g l und l=1 g l µ-f.ü., siehe Satz 1.3.(i). Aus l=1 f nk+1 = k g l + f n1 l=1 folgt für eine Funktion f Z. Ferner f = lim k f nk µ-f.ü. f f nk g l g µ-f.ü., l=k so daß lim k f f nk p dµ = 0

IV.3. L p -Räume 37 mit Satz 1.5 und (1) folgt. Somit Schließlich zeigt Satz 2, daß f L p. Ad (ii): Gelte lim f f n p = 0. f n L p f. Wie der Beweis von (i) zeigt, existiert eine Funktion f L p und eine Teilfolge (f nk ) k mit µ-f.ü. f nk f L f p nk f. Verwende Lemma 1. Beispiel 1. Sei (Ω, A, µ) = ( [0, 1], B([0, 1]), λ 1 B([0,1]) ). Definiere Setze f n = 1 An. Dann A 1 = [0, 1] A 2 = [0, 1/2], A 3 = [1/2, 1] A 4 = [0, 1/3], A 5 = [1/3, 2/3], A 6 = [2/3, 1] etc. aber lim f n 0 p = lim f n p = 0, (2) {(f n ) n konvergiert} =. Bemerkung 1. Definiere und L = L (Ω, A, µ) = {f Z : c R + : f c µ-f.ü.} f = inf{c R + : f c µ-f.ü.}, f L. Funktionen f L heißen essentiell beschränkt und f heißt das essentielle Supremum von f. Verwende Satz III.1.1.(iii) zum Beweis von f f µ-f.ü. Die Definitionen und Ergebnisse dieses Abschnittes, außer (2), übertragen sich auf L den Fall p =, wobei q = 1 in Satz 1. In Satz 3.(ii) gilt sogar f µ-f.ü. n f f n f. Bemerkung 2. Setze N p = {f L p : f = 0 µ-f.ü.}. Der Quotientenraum L p = L p /N p ist ein Banach-Raum. Für p = 2 erhält man sogar einen Hilbert-Raum, falls f, g = f g dµ, f, g L 2. als semi-inneres Produkt auf L 2 betrachtet wird.

IV.3. L p -Räume 38 Satz 4. Sei µ endlich, und gelte 1 p < q. Dann L q L p und f p µ(ω) 1/p 1/q f q, f L q. Beweis. Trivial für q =. Fortan q <. Verwende f p 1 + f q und Satz 1.3.(iii), um L q L p zu erhalten. Setze r = q/p und definiere s durch 1/r + 1/s = 1. Satz 1 zeigt ( 1/r f p dµ f dµ) p r (µ(ω) ) 1/s. Beispiel 2. Sei 1 p < q. Bezüglich des Zählmaßes auf P(N 0 ) gilt L p L q. Bezüglich des Lebesgue-Maßes auf B k gilt weder L q L p noch L p L q.

Kapitel V Produktmaße Die Konstruktionen und Ergebnisse dieses Kapitels sind aufs engste verknüpft mit dem stochastischen Begriff der Unabhängigkeit. Ferner gewinnen wir eine neue Sicht auf das k-dimensionale Lebesgue-Maß. 1 Produkträume Beispiel 1. Ein stochastisches Modell für den Münzwurf. Für einen einzigen Wurf Ω = {0, 1}, A = P(Ω), A A : µ(a) = A Ω. Dies ist zugleich der Grundbaustein Ω i = {0, 1}, A i = P(Ω i ), A A i : µ i (A) = A Ω i für n unabhängige Würfe. Wir definieren Ω = n Ω i, A = P(Ω), A A : µ(a) = A Ω und erhalten µ(a 1 A n ) = µ 1 (A 1 ) µ n (A n ) für alle A i A i. Frage: Modellierung einer unendliche Folge von Würfen? Dazu Ω = Ω i. Welche σ-algebra A in Ω und welches Wahrscheinlichkeitsmaß µ auf (Ω, A) ist zu betrachten? Eine sinnvolle Forderung ist n N A i A i : µ(a 1 A n Ω n+1 Ω n+2... ) = µ 1 (A 1 ) µ n (A n ). (1) 39

V.1. Produkträume 40 Die σ-algebra A = P(Ω) ist zu groß, da kein Wahrscheinlichkeitsmaß µ auf (Ω, P(Ω)) mit (1) existiert. Dies folgt aus einem Satz von Banach und Kuratowski, der auf der Kontinuumshypothese beruht, siehe Dudley (2002, p. 526). Andererseits ist A = {A 1 A n Ω n+1 Ω n+2 : n N, A i A i für i = 1,..., n} (2) keine σ-algebra. Gegeben: eine Menge I und Meßräume (Ω i, A i ) für i I. Setze Y = i I Ω i, und definiere Ω = i I Ω i = {ω Y I : ω(i) Ω i für i I}. Notation: ω = (ω i ) i I für ω Ω. Ferner sei Definition 1. (i) Eine Menge P 0 (I) = {J I : J endlich}. A = j J A j Ω i i I\J mit J P 0 (I) und A j A j für j J heißt meßbares Rechteck. Notation: R Menge der meßbaren Rechtecke. (ii) σ(r) heißt die Produkt-σ-Algebra in Ω, und (Ω, σ(r)) heißt der Produktmeßraum (Produktraum) mit Komponenten (Ω i, A i ), i I. Notation: σ(r) = i I A i. Bemerkung 1. Die Menge R ist eine Semi-Algebra, aber im allgemeinen keine Algebra. Siehe Übung 6.1. Beispiel 2. Offenbar setzt (1) voraus, daß A die Produkt-σ-Algebra P({0, 1}) enthält. Wir werden sehen, daß ein eindeutig bestimmtes Wahrscheinlichkeitsmaß µ auf dem Produktraum ( {0, 1}, P({0, 1})) mit (1) existiert, siehe Satz 2.4. Damit ist das eingangs gesuchte stochastische Modell für den Münzwurf konstruiert. Wir studieren Mengen von Abbildungen, die die Produkt-σ-Algebra erzeugen. Ferner charakterisieren wir die Meßbarkeit von Abbildungen mit Werten in einem Produktraum. Für S I sei π I S : Ω i S Ω i, (ω i ) i I (ω i ) i S die Projektion von Ω auf i S Ω i (Restriktion der Abbildungen ω). Speziell für i I ist π{i} I die i-te Projektion (Projektion auf die i-te Koordinaten). Wir schreiben kurz π S statt πs I und π i statt π {i}.

V.1. Produkträume 41 Satz 1. (i) i I A i = σ({π i : i I}). (ii) i I : A i = σ(e i ) i I A i = σ ( i I π 1 i (E i ) ). Beweis. Ad (i), : Wir zeigen, daß jede Projektion π i : Ω Ω i ( i I A i) -Ai -meßbar ist. Für A i A i und J = {i} π 1 i (A i ) = j J A j Ω k R. k I\J Ad (i), : Wir zeigen R σ({π i : i I}). Für J P 0 (I) und A j A j mit j J A j Ω i = π j J 1 j (A j ). i I\J j J Ad (ii): Gemäß Lemma II.3.1 und (i) ( ) ( ) A i = σ π 1 i (A i ) = σ σ(π 1 i (E i )) = σ i I i I i I ( i I ) π 1 i (E i ). Korollar 1. (i) Für jeden Meßraum ( Ω, Ã) und jede Abbildung g : Ω Ω gilt g Ã- i I A i -meßbar i I : π i g Ã-A i-meßbar. (ii) Für alle S I sind die Projektionen π S i I A i- i S A i-meßbar. Beweis. Ad (i): Folgt unmittelbar aus Satz II.3.3 und Satz 1.(i). Ad (ii): Beachte, daß π S {i} πi S = πi i, und verwende (i). Bemerkung 2. Satz 1.(i) und Korollar 1 zeigen A i = σ({πj I : J P 0 (I)}). Die Mengen i I ( ) ( ) π I 1 J (B) = B Ω i i I\J mit J P 0 (I) und B i J A i heißen Zylindermengen. Notation: C Menge der Zylindermengen. Die Menge C ist eine Algebra, aber im allgemeinen keine σ-algebra in Ω. Ferner R α(r) C σ(r), wobei im allgemeinen keine Gleichheit gilt.

V.1. Produkträume 42 Jede produkt-meßbare Menge ist in folgendem Sinn abzählbar bestimmt. Satz 2. Für jede Menge A i I A i existiert eine abzählbare Menge S I und eine Menge B i S A i, so daß A = ( π I S) 1 (B). Beweis. Setze { à = A A i : S I nicht-leer, abzählbar B i I i S A i : A = ( π I S ) 1 (B) }. Definitionsgemäß enthält à alle Zylindermengen, und es gilt à i I A i. Es bleibt zu zeigen, daß Ã eine σ-algebra ist. Siehe Gänssler, Stute (1977, p. 24). Nun studieren wir Produkte Borelscher σ-algebren. Satz 3. B k = k B, B k = k B. Beweis. Bemerkung II.2.2 zeigt ({ k B k = σ }) ], a i ] : a i R für i = 1,..., k k B. Andererseits ist π i : R k R stetig, so daß wir Korollar II.3.1 und Satz 1.(i) anwenden können. Analog ergibt sich B k = k B. Bemerkung 3. Allgemeiner betrachten wir eine nicht-leere abzählbare Menge I und eine Familie topologischer Räume (Ω i, G i ) für i I. Wir setzen voraus, daß jeder Raum (Ω i, G i ) eine abzählbare Basis besitzt und betrachten die Produkttopologie G auf Ω = i I Ω i. Dann B(Ω) = i I B(Ω i ), siehe Elstrodt (2011, Satz III.5.10). Ohne Voraussetzungen an I und die Räume (Ω i, G i ) zeigt Satz 1, daß B(Ω) i I B(Ω i). Wir diskutieren die Mächtigkeit von Produkt-σ-Algebren. Beispiel 3. Seien I = N, Ω i = {0, 1} und A i = P(Ω i ) wie in Beispiel 1. Für den entsprechenden Produktraum (Ω, A) gilt Ω = {0, 1} N und A = Ω = R. Beweis: Für jedes ω Ω gilt {ω} A. Somit A Ω. Umgekehrt zeigen Satz 1.(ii) mit E i = {{1}} und Satz II.1.3, daß A N N = R. Wir ergänzen, daß P(Ω) = {0, 1} R > Ω.