Krippenbetreuung aus entwicklungspädiatrischer Sicht

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Quelle: Lercher et al. (1997). Weil der Papa die Mama haut. Ruhnmark: Donna Vita.

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Transkript:

aus entwicklungspädiatrischer Sicht Fortbildungsseminar Kinder- und Jugendpsychosomatik beim Deutschen Kongress für Psychosomatik und Ärztliche Psychotherapie München 31.3.2012

Übersicht Epidemiologie aktueller Stand Pädiatrie klinische Studien (u.a. NICHD, Quebec) Basics Early Life Stress Studien zu Stressbelastung Schlussfolgerungen Vorbemerkungen

Der Rahmen: Psychoepidemiologie Antidepressiva-Verordnungen in Deutschland in Mio. DDD 1200 1058 1000 974 875 800 600 400 292 302 323 343 385 419 480 539 604 643 717 767 200 0 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 Schwabe und Paffrath (Hg.), Arzneiverordnungs-Report 2010

Der Rahmen: Psychoepidemiologie Depression ist zu einer Volkskrankheit herangewachsen Aktuelle Prävalenz in Deutschland 4 Millionen Erkrankte In der EU derzeit jährlich 77.000 Suizide durch Depression

Der Rahmen: Psychoepidemiologie Mental health conditions are the leading cause of DALYs worldwide and account for 37% of healthy life years lost from NCDs (WHO, 2011).

Der Rahmen: Psychoepidemiologie

Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Die Internetzeitschrift " Edge" versammelt in einer legendären Serie Beiträge der renommiertesten Wissenschaftler der Welt und stellt ihnen unter anderem die Frage: Was halten Sie für wahr, ohne es beweisen zu können? Der amerikanische Psychologe Daniel Goleman antwortet: Ich glaube, kann jedoch nicht beweisen, dass die heutigen Kinder unfreiwillig zu Opfern des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts werden, ihre soziale und emotionale Kompetenz droht auf drastische Weise zu verkümmern

Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Die zwingendsten Daten bietet eine nationale Erhebung, die Thomas Achenbach von der Universität Vermont bei mehr als dreitausend amerikanischen Schülern im Alter zwischen sieben und sechzehn Jahren durchgeführt hat. Die erste Befragung fand Anfang der Siebziger Jahre statt, eine zweite fast fünfzehn Jahre später und eine dritte in den späten Neunziger Jahren. Die Ergebnisse offenbaren einen bestürzenden Verfall der sozialen und emotionalen Kompetenz.

Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Besonders steil ging es zwischen der ersten und der zweiten Umfrage bergab. Gegenüber den frühen Siebziger Jahren waren amerikanische Kinder Mitte der Achtziger stärker verschlossen, mürrisch, unglücklich, ängstlich, depressiv, aufbrausend, unkonzentriert, fahrig, aggressiv und straffällig. Sie schnitten bei 42 Indikatoren schlechter, aber bei keinem besser ab.

Unsere Kinder - Opfer des Fortschritts SPIEGEL online 2008 Der rasante Anstieg des globalen Wettbewerbs hatte zur Folge, dass Eltern etwa seit zwei Jahrzehnten länger arbeiten müssen, um den gewohnten Lebensstandard zu halten. In den USA gibt es heute praktisch nur noch Doppelverdiener, wohingegen es vor 50 Jahren die Regel war, dass ein Elternteil zu Hause blieb. Nicht, dass heutige Eltern ihre Kinder weniger lieben würden sie haben einfach nicht mehr genügend Zeit für ihre Betreuung.

2007 Krippenoffensive 2008 Kinderförderungsgesetz (KiFöG) Plan: 750.000 U3-Plätze bis 2013 Rechtsanspruch ab 12 Monate

26.02.2007 Dr. W. Hartmann Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Als Kinder- und Jugendärzte sind wir nicht der Meinung, dass eine frühe Betreuung von Kleinkindern außerhalb des familiären Umfeldes unweigerlich zu seelischen Schäden und frühen Bindungsstörungen führt.

2008 Es gibt keinen einzigen Artikel, der systematisch Daten zum Thema Krippen und Gesundheit in Deutschland in einer Peerreviewed-Zeitschrift publiziert hat und eine datengestützte Antwort gibt auf die Frage, inwieweit mit der Kinderbetreuung in einer Krippe erhöhte (oder auch verminderte) gesundheitliche Risiken verbunden sind.

2008 Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin zu Qualitätskriterien institutioneller Betreuung von Kindern unter 3 Jahren (Krippen) Horacek U, Böhm R, Klein R, Thyen U, Wagner F www.dgspj.de/media/stellungnahme-krippenpapier-lang.pdf

JAY BELSKY 23 September 2011

child care wars 80er Jahre NICHD-Studie 1364 Kinder ab 1. LM Betreuung 0 4 Jahre multiple Variablen > 900 Jugendliche 15 LJ. > 300 Publikationen Daten verfügbar J.Belsky 2011 18

J.Belsky 2011

a

J.Belsky 2011

Verhaltensweisen, die bei ehemaligen Krippenkindern im Vorschulalter signifikant häufiger auftreten (NICHD-Studie) Selbstbestimmt: Angeben/aufschneiden, viel Beachtung verlangen, streiten, eifersüchtig, Clown spielen, ständig reden, hänseln/ärgern, ungeduldig, viel schreien, trotzig/frech Ungehorsam/widerständig: Dazwischenreden, ungehorsam, aufsässig, stört andere, stört Klasse, Aggressiv: Schlägereien, gemein/grausam, körperlich angreifen, Wutanfälle, zerstört eigene Sachen Insgesamt 20 / 25 Verhaltensweisen der CBCL-Aggressionsskala

Verhaltensweisen, die bei ehemaligen Krippenkindern im Vorschulalter signifikant häufiger auftreten (NICHD-Studie) Prahlen, Streiten, Eifersucht, Hänseln, Trotz, Aufsässigkeit, körperliche Angriffe, Grausamkeit, Zerstörerisches Verhalten Frühkindliches Achtsamkeits- und Empathiedefizit Frühe Erosion späterer Bindungsfähigkeit?

Inzidenz x10 J.Belsky 2011

NICHD-Studie: Nachuntersuchung 15 Jährige (Vandell 2010) Signifikant vermehrt impulsives und risikoreiches Verhalten (geringe Effektstärke), u.a.: Alkoholkonsum Rauchen Drogenmissbrauch Waffengebrauch Stehlen Vandalismus

Universal Childcare, Maternal Labor Supply, and Family Well-Being (Baker, Gruber, Milligan 2005) Effekte von auf Familien - Die Quebec-Studie Ein einzigartiges Studiendesign (natürliches Experiment): Ab 1997 Einführung eines umfassenden daycare-angebots ausschließlich im kanadischen Bundesstaat Quebec Analyse des outcome im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten über die Ergebnisse einer laufenden epidemiologischen, national repräsentativen Längsschnittstudie (National Longitudinal Study of Canadian Youth, NLSCY) http://faculty.arts.ubc.ca/kmilligan/research/childcare.oct2005.final.pdf

Universal Childcare, Maternal Labor Supply, and Family Well-Being in Quebec Tagesbetreuung ab Geburt für alle Familien Kosten 5$/Tag (subventioniert zu 85%) Qualitätssicherung (Krippenministerium, universelle Standards, 40% Gehaltsverbesserung für Erzieherinnen) Effekte: Zunahme von daycare um ein Drittel, shift to full time Übergang von informellen Arrangements (Familie, Freunde) zu offizieller Gruppenbetreuung oder Tagespflege Starke Zunahme der Erwerbsarbeit bei verheirateten Frauen Subventionskosten übersteigen zusätzliches Steueraufkommen

Universal Childcare, Maternal Labor Supply, and Family Well-Being Effekte (NLSCY) (überwiegend geringe Effektstärken): Bis 2005 verschlechterten sich die Kinder in Quebec in den meisten Dimensionen im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten Zunahme von Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit, Aggressivität Verschlechterung sozialer und motorischer Kompetenzen Verschlechterung des Gesundheitszustands (Infektionen) Ferner negative Effekte auf Elternseite: Verschlechterung aller Eltern-Kind-Interaktionsparameter (u.a. Zunahme feindseliger und inkonsistenter Erziehung) schlechtere elterliche psychische Gesundheit (u.a. mütterl. Depression) geringere Beziehungszufriedenheit der Frauen

Effekt von Krippe und Kindergarten auf Verhalten und Lernen in Abhängigkeit von Besuchsdauer und Einrichtungsqualität (nach Rossbach HG ) Sozioemotionale Entwicklung Kognitive Entwicklung Krippe (<3Jahre) Kindergarten (3-6Jahre) Krippe (<3Jahre) Kindergarten (3-6Jahre) Dauer leicht negativ 0 0 positiv Qualität 0 leicht positiv positiv (bis leicht negativ) positiv Roßbach HG (2011): Langfristige Auswirkungen außerfamilialer frühkindlicher Betreuung. In: Kißgen, R. & Heinen, N. (Hrsg.): Familiäre Belastungen in früher Kindheit. Früherkennung, Verlauf, Begleitung, Intervention. Stuttgart: Klett-Cotta.

Prozessqualität in deutschen Krippen (KRIPS-R / 2007) (N = 109) Sehr gut / gut 2% mittel ~ 2/3 unzureichend ~ 1/3 Tietze W (2007), zit. aus Maywald J (Hg.) Krippen, Beltz 2008

Stress

Stressverarbeitungssystem Anpassung des Körpers an Kampf und Flucht ( fight and flight ) Hypophyse Nebenniere Immunsystem Grundprinzip Mobilisierung von Energie Hemmung aller Wachstumsprozesse

Science 1996 Early stress and trauma seem to have a tremendous power in increasing the risk of various psychiatric disorders many years later Robert M. Sapolsky Why Zebras don t get Ulcers 2004 Harvard University, working paper 2009

Vermehrte frühkindliche Stressepisoden erhöhen nicht nur das Risiko für spätere körperliche und seelische Erkrankungen sondern verändern auch dauerhaft die Fähigkeit zur Stressregulation. Meaney M Environmental programming of stress responses through DNA methylation 2005 Die Einschränkung der Fähigkeit, Stressbelastung angepasst an Umweltanforderungen regulieren zu können, liegt letztlich allen psychischen Störungen zugrunde. Allan N. Schore: Affect Regulation and the Origin of the Self; 1994

Interview mit Peter Henningsen, SPON 20.02.2012 Lässt sich schon im Kindesalter beeinflussen, wie anfällig man später für psychosomatische Erkrankungen wird? In gewisser Weise schon. Denn die Stressregulation im Erwachsenenalter wird stark von frühkindlichen Beziehungserfahrungen geprägt. Wenn Kinder in einem Klima aufwachsen, in dem sie keinen über das normale Maß hinausgehenden Belastungen ausgesetzt sind, wird ihr Stresssystem später weniger störanfällig

Nature 2009

Bekannte Stressoren in der Kindheit: Hunger, Kälte, Infektion Misshandlung, Missbrauch, Emotionale Vernachlässigung Nanni V et al., Am J Psychiatry. August 14, 2011 Erhöhtes Risiko für wiederholte und langdauernde depressive Episoden (OR 2,3) Erhöhtes Risiko für schlechtes Ansprechen auf Therapie (OR 1,4)

Stressfaktor frühe Trennung von Eltern Zahlreiche Tierversuche an Nagern und Primaten weisen nach, dass frühe Trennung von der Mutter zur Veränderung von Hirnschaltkreisen führt, die Stressverarbeitung, Affekte, und Verhalten steuern, und dass dies zu einer abweichenden Aktivität (Steigerung oder Abschwächung) der Stress-regulationsachse (HPA) führt. Audrey R. Tyrka, Biol Psychiatry. 2008 Die einschneidendste und mit Abstand wichtigste psychosoziale Belastung während der Kindheit ist der Verlust von Sicherheit bietenden Bezugspersonen. Rothenberger und Hüther, Prax Kinderpsychol Kinderpsychiatr 1997 Fehlendes Zeitgefühl in den ersten 2 3 Lebensjahren. Kleinkindern fehlt das Bewusstsein, dass die Eltern nach einer Trennung wiederkommen. Zwingende Notwendigkeit einer feinfühligen und verfügbaren Ersatz-Bindungsperson. Gelingt dies in Krippen?

Cortisol-Tagesprofile bei Tout K et al., Child Development 1998 Betroffene Kinder: Daycare center 1: Daycare center 2: 73% (hohe Qualität) 96% (mittlere bis hohe Qualität)

C.Bindt 2011

Chronischer Cortisolanstieg vergleichbar mit höchstbelasteten Führungskräften der NASA Folge chronischen Cortisolanstiegs Allmähliches Absinken der morgendlichen Cortisolwerte (Erschöpfungssyndrom, attenuation hypothesis) z.b. bei regelmäßig von Müttern getrennten Primaten, nach gravierender Misshandlung, bei Heimkindern/Adoptivkindern

n = 65 Rumänisches Waisenhaus DGPs-Kongress, Bremen 2010

Vergleichsstudie Krippe Familie, Berlin, Ende 90er Jahre Kleinkinder erfahren in der Krippe weniger individuelle Zuwendung, Stimulation und Kommunikation als in der Familie. Kleinkinder regulieren ihre Stimmungen vorzugsweise im Kontakt mit ihren Eltern und nicht in der Krippe. Krippenkinder quengeln nach dem Abholen vermehrt, wahrscheinlich, um auf diese Weise ihre Eltern ganz für sich zu beanspruchen. Die Eltern müssen ihnen helfen, den ereignisreichen Tag zu verarbeiten und langsam zur Ruhe zu kommen. Es zeigt sich aber, dass nach einem langen Tag der Trennung Kinder und Eltern weniger aufmerksam miteinander umgehen.

Weitere Stressbelastungs-assoziierte Symptome in Krippen Immunsuppression (z.b. niedriges IgA im Speichel), Watamura 2010 Gehäufte Infektionen (1,5 bis 4 fach), Mehr Neurodermitis (1,5 fach), Mehr Kopfschmerzen (1,8 fach), Heinrich 2007 Cramer 2011 Gärtner 2010 Emotionale Dysregulation bei/nach Abholen, Ahnert 2000

Langzeiteffekte auf Stressregulation?

NICHD-Kollektiv: 863 / 1364 Studienteilnehmer (15-jährige) Messung des morgendlichen Speichel-Cortisolwerts Ergebnisse: Signifikant niedrigeres Morgen-Cortisol bei 2 Gruppen Emotionale Vernachlässigung (insensitive mothering = abweisend, feindselig, intrusiv) in größerem Zeitumfang Effekte schwach, aber gleich stark Effekte additiv (!) Effekte unabhängig von Betreuungsqualität

Zusammenfassung verursacht bei einem Teil der Kinder Auffälligkeiten im Sozialverhalten im Vor- und Grundschulalter, unabhängig von der Einrichtungsqualität. Verhaltensauffälligkeiten sind auch noch im Alter von 15 Jahren nachweisbar. führt, weitgehend unabhängig von der Einrichtungsqualität, zu bedenklicher chronischer Stressbelastung bei einem Großteil der Kinder. Diese ist im Ausmaß mit gravierender emotionaler Vernachlässigung vergleichbar. Stress in Krippen führt zu deutlich vermehrter Krankheitsbelastung. Es lassen sich dauerhafte Veränderungen der neurohormonalen Stressverarbeitung nachweisen. Es ist von einem langfristig erhöhten Risiko für psychische Störungen auszugehen, insbesondere prognostisch ungünstige, da schlecht behandelbare Depressionen.

Schlussfolgerungen (1) Chronische Stressbelastung ist neben genetischer Disposition - eine der wichtigsten Ursachen für psychische Störungen (Stress-VulnerabilitätsModelle) Chronische Stressbelastung induziert oder begünstigt indirekt auch weitere Zivilisationserkrankungen wie Adipositas, kardiovaskuläre Störungen, Diabetes.

Prince M, et al. No health without mental health. Lancet. 2007 Sep 8;370(9590):859-77. The burden of mental disorders is likely to have been underestimated because of inadequate appreciation of the connectedness between mental illness and other health conditions. Because these interactions are protean, there can be no health without mental health.

Schlussfolgerungen (1) Chronische Stressbelastung ist neben genetischer Disposition - eine der wichtigsten Ursachen für psychische Störungen (Stress-VulnerabilitätsModelle) Chronische Stressbelastung induziert oder begünstigt indirekt auch weitere Zivilisationserkrankungen wie Adipositas, kardiovaskuläre Störungen, Diabetes. Stressreduktion bzw. vermeidung ist daher eine der wichtigsten präventiven Aufgaben von Gesundheitswesen und Politik Besonders hohe Bedeutung hat die Stressvermeidung in Phasen der Programmierung des zerebralen Stressverarbeitungssystems (L-HPAAchse), das betrifft Kindheit und Adoleszenz, ganz besonders die ersten 3 Lebensjahre

Prince M, et al. No health without mental health. Lancet. 2007 Sep 8;370(9590):859-77. Mental health awareness needs to be integrated into all aspects of health and social policy, health-system planning, and delivery of primary and secondary general health care.

Pressemitteilung BMG 2010 Gesund von Anfang an Prävention muss schon bei den Kleinen anfangen Zwar ist die gesundheitliche Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland insgesamt gut, aber besonders chronische Erkrankungen und psychische Auffälligkeiten nehmen bei Kindern und Jugendlichen zu.

Nationales Gesundheitsziel (2010) Der Begriff Stressbewältigung wurde weiterentwickelt zum umfassenderen Konzept der Lebenskompetenz. Lebenskompetenz folgt der salutogenetischen Perspektive und schließt einen Kanon von Fähigkeiten und Kompetenzen ein, zu dem auch die Stressbewältigung gehört. Die Förderung der Lebenskompetenz fokussiert vorrangig auf Kinder und Jugendliche und ist in zahlreichen Programmen zur Prävention von Substanzmissbrauch, Essstörungen, Gewalt und Konfliktlösung etc. umgesetzt worden. http://www.gesundheitsziele.de//cms/medium/572/nationales_gesundheitsziel_gesund_aufwachsen.pdf

Schlussfolgerungen (2) In der Sozial- und Gesundheitspolitik und in der Öffentlichkeit bestehen immer noch fundamentale Kenntnis-Defizite hinsichtlich spezifischer Entwicklungsbedürfnisse von Säuglingen und Kleinkindern Diese Defizite stellen eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern dar Die Defizite zu verringern ist die gemeinsame Aufgabe von Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderpsychologie und psychotherapie, Neurobiologie und angrenzenden Fachgebieten.

Schlussfolgerungen (3) Die hohe Bedeutung der zuverlässigen Verfügbarkeit der Eltern, als primäre Bindungspersonen, und des vertrauten familiären Umfelds für die seelische Gesundheit unter dreijähriger Kinder muss stärker kommuniziert werden Eltern müssen in ihrer wichtigen Aufgabe der Begleitung ihrer sehr jungen Kinder besser unterstützt werden (Anerkennung, Zeit, Geld, Erziehungsfertigkeiten, später: beruflicher Wiedereinstieg)

Frühkindliche Gruppentagesbetreuung Vorschlag für eine entwicklungsmedizinisch evidenzbasierte Empfehlung 1. Keine Gruppentagesbetreuung unter zwei Jahren 2. Zwischen 2. und 3. Geburtstag maximal halbtägige Betreuung (bis 20 Wochenstunden) 3. Ab drei Jahren halbtägige oder ganztägige Betreuung möglich (je nach individueller Bereitschaft) 4. Grundsätzlich hohe Qualität notwendig Aus: Böhm R (2011): Kinderkrippen Qualitätskriterien aus entwicklungspädiatrischer Sicht. Monatsschrift Kinderheilkunde 159 (S3): 141-142

R.Böhm (2011), Kinderärztliche Praxis 82 (5), 316-21

Weiterführende Informationen (u.a. zur DGSPJ-Tagung 2011) www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de rainer.boehm@evkb.de

Empfehlenswerte Literatur zum Thema

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Prävalenz depressiver Symptome bei jungen Erwachsenen Frühkindliches Setting Depressive Symptome Early daycare (standard) (1) 37 % High quality early daycare (Abecedarian Project) (1) 25 % Family centered early intervention (Brookline Project) (2) 11/14 % (1) McLaughlin A et al. (2007): Early educational child care reduces depressive symptoms in young adults reared in low-income families. Child Development, 78, 746 756. (2) Palfrey JS et al. (2005): The Brookline Early Education Project: A 25-Year Follow-up Study of a Family-Centered Early Health and Development Intervention. Pediatrics 116, 144-152