Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht III (Grundrechte) Fall 2: Schockwerbung (Lösungshinweise)

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Transkript:

Fallbesprechungen zum Grundkurs Öffentliches Recht III (Grundrechte) Fall 2: Schockwerbung (Lösungshinweise) Obersatz: 1a UWG ist mit der Meinungsfreiheit der Lucca-GmbH vereinbar, wenn er nicht in den Schutzbereich eingreift oder ein Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. A. Eröffnung des Schutzbereiches I. Persönlicher Schutzbereich Art. 5 I GG schützt als Jedermannsgrundrecht zunächst jede natürliche Person. Da die Lucca- GmbH jedoch eine juristische Person ist, stellt sich die Frage, inwieweit sich auch juristische Personen auf die Meinungsfreiheit berufen können. Für juristische Personen gelten Grundrechte gem. Art. 19 III GG dann, wenn sie dem Wesen nach auf sie anwendbar sind: 1 Der verfassungsrechtliche Begriff der juristischen Person ist weiter als der einfachgesetzliche, er umfasst alle Personenmehrheiten, die entweder voll- oder teilrechtsfähig sind (GmbH, KG, GbR, [da teilrechtsfähig], Universität und Fakultät), nicht erfasst werden dagegen schlichte Personenmehrheiten, denen keine Rechte zustehen. Die Lucca-GmbH ist als rechtsfähige Personenmehrheit (vgl. 13 I GmbHG) eine juristische Person im Sinne von Art. 19 III GG. Fraglich ist jedoch, ob die Meinungsfreiheit auch wesensmäßig auf juristische Personen anwendbar ist. Die wesensmäßige Anwendbarkeit scheidet von vornherein aus, wenn das in Betracht kommende Grundrecht zwingend an die natürliche Eigenschaft des Menschen anknüpft (z.b. Leben, Gesundheit, Ehe, Menschenwürde). Ein solcher Fall liegt bei der Meinungsfreiheit jedoch nicht vor. Das BVerfG verlangt für die wesensmäßige Anwendbarkeit das Vorliegen eines personalen Substrates hinter der juristischen Person, d.h. dass die Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechtes nur dann gerechtfertigt sei, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck freier Entfaltung der natürlichen Personen seien, also insbesondere wenn ein Durchgriff auf die hinter der juristischen Person stehenden Menschen dies als sinnvoll und erforderlich erscheinen lässt 2. Die Literatur verlangt dagegen eine grundrechtstypische Gefährdungslage gegenüber einem Hoheitsträger, fragt also danach ob die Lage der juristischen Person der einer natürlichen Person 1 Hierzu insgesamt Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl., Rn. 157 ff. 2 BVerfGE 21, 362, 369. vergleichbar ist, die gegenüber dem Staat Grundrechtschutz genießt. diese Ansicht überzeugt insofern, als durch Art. 19 III GG gerade ein eigenständiger Grundrechtsschutz für die juristische Person als solche vermittelt werden soll; ein Abstellen auf die hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen beachtet diese Selbständigkeit nicht ausreichend. Die Lucca-GmbH verfügt mit ihren Gesellschaftern über ein personales Substrat. Daneben ist ihre Situation und Schutzbedürftigkeit mit der einer natürlichen Person hinsichtlich der Meinungsfreiheit vergleichbar, sie befindet sich insofern also in einer grundrechtstypischen Gefährdungslage 3. Insofern ist die Meinungsfreiheit nach beiden Ansichten auf sie ihrem Wesen nach anwendbar. Hinweis: Die beiden Ansichten führen praktisch nie zu einem unterschiedlichen Ergebnis, da das Verfassungsgericht in den eigentlichen kritischen Fällen (z.b. Stiftung) vom Erfordernis des personalen Substrats wieder abrückt. Der persönliche Schutzbereich ist daher eröffnet. II. Sachlicher Schutzbereich 1. Definition der Meinung Nach dem Wortlaut sind von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Meinungen geschützt. Meinungen sind subjektive Äußerungen oder Werturteile, gleichgültig, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen, gleichgültig, ob sie emotional oder rational, politisch oder privat, wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos sind 4. Sie lassen sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. Unerheblich ist auch der Zweck, den der sich Äußernde mit der Kundgabe verfolgt. Dies gilt auch, wenn die Meinungsäußerung in einem Bild zum Ausdruck kommt. Das BVerfG beurteilt eine solche nur visuell wahrnehmbare Äußerung danach, ob sie dazu geeignet ist, aus Sicht eines verständigen Empfängers unter Berücksichtigung der für ihn wahrnehmbaren, den Sinn der Äußerung mitbestimmenden Umstände, als Meinungsäußerung angesehen zu werden. Grundsätzlich von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG nicht geschützt sind dagegen Tatsachenbehauptungen. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Wahrheitsbeweis zugänglich sind. Bei ihnen steht 3 Vgl. Dreier, Grundgesetz, 2. Auflage, Art. 5 Rn. 116. 4 BVerfGE 7, 198 (210) Lüth; 61, 1 (14); 33, 1 (4). 1 von 5

die objektive Beziehung zur Realität im Vordergrund. Freilich sind Meinungen und Tatsachenbehauptungen sehr schwer zu trennen. Im Interesse des effektiven Grundrechtsschutzes fallen Tatsachenbehauptungen daher u.u. auch in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der Begriff der Meinung schließt dann auch die Behauptung von Tatsachen mit ein, wenn und soweit diese Voraussetzung für die Bildung von Meinungen ist. Dies ergibt sich daraus, dass beinahe jede Meinungsäußerung eine Mischung aus empirisch-deskriptiven Tatsachen und damit verbundenen Einschätzungen und Wertungen darstellt; weiterhin steht nahezu jede Mitteilung einer Tatsache in einem wertenden Kontext, der schon durch die Auswahl der Tatsachen oder die Art und Weise oder den Zeitpunkt ihrer Mitteilung von einem wertenden Zusammenhang nicht freigehalten werden kann. Um den Grundrechtsschutz nicht zu verkürzen, betrachtet das BVerfG im Zweifel eine Äußerung insgesamt als Meinungsäußerung, die durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägt ist, auch wenn sich diese Elemente mit Elementen einer Tatsachenermittlung oder - behauptung verbinden oder vermischen 5. Vorliegend gibt die Werbung der Lucca-GmbH eine aus der Realität entnommene Gegebenheit wieder, damit ist sie dem Wahrheitsbeweis zugänglich und als Tatsachenbehauptung zu qualifizieren. Die Anzeige enthält aber auch aus sich heraus verständliche Aussagen zur Umweltproblematik und veranschaulicht damit allgemeine Missstände. Sie enthält damit ein (Un-) Werturteil zu gesellschaftlich und politisch aktuellen Fragen. Derartige Meinungsäußerungen, die das Elend in der Welt anprangern und damit die Aufmerksamkeit der Bürger auf allgemeine Missstände lenken, genießen den Schutz des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG in besonderem Maße. 6 2. Ausschluss kommerzieller Werbung? Auch wenn eine Äußerung in einem kommerziellen Rahmen stattfindet (Verfolgung wirtschaftlicher Zwecke oder Äußerung einer Meinung in einem wirtschaftlichen Kontext), werden Äußerungen weiterhin von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG geschützt, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt haben. 7 5 BVerfGE 61, 1, 9. 6 BVerfGE 28, 191, 202. 7 Vgl. dazu auch BVerfG 1BvR 426/02 ( Benetton- Schockwerbung II ) vom 11.03.2003; anders noch BGH I ZR 284/00 ( H.I.V. Positive II ) vom 06.12.2001; vgl. des weiteren BVerfG 1BvR 952/90, 1BvR 2151/96 ( Tierfreundliche Mode / Aktionsgemeinschaft Artenschutz ) vom 06.02.2002; BVerfGE 102, 347 ( Benetton- Schockwerbung ). Nach dem BVerfG 8 fällt daher auch die kommerzielle Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich, sofern sie zumindest auch der Meinungsbildung dient. Die Meinungsäußerung der Lucca-GmbH verliert den Schutz des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG daher nicht aufgrund ihres kommerziellen Motivs. Dies gilt trotz des Werbekontextes und auch dann, wenn der Werber auf einen Kommentar verzichtet. Auf eine bloße Absicht, sich als Unternehmen ins Gespräch zu bringen, kann die Anzeige nicht reduziert werden. 9 Nach alledem handelt es sich bei der Werbung der Lucca-GmbH um eine Meinungsäußerung. Der sachliche Schutzbereich ist daher auch eröffnet. III. Zwischenergebnis Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist eröffnet. B. Eingriff Nach h.m. ist ein Eingriff jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht oder erschwert, wobei bloße Unbequemlichkeiten oder Belästigungen nicht ausreichen. 1a UWG macht der Lucca-GmbH die Ausübung ihrer Meinungsfreiheit unter einem bestimmten Aspekt unmöglich und stellt damit einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. C. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung I. Einschränkbarkeit der Meinungsfreiheit Die Meinungsfreiheit unterliegt mit Art. 5 II GG einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Sie kann eingeschränkt werden durch allgemeine Gesetze, Gesetze zum Schutz der Jugend und Gesetze zum Schutz der persönlichen Ehre. Fraglich ist insofern, ob 1a UWG die Anforderungen dieses Gesetzesvorbehaltes erfüllt. In betracht kommt lediglich, dass es sich dabei um ein allgemeines Gesetz handelt. Was unter einem allgemeinen Gesetz zu verstehen ist, ist seit jeher umstritten. Nach der formellen Theorie, der sog. Sonderrechtslehre ist ein Gesetz allgemein, wenn es nicht speziell auf Einschränkung der in Art. 5 I GG gewährleisteten Freiheiten (z.b. die Meinungsfreiheit 8 BVerfGE 71, 162, 175. 9 Vgl. dazu auch BVerfGE 102, 347, 359 f. 2 von 5

als solche) abzielt, sondern einen anderen Zweck hat. Nach der materiellen Theorie (Abwägungslehre) ist ein Gesetz allgemein, wenn der Eingriff in die Meinungsfreiheit verhältnismäßig ist. Das BVerfG kombiniert seit seinem Lüth-Urteil 10 beide Lehren und versteht unter allgemeinen Gesetzen die Gesetze, die sich weder gegen bestimmte Meinungen als solche richten noch Sonderrecht gegen den Prozess der freien Meinungsbildung darstellen, die vielmehr dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Das Gesetz darf somit kein Sonderrecht gegen den Prozess freier Meinungsbildung schaffen und es muss dem Schutz eines gegenüber der Meinungsfreiheit vorrangigen Rechtsguts dienen. Hinweis: Hier ist zu berücksichtigen, dass die Ansicht des Verfassungsgerichts aus der Frühzeit der Grundrechtsdogmatik stammt. Da sie Elemente der Abwägung beinhaltet ( Vorrang ), stellt sich aus der heutigen Grundrechtsdogmatik heraus die Frage, was dann noch für den Abwägungsvorgang übrig bleiben soll. Eine Lösung bestände darin, im Rahmen der Einschränkbarkeit zu fragen, ob das verfolgte Ziel überhaupt (abstrakt) Vorrang vor der Meinungsfreiheit haben kann, um dann in der materiellen Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, ob es im konkreten Fall Vorrang hat. Beispiel für ein Schutzgut, dass nicht Vorrang vor der Meinungsfreiheit haben kann, wäre der Schutz einer anderen, entgegenstehenden (u.u. staatlicherseits bevorzugten) Meinung. Das UWG, und so auch 1a UWG-Entwurf will das Verhalten der Marktteilnehmer, die miteinander im Wettbewerb stehen, in den Bahnen des Anstandes, der Redlichkeit und der guten kaufmännischen Sitten halten. 11 Es wird keine bestimmte Meinung, also Werbung wegen ihres konkreten Inhaltes verboten, sondern lediglich solche, die nach ihrer Wirkung auf die Verbraucher unter den Begriff der Schockwerbung fällt. Auch dient die Vorschrift einem allgemein in der Rechtsordnung anerkannten und geschützten Rechtsgut, nämlich der Lauterkeit des Wettbewerbes bzw. der Wettbewerbsfreiheit, das grundsätzlich Vorrang vor der Meinungsfreiheit haben kann. 1a UWG ist demnach nach allen hierzu vertretenen Ansichten als allgemeines Gesetz anzusehen und der qualifizierte Vorbehalt des Art. 5 II GG gewahrt. II. Formelle Verfassungsmäßigkeit 1. Zuständigkeit Die Gesetzgebungskompetenz liegt gem. Art. 74 I Nr. 11 GG beim Bund, da das UWG als Teil des Wettbewerbsrechtes dem Recht der Wirtschaft zuzurechnen ist und auch vom Erfordernis einer bundeseinheitlichen Regelung (vgl. Art. 72 II GG) ausgegangen werden kann. 2. Verfahren, Form Das Gesetz befindet sich im Entwurfsstadium, hat daher noch kein Verfahren durchlaufen. Das Zitiergebot des Art. 19 I 2 GG findet nach Ansicht des BVerfG keine Anwendung auf allgemeine Gesetze im Sinne von Art. 5 II GG. 12 III. Materielle Verfassungsmäßigkeit 1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit a) Legitimes Ziel 1a UWG dient der Lauterkeit des Wettbewerbs. Dies ist auch unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 5 II GG ein legitimes Ziel. b) Geeignetheit Das eingesetzte Mittel ist geeignet, wenn mit ihm die Erreichung des Gesetzesziels zumindest gefördert werden kann. Das Verbot schockierender Werbung ist geeignet, die Lauterkeit des Wettbewerbs zu wahren, da die Lauterkeit des Wettbewerbs durch die Wahl der Werbemotive beeinträchtigt wird, wenn diese beim Verbraucher bestimmte Gefühle (Ohnmacht, Hilflosigkeit, daraus entstehendes Handlungsbedürfnis) hervorrufen, die zur Imageverbesserung und Absatzsteigerung missbraucht werden. c) Erforderlichkeit Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn es kein milderes, gleichermaßen wirksames Mittel gibt (Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs). Mildere Mittel sind hier nicht ersichtlich. Warnhinweise und Appelle wären nicht gleich wirksam. 10 BVerfGE 7, 198 ff. Lüth. 11 vgl. BGHZ 144, 255 (265;) Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, Einl. UWG, 29. Aufl. (2011), Rn 100 ff. 12 BVerfGE 28, 55, 62 f.; 28, 282, 289 ff.. 3 von 5

d) Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit i.e.s. Eine Vorschrift ist grundsätzlich dann verhältnismäßig i.e.s., wenn der mit ihr verbundene Eingriff nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung des verfolgten Ziels steht. Einschränkungen des für eine freiheitlichdemokratische Grundordnung unverzichtbaren Rechts auf freie Meinungsäußerung bedürfen einer Rechtfertigung durch hinreichend gewichtige Gemeinwohlbelange oder schutzwürdige Rechte oder Interessen Dritter. Dies gilt für kritische Meinungsäußerungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen in besonderem Maße 13, sodass hier eine Vermutung für den Vorrang der freien Rede besteht. Bei Einschränkungen auf der Grundlage des 1a UWG muss also die Verletzung eines hinreichend wichtigen, durch diese Norm geschützten Belanges dargelegt werden. 14 Bei Art. 5 II GG ist hier insbesondere die vom BVerfG im Lüth-Urteil 15 entwickelte Wechselwirkungslehre zu beachten: Danach ist eine Begrenzung der Grundrechte des Art. 5 I GG nicht uneingeschränkt möglich, das einschränkende Gesetz erfährt vielmehr selbst Beschränkungen aus der Bedeutung des Grundrechtes, was bei der Auslegung der allgemeinen Gesetze zu einer Vermutung zugunsten der Meinungsfreiheit führt. Es wird daher eine umfangreiche Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt, bei der zunächst eine regelbezogene (= abstrakte) Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern Wettbewerbsschutz und Meinungsfreiheit und dann eine fallbezogene (= konkrete) Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit der Lucca-GmbH und den Zielen des 1a UWG vorgenommen wird. Hinweis: Auch die Wechselwirkungslehre stammt aus der Frühzeit des GG und bringt (für die heutige Zeit) im Grunde genommen nur zwei Selbstverständlichkeiten der allgemeinen d.h. auch für andere Grundrechte geltenden Grundrechtsdogmatik zum Ausdruck. Zum einen wird der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz herausgestrichen (das einfache Gesetz muss im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden), zum anderen wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betont. Die regelbezogene Abwägung führt hier nicht zu einem prinzipiellen Vorrang eines der Rechtsgüter, 13 BVerfGE 102, 347, 363. 14 BVerfG, NJW 2002, 1187, 1188 f. 15 BVerfGE 7, 198: Allgemeine Gesetze können die Freiheiten des Art. 5 I GG nicht beliebig einschränken, sondern sind ihrerseits aus der Erkenntnis der Bedeutung des jeweiligen Kommunikationsgrundrechtes im freiheitlich demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer beschneidenden Wirkung selbst wieder einzuschränken. da weder die Meinungsfreiheit noch der Wettbewerbsschutz ohne Rücksicht auf die Umstände des konkreten Falles generell Vorrang genießt. Daher sind hier im Rahmen der fallbezogenen Abwägung Argumente für und wieder ein Verbot schockierender Werbung abzuwägen. Hinweis: Hätte die Meinungsfreiheit generell Vorrang vor dem Wettbewerbsschutz, läge nach der Ansicht des BVerfG schon gar kein allgemeines Gesetz vor. S. o. Für den Vorrang der Lauterkeit des Wettbewerbes könnten folgende Gesichtspunkte sprechen. Aufmerksamkeitswerbung will nur schockieren, ohne den geringsten Informationswert für den Verbraucher. Dies widerspricht Sinn und Zweck des Leistungswettbewerbes. Es ist unlauter, sich solcher Werbemotive zu bedienen, die beim Verbraucher Gefühle hervorrufen, die dann allein zur Imageverbesserung und Absatzsteigerung missbraucht werden. Gerade auch die Darstellung von Umweltproblemen in Verbindung mit dem Schaden, der der Tierwelt zugefügt wird, ist besonders geeignet, beim Betrachter starke Emotionen zu wecken (hilflose und schutzbedürftige Tiere...). Der BGH 16 führt hierzu im Rahmen der Sittenwidrigkeitsprüfung von 1 UWG an:...ist sittenwidrig, weil sie das Gefühl des Mitleides der Verbraucher anspricht, das werbende Unternehmen als gleichermaßen betroffen darstellt und damit eine Solidarisierung der Einstellung solchermaßen berührter Verbraucher mit dem Namen und zugleich der Geschäftstätigkeit dieses Unternehmens herbeiführt. Der Meinungsäußerungsanteil im Rahmen der Reality -Werbung tritt zurück und ist daher weniger schutzwürdig, da die Schockwirkung lediglich zur Imagewerbung und der Förderung von Verkaufsinteressen eingesetzt wird. Für den Vorrang der Meinungsfreiheit könnte sprechen. Prinzipiell kann es auch Gewerbetreibenden nicht verwehrt werden, zu einem aktuellen und von erheblichem öffentlichem Interesse getragenen Thema Stellung zu nehmen. Auch bei einer realitätsbezogenen Imagewerbung anders als bei der herkömmlichen Werbung geht es um einen Beitrag zur ständigen geistigen Auseinandersetzung, also die Teilnahme am Meinungskampf in Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung, der für die freiheitliche demokratische Grundordnung 16 BGH NJW 1995, 2488 (ölverschmutzte Ente); 2490 (Kinderarbeit); 2492 (HIV-positiv). 4 von 5

schlechthin konstituierend ist, und sich damit im Kernbereich der Meinungsfreiheit befindet. Dies ist gerade auch beim Thema der Umweltverschmutzung durchaus zu bejahen, denn auch hier wird die geistige Auseinandersetzung mit dem dargestellten Thema gefördert. Es kann nicht Sache des Gesetzgebers sein, im Ergebnis eine Werbung mit dem Hässlichen und Problematischen zu verbieten und damit zu entscheiden, ob eine schöne oder aber eben eine makelbehaftete Welt in der Werbung dargestellt wird. Vielmehr muss der Wandel der Gesellschaft und auch die Veränderung der Kommunikationsformen berücksichtigt werden. Insgesamt ist hier die Meinungsäußerungsfreiheit der Gewerbetreibenden höher zu bewerten als der Schutz des Wettbewerbs, insbesondere in Fällen, in denen sie zu aktuellen und in der Tagespresse diskutierten Themen Stellung nimmt und sich insoweit mit einer Angelegenheit von öffentlicher Bedeutung befasst. Eine Werbung mit realen Abbildungen der Zeitgeschichte, die soziale oder sonstige Probleme thematisieren, kann nicht per se einem wettbewerbsrechtlichen Verbot unterworfen werden. 1a UWG ist daher unangemessen und unverhältnismäßig. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit ist somit nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt (a.a. vertretbar). 2. Sonstiges materielles Verfassungsrecht Verstöße gegen sonstiges materielles Verfassungsrecht sind nicht ersichtlich. D. Ergebnis 1a UWG verletzt die Meinungsfreiheit der Lucca- GmbH. 5 von 5