Krank durch gesellschaftliche Bedingungen zur (die) Pathogenität sozialer Austauschprozesse Prof. Dr. Richard Peter Universität Ulm, Institut für Epidemiologie Evangelische Akademie Bad Boll, 6. November 2010
Soziologisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit Verletzung sozialer Reziprozität (Gegenseitigkeit) Enttäuschtes / vermindertes soziales Vertrauen Stressbelastung erhöhtes gesundheitliches Risiko
Die Verletzung sozialer Reziprozität und den Verlust sozialen Vertrauens begünstigende Bedingungen Arbeitslosigkeit (Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe) Berufliche Belastungen (mangelnde Belohnung) Prekäre Beschäftigung (erhöhte berufliche Belastungen Stressbelastung erhöhtes gesundheitliches Risiko
Inhalt des Vortrages 1. Was ist Stress? 2. Soziales Kapital, soziales Vertrauen und Gesundheit 3. Arbeitslosigkeit und Gesundheit 4. Stress im Erwerbsleben und Gesundheit 5. Prekäre Beschäftigung und Gesundheit 6. Was kann man tun: Perspektiven der Intervention
1. Was ist Stress? Theoretischer Hintergrund
Was ist Stress? Stress ist wichtig: wer Stress hat, ist wichtig; je mehr Stress, um so wichtiger, bedeutender. Mit Stress wird renommiert, angegeben. "Brrrrh, bin ich heute gestresst!" Stress, um zu imponieren? Nicht mehr die Leistung zählt, der Stress ist viel wichtiger. Wer keinen Stress hat, ist nicht mehr "in". Wer kann sich ihm noch entziehen? Es gibt viele Möglichkeiten, für Stress zu sorgen. 1. Nehmen Sie sich jeden Tag mehr vor, als Sie selbst im günstigsten Falle schaffen können. 2. Arbeiten Sie ohne Pause und hastig. 3. Arbeiten Sie, bevor Sie gedacht haben, das sorgt für Überraschungen, Mehrarbeit und ärgerliche Situationen. 4. Schieben Sie alles Unangenehme und Wichtige möglichst lange vor sich her. 5. Erledigen Sie vormittags Ihre Routineaufgaben und nachmittags das Wichtige. 6. Nehmen Sie es mit Zusagen und Terminen nicht so genau. Es ist doch so herrlich spannend, sich immer neue glaubwürdige Ausreden einfallen lassen zu müssen. 7. Arbeiten und leben Sie ohne Ziele, ohne Plan. Leute mit Plan sind ungemütlich und ohne jegliche Spontaneität. 9. Machen Sie alles auf einmal und nicht eines nach dem anderen. 10. Arbeiten Sie besonders eifrig, wenn Sie das Ziel nicht kennen. Die Hauptsache ist, Sie sind beschäftigt. 12. Tun Sie alle Dinge so, "Wie wir sie immer schon getan haben". 13. Lassen Sie sich von anderen bereitwillig und zu jeder Zeit bei Ihrer Arbeit unterbrechen, die läuft Ihnen ja nicht weg, denn sonst sind Sie schon bald nicht mehr "in".
Das Zebra oder Was ist Stress? Biologisch (Stressreaktion): autonome Aktivierung; das Zebra unterbricht sein Fressen erst und flüchtet, wenn der Löwe auftaucht (Stress als phylogenetisch sinnvolle Reaktion) Psychologisch (Stressor, Bewältigungsverhalten): das Zebra macht sich Gedanken, wann der Löwe auftauchen und was es dann unternehmen könnte (Bewertung der Bewältigungskapazitäten) Soziologisch (Stressor): Das Zebra blickt vom Fressen auf und ist von Löwen umzingelt (no exit Situation)
Situation Person Belastungserfahrung (Distress) Gesundheitsschädigendes Verhalten: Rauchen Fehlernährung Bewegungsmangel Alkoholkonsum Unangemessenes Bewältigungsverhalten Blutdruck Blutfette Fibrinogen Autonome / neuroendokrine Aktivierung, Immunreaktion Herzinfarkt, plötzlicher Herztod, Schlaganfall
Stress ist ein wichtiges Bindeglied zwischen (sozialen) Umweltbedingungen auf der einen und dem Körpergeschehen auf der anderen Seite. R. Peter
2. Soziales Kapital / soziales Vertrauen und Gesundheit
Kerngedanke sozialen Kapitals Generalisierte Reziprozitätserwartung ist grundlegend für alles Zusammenleben (Putnam 2000) Subjektive Komponente (individuelle Einstellungen, Erwartungen, Enttäuschungen)
Soziales Vertrauen I ll do this for you now, without expecting anything immediately in return and perhaps without even knowing you, confident that down the road you or someone else will return the favor. Robert Putnam (2000). Bowling alone. S. 134
Soziales Kapital Hypothese Verlust sozialen Zusammenhalts führt zu erhöhter Mortalität Beispiele sozialen Zusammenhalts Ehrenamtliches Engagement (Verein, Kirche, Sport etc.) Vertrauen in Andere (Würden andere Sie übervorteilen oder fair behandeln; können Sie anderen vertrauen oder müssen Sie vorsichtig sein) Kawachi et al. 1997 Am J Publ Health
Source: Kawachi et al. 1997, Am J Publ Health
Mangelnde soziale Reziprozität und depressive Symptome (v. Knesebeck et al. J Psychosom Res 2003, 209-14) Odds ratio 1 2,5 2 * * * * * * P <.05 1,5 1 Partnerschaft Kinder unspezifisch 0,5 0 Deutschland USA N=682 N=608 1) Adjustiert für Schulbildung, Einkommen, emotionale Unterstützung
2. Arbeitslosigkeit und Gesundheit
Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit Bedrohung einer zentralen sozialen Rolle Ausschluss / Begrenzung gesellschaftlicher Teilhabe Bedrohung materieller Sicherheit Gefährdung der Reziprozität sozialer Austauschprozesse, Bedrohung sozialen Vertrauens
Soziale Funktionen der Berufstätigkeit Berufstätigkeit sichert Einkommen es ist ein wichtiges Ziel von Sozialisationsprozessen berufstätig zu sein Berufstätigkeit ist wichtig für die Definition des Sozialstatus und der sozialen Identität Berufstätigkeit ist wichtig für die Entwicklung von Fähigkeiten, Selbstwertschätzung und anderen selbst-regulatorischen Funktionen
Arbeitslosigkeit und Gesundheit: Henne oder Ei? Arbeitslosigkeit führt zu erhöhter Morbidität Erkrankte werden eher arbeitslos
Einfluss von Arbeitslosigkeit auf die Sterblichkeit ( Martikainen et al. 2007, Am J Epidemiol) Hazard ratio 2,5 2,38 2 1,5 1,25 1 0,5 0 1989 1994
Einfluss 1 von Arbeitslosigkeit auf die Sterblichkeit in Abhängigkeit vom Arbeitsplatzabbau ( Martikainen et al. 2007, Am J Epidemiol) Multivariate hazard ratio 3 2,5 2,68 2 1,5 1 0,5 1,51 1,47 1,56 1,1 1,08 wenig mittel stark Arbeitsplatzabbau 0 1989 1994 1) adjustiert für Alter, Geschlecht
4. Stress im Erwerbsleben und Gesundheit
Anforderungs-Kontroll (job strain) Modell (Karasek & Theorell 1990) Quantitative Anforderungen niedrig hoch Entscheidungsspielraum / Kontrolle hoch niedrig niedriger Distress passiv aktiv hoher Distress job strain
Modell beruflicher Gratifikationskrisen (J. Siegrist) extrinsisch Verausgabung - Anforderungen - Verpflichtungen - Lohn, Gehalt - Wertschätzung - Aufstiegsmöglichkeiten Arbeitsplatzsicherheit intrinsisch Erwartung ( übersteigerte Verausgabungsbereitschaft ) Ungleichgewicht aufrechterhalten bei: fehlender Arbeitsplatzalternative strategischem Verhalten psychischer Disposition: übersteigerte Verausgabungsbereitschaft Belohnung Erwartung ( übersteigerte Verausgabungsbereitschaft )
Empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen beruflichen Gratifikationskrisen und Erkrankungsrisiken Insgesamt mehr als 50 Studien (davon 8 prospektive Studien inkl. Baseline-Erhebungen) und 130 Publikationen Ca. 50.000 erwerbstätige Männer und Frauen im Alter von 20-70 Jahren Zielgrössen: kardiovaskuläre Erkrankungen (Herzinfarkt, Angina Pectoris etc.) und Risikofaktoren (Hypertonie, erhöhte Blutfette, Zigarettenrauchen etc.) psychiatrische Erkrankungen Rückenbeschwerden gastrointestinale Symptome subjektive Gesundheit Abszenzen
Mortalitätsrisiko tsrisiko (Herz-Kreislauf Kreislauf-Krankheiten) Krankheiten) in Abhängigkeit von psychosozialen Arbeitsbelastungen N max =812 (73 Todesf =812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre 2,5 2 1,5 1 0,5 Terzile (Belastung): 1 = keine 2 = mittlere 3 = hohe 0 1 2 3 1 2 3 Anforderungs-Kontroll- Modell Modell beruflicher Gratifikationskrisen Quelle: M. Kivimäki et al. (2002), BMJ, 325: 857.
Incident fatal and non-fatal myocardial infarction (11 years) (Whitehall II -Study (odds ratios; n=10.146)) according to quartiles of effort-reward ratio; effect modification by social support at work 2,5 2 1,5 Quartiles E/R ratio 1 = lowest; 4 = highest 1 0,5 0 1 1 2 3 4 1 2 3 4 high low Social support 4 4 Source: Kuper, H. et al., Occup Environment Med, 59, 2002: 777-784.
Berufliche Gratifikationskrisen und LDL-Cholesterin (655 Männer, 30-55 Jahre) (Peter et al. 1998, J Epidemiol Community Health) Mittleres LDL in mg/dl 150 145 140 135 130 125 134,9 F= 3.76 p=0.03 140,2 145,7 120 niedrig mittel hoch Gratifikationskrisen 1 1) Quotient > 1, adjustiert für Alter, Zigarettenrauchen, BMI
Risikofaktoren des akuten ersten nicht-tödlichen Myokardinfarkts in der schwedischen SHEEP-Studie (bevölkerungsattributables Risiko bei Männern und Frauen im Alter von 45-64 Jahren,N=2098) % 45 LDL > 130 mg/dl 40 40,5 35 33,7 31,3 30 28,8 25 20 15 17,8 15 10,7 10 5 0 Zigarettenrauchen HDL < 40 mg/dl Diabetes BMI > 25 kg/m2 familiäre Vorbelastung psychosoziale Belastung (BGK) Nach Peter et al. 2002, J Epidemiol Community Health 1) Extrinsische und / oder intrinsische Komponente
5. Prekäre Beschäftigung und Gesundheit
Was ist prekäre Beschäftigung? Teilzeitarbeit Geringfügige Beschäftigung Leiharbeit Zeitlich befristete Beschäftigung Mehrfach-Beschäftigung
Atypische Beschäftigung: Mini-Jobs, Leiharbeit, Teilzeit
Einfluss 1 beruflicher starker Stressbelastung (job strain) auf Krankschreibungen bei dauerhaft und befristet Beschäftigten ( Gimeno et al. 2004, J Epidemiol Community Health) Multivariate odds ratio 4,5 4,11 4 3,5 3 2,5 2 1,8 1,5 1 0,5 0 Men 2,22 Women 2,98 dauerhaft befristet 1) adjustiert für Alter, Familienstand, Kinder zu Hause, Sektor, Land, Betriebsgrösse, Umgebungsnoxen
Einfluss 1 befristeter Beschäftigung auf vorzeitige Sterblichkeit ( Naetti et al. 2009, Europ J Public Health) 3 2,5 Multivariate hazard ratio 2,59 2 1,95 1,5 1 1 0,81 1 dauerhaft befristet freiwillig befristet unfreiwillig 0,5 0 0,32 1984 1990 1) adjustiert für Alter, Familienstand, Bildung, Region, gesundheitliche Symptome, Rauchen, berufliche Anforderungen
Prekäre Beschäftigung 1, berufliche Stressbelastung (Gratifikationskrisen) und mentale Gesundheit (n=1395 Männer) Braig & Peter 2010, unveröffentlicht Prekäre Beschäftigung + Belastung durch Verausgabung +++ Belastung durch Belohnungsmangel +++ +++ Schlechte mentale Gesundheit 1) Mehrfachbeschäftigung und niedriges Einkommen;
Prekäre Beschäftigung 1, berufliche Stressbelastung (Gratifikationskrisen) und mentale Gesundheit (n=1395 Männer) Braig & Peter 2010, unveröffentlicht +++ +++ +++ BMI Alter Prekäre Beschäftigung Belastung durch Verausgabung +++ +++ + +++ Belastung durch +++ Belohnungsmangel Schlechte körperliche Gesundheit 1) Mehrfachbeschäftigung und niedriges Einkommen;
6. Was kann man tun: Perspektiven der Intervention
Ebenen der Stressreduktion Individuell Entspannung Bewertung und Bewältigung Interpersonell Management von Ärger und Aggression Selbstbehauptung Wechselseitige Unterstützung Strukturell Partizipatorische Maßnahmen Arbeitsinhalte/ Arbeitsorganisation (z.b. Schichtarbeit, Arbeitszeiten, job enrichment) Änderungen von Gratifikationssystemen (z.b. nichtmonetäre Gratifikationen, kleinere Abteilungen, mehr direkte Kommunikation, Fortbildungen) Arbeitsplatzsicherheit, Integration in ersten Arbeitsmarkt Peter, Universität Ulm 2003
Lipid lowering by workplace intervention (Orth-Gomer et al. Int J Behav Med 1994, 1) age-matched intervention and control group (n=129 men and women) 8 months intervention program improvement of work stimulation and autonomy in the intervention group (3.41 to 3.53, t= 2.82, p <.001) reduction of the ApoB / ApoA1 ratio in the intervention group (0.84 to 0.79, t= 2.65, p <.05) no comparable changes were observed in the control group
Sozialanamnestische Fragen (Albus & Siegrist, Z Kardiol 2005; 94: III/105-III/112 Niedriger sozioökonomischer Status Soziale Isolation Berufliche und familiäre Belastung Depressivität Feindseligkeit und Neigung zu Ärger
Reduktion koronarer Morbidität und Mortalität durch psychosoziale Intervention und Bewegungstraining (Metaanalyse von Dusseldorp et al. 1999, Health Psychology) % Reduktion 40 35 30 34 % (p <.025) 29 % (p <.025) 25 20 15 Mortalität Reinfarkt 10 5 0
Metaanalyse des zusätzlichen Nutzens psychosozialer Intervention zur Reduktion koronarer Risikofaktoren (Linden et al. 1996, Arch Intern Med) Reduktionsdifferenz in Standardabweichungseinheit 0-0,1-0,2-0,3-0,4-0,5-0,6-0,7-0,8-0,9-1 P<.12 P<.01 P <.01 P<.05 Kontrollgruppe Interventionsgruppe Gesamtcholesterin Herzfrequenz Diast. BD Syst. BD P<.001 Psychosoz. Stress
Schlußfolgerungen Soziale Gegenseitigkeit und soziales Vertrauen sind wichtige Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens und der Gesundheit Störungen sozialer Gegenseitigkeit und sozialen Vertrauens bewirken Stressbelastungen und gefährden die Gesundheit Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung und hohe berufliche Belastungen können solche Störungen verursachen Prävention kann auf verschiedenen Ebenen (individuell, interpersonell, strukturell) und durch verschiedene Berufsgruppen (Ärzte, Psychologen, Politik, Tarifpartner) erfolgen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit