Psychische Traumatisierung, akute Belastungsreaktion und Suizidalität. Epidemiologie und Bedeutung
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- Minna Meyer
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1 Fakultät Soziale Arbeit Wolfenbüttel AWO Psychiatriezentrum Königslutter Psychische Traumatisierung, akute Belastungsreaktion und Suizidalität Epidemiologie und Bedeutung Dr. med. Rainer Jung Ärztehaus Braunschweig Fortbildung am 09. September 2015
2 Zum Auftakt: Zwischen den Stühlen 8. Jahrgang, Nr. 6, 73498, Dezember
3 Zum Auftakt: Streit der Fachleute DNP Der Neurologe & Psychiater 2015; 16 (1) 3
4 Faszinosum des Trauma Themas Faszinosum Opferstatus: Christlich abendländisches Phänomen (?) Soziokultureller Wandel (?): Opfer haben Hochkultur (FAZ, 2002) Reduktion der komplexen Wirklichkeit auf Gut und Böse Aufmerksamkeit, Zuwendung, Mitleid, Entschädigung, Bewunderung Traumaopfer: Neue Identität und Gruppensolidarität Traumatherapie ist der Rolls Royce der Psychotherapie. Stoffels & Ernst (2002); Pross (2005); Rudolf (2012) 4
5 Problemfelder (1) Der Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird häufig und fälschlich als Synonym für psychische Belastungen aller Art verwendet. (2) Outcome: Belastungen traumatischen Ausmaßes führen nicht zwangsläufig zu einer Traumafolgeerkrankung. (3) Outcome: Der Schweregrad von Traumatisierungen korreliert nicht mit dem Schweregrad möglicher psychischer Folgesymptome. 5
6 Psychotrauma PTBS Konzeption: seit 1980 in DSM III, seit 1990 in ICD 10 Ursache Wirkungs Paradigma Ursache Trauma Kriterium: Externe Ereignis(se) im Sinne außergewöhnlicher psychischer Belastung mit katastrophalem Ausmaß (ICD 10) bzw. Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt (DSM IV R bzw. DSM 5) einschließlich Traumazeugenschaft Trauma Kriterium: In der Praxis nicht immer objektivierbar! Wirkung Symptomtrias: Intrusives Wiedererleben + Vermeidung + Hyperarousal (im Kindesalter tlw. andere Ausgestaltung); länger als ein Monat 6
7 Psychotrauma PTBS Konzeption: seit 1980 in DSM III, seit 1990 in ICD 10 Ursache Wirkungs Paradigma Ursache Trauma Kriterium: Externe Ereignis(se) im Sinne außergewöhnlicher Kontroverse Diskussionen: psychischer Es gibt unterschiedlich enge Belastung mit katastrophalem Ausmaß (ICD 10) bzw. Konfrontation oder weite Auslegungen! mit tatsächlichem oder drohendem Tod, Es ernsthafter gibt wenig Verletzung beachtete oder sexueller Gewalt (DSM IV R bzw. DSM 5) bzw. vergessene einschließlich Gruppen Traumazeugenschaft von Betroffenen! Trauma Kriterium: In der Praxis nicht immer objektivierbar! Wirkung Symptomtrias: Intrusives Wiedererleben + Vermeidung + Hyperarousal (im Kindesalter tlw. andere Ausgestaltung); länger als ein Monat 7
8 Grundlagen Outcome: Drei Kategorien Drittelregel : Selbsterholer Wechslergruppe Risikogruppe Cave: Vorsichtige Anwendung Erkenntnisse vorwiegend aus Untersuchungen von Großschadensereignissen Fischer et al. (1999); Bering (2005); Bering et al.(2003, 2007); Schedlich et al. (2008) 8
9 Grundlagen Kategorien von Traumafolgeerkrankungen (S3 Leitlinie PTBS, 2011): Unspezifische Störungen, bei denen traumatische Belastungen mitbedingend sein können, u. a.: Affektive Störungen (F 32, 33, 34) Angststörungen (F 40, 41) Substanzabhängigkeit (F 1) Somatoforme Störungen (F 45) 9
10 Grundlagen Traumafolgeerkrankungen, Fortsetzung: Spezifische Traumafolgeerkrankungen: Posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) Akute Belastungsreaktion (F 43.0) Anpassungsstörung (F 43.2) Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0) Dissoziative Störungsbilder bis hin zur MPS [bzw. DIS] (F 44) Somatoforme Schmerzstörung (F 45.4) Modifiziert nach S3 Leitlinie PTBS (AWMF Register Nr. 051/010) 10
11 Problemfelder (1) Es besteht ein Spannungsfeld zwischen zu viel und zu wenig bei der Diagnosestellung. (2) Es besteht ein Spannungsfeld zwischen zu viel und zu wenig bei der Konzeption therapeutischer Angebote. (3) Hintergründe? Die Patienten und Fachleute unterliegen mglw. komplexen individuellen und gesellschaftlich kollektiven Abwehrmechanismen. (4) Die Gutachter geraten mglw. zunehmend in gesellschaftliche und politische Spannungsfelder (z. B. Asylverfahren). (5) Wir benötigen als Fachleute aktualisiertes Fachwissen und kollegialen Austausch. 11
12 Extreme Ereignisse Extreme Reaktionen Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen von Himmel herab auf Sodom und Gomorra und kehrte die Städte um und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war. Und (Lots) Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule. 1. Buch Mose 19, Übersetzung nach M. Luther (ca. 1534) 12
13 150 Jahre Geschichte der Psychotraumatologie Wechselvolle Wege zwischen wissenschaftlicher Erforschung und gesellschaftlicher Tabuisierung Kontroverse Kernfragen: Handelt es sich um eine körperliche oder psychische Krankheit? Warum erkranken nicht alle Betroffenen? Benötigt die Manifestation einer Traumafolgestörung eine bestimmte prämorbide Konstitution? Handelt es sich um eine vorgetäuschte oder um eine wirkliche Erkrankung? 13
14 150 Jahre Geschichte der Psychotraumatologie Wechselvolle Wege zwischen wissenschaftlicher Erforschung und gesellschaftlicher Tabuisierung Beispiele: Kontroverse Kernfragen: Kriegszitterer (WK 1) Handelt es sich um eine körperliche Richtlinienpsychotherapie oder psychische Krankheit? (TP, PA) Warum erkranken nicht alle Betroffenen? Benötigt die Manifestation einer Traumafolgestörung eine bestimmte prämorbide Konstitution? Handelt es sich um eine vorgetäuschte oder um eine wirkliche Erkrankung? Beispiele: Rentenbegehren False Memory Debatte 14
15 Traumatische Reaktion: Bedingungen und Beziehungen Aktueller Wissensstand: Komplexes bio psycho soziales Geschehen Fischer & Riedesser (2003) 15
16 Psychotrauma: Kategorisierungen Kausalitätskriterium Zeitkriterium Cave: Typ 1 ist nicht harmloser als Typ 2! Maercker (2013) 16
17 Psychotrauma: Kategorisierungen Forschungsbereich Maercker (2013) 17
18 Psychotrauma: Kategorisierungen Kausalität unklar? Forschungsbereich Forschungsbereich z. B. Hinterbliebene unaufgeklärter Vermisstenereignisse Nervenarzt 2015; 86:
19 Epidemiologie (Übersicht) Besonders pathogene Traumata: Vergewaltigung (enge Definition, ohne sexuelle Belästigung) Misshandlungen und sexueller Missbrauch in der Kindheit Kriegsteilnahme (nicht nach Soldat oder Zivilist unterschieden) sowie Folter Man made Traumata wirken in der Regel schwerer als akzidentelle Traumata. Cave: Auch weniger pathogene Traumata können das Vollbild einer PTBS auslösen. z. B. Maercker (2013) 19
20 Epidemiologie (S3 Leitlinie PTBS, 2011) Die Häufigkeit der PTBS ist abhängig von der Art des Traumas: ca. 50 % Prävalenz nach Vergewaltigung ca. 50 % bei Kriegs, Vertreibungs und Folteropfern ca. 25 % Prävalenz nach anderen Gewaltverbrechen ca. 10 % bei Verkehrsunfallopfern ca. 10 % bei schweren Organerkrankungen (Herzinfarkt, Malignome) Lebenszeit Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung: 1 7 % (beachte Länderspezifität) Lebenszeit Prävalenz in Deutschland: 1,5 2 % Subsyndromale Störungsbilder: häufiger Chronifizierungsgefahr! S3 Leitlinie PTBS (AWMF Register Nr. 051/010) 20
21 Epidemiologie (Kessler et al., 1995) Studie in den USA n=5877 DSM III R Symptomkriterien Altersspanne: Jahre Lebenszeit Prävalenz für PTBS: 14,2 % Keine Altersstufendifferenzierung Starker Geschlechterunterschied: ~ : = 2 : 1 ArchGenPsychiatry 1995; 47:
22 Epidemiologie (Maercker et al., 2008) Studie in Deutschland n=2426 DSM IV Symptomkriterien Altersspanne: Jahre 1 Jahres Prävalenz für PTBS (alle): 2,3 % Jahre: 1,4 % Jahre: 1,9 % Jahre: 3,8 % Nervenarzt 2008; 79:
23 Epidemiologie (Glaesmer et al., 2015) Wesentliche Aussagen: Mehrfachtraumatisierungen (auch mit großen Latenzen) erhöhen das Risiko, signifikant zu erkranken. Traumatisierungen sind hoch heterogene Ereignisse mit der Konsequenz mangelnder Vergleichbarkeit. Art, Anzahl und Dauer traumatischer Erfahrungen müssen mehrdimensional differenziert werden. Nervenarzt 2015; 86:
24 Komorbiditäten PTBS besitzt hohe Komorbiditätsraten mit anderen Störungen: Angststörungen Depressionen Suizidalität Stoffgebundene Abhängigkeiten Somatisierungsstörungen Borderline und dissoziale Persönlichkeitsstörung Insb. Herz Kreislauf Erkrankungen und COPD Chronische Schmerzsyndrome Immunologische Erkrankungen und Neubildungen S3 Leitlinie PTBS (AWMF Register Nr. 051/010) 24
25 Komorbiditäten PTBS besitzt hohe Komorbiditätsraten mit anderen Störungen: Angststörungen Depressionen Suizidalität Stoffgebundene Abhängigkeiten Beachte insbesondere Somatisierungsstörungen Schuld, Scham und Ekel Affekte! Borderline und dissoziale Persönlichkeitsstörung Insb. Herz Kreislauf Erkrankungen und COPD Chronische Schmerzsyndrome Immunologische Erkrankungen und Neubildungen Schnittstelle Somatik! S3 Leitlinie PTBS (AWMF Register Nr. 051/010) 25
26 Fazit Wir benötigen: Gute Differenzialdiagnostik in der psychologischen und somatischen Medizin Interdisziplinäre Netzwerke Gespür für betroffene Randgruppen Mut zur Auseinandersetzung mit eigenen und kollektiven Blockaden Ausreichende Selbstfürsorge Oder allgemein: Traumasensibilität mit Augenmaß 26
27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
28 Literatur beim Verfasser
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