SWR2 Geistliche Musik

Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Geistliche Musik Europäische Avantgarde um 1400 Musik zum Konstanzer Konzil (4/4) Musik der russischen Fürstentümer (Konzert vom 2. Oktober 2016 in Konstanz) Sendung: Samstag, 28. Januar 2017, Uhr Von Anette Sidhu-Ingenhoff Redaktion: Bettina Winkler Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: Mitschnitte der vier Sendungen der Redaktion SWR2 Geistliche Musik (3x) und SWR2 MusikGlobal (1x) sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von jeweils 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/ Bestellungen per Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 2 Europäische Avantgarde um 1400, Sie hören Musik zum Konstanzer Konzil. Am Mikrofon ist Anette Sidhu-Ingenhoff. Mit Europäische Avantgarde um 1400, veranstaltet während des Konzilsjubiläums von von Konzilstadt Konstanz und SWR 2, wird versucht, die epochalen musikalischen Neuerungen, die das Konzil begünstigte, heute noch einmal lebendig werden zu lassen. In den letzten 14 Tagen konnten Sie aus der erfolgreiche Konzertreihe mit versierten Ensembles der Alten Musik sie fand im Oktober 2016 in Konstanz schon zum dritten Mal statt - Gesänge vom byzantinische Hof, osmanische Kunstmusik, und Kompositionen eines Stars der Zeit zu hören: von Guillaume Dufay. Heute Folge 4: es stehen Gesänge der russischen Fürstentümer auf dem Programm. Und wir beginnen mit Versen über das jüngste Gericht, eine volkstümliche Weise aus dem russischen Norden. Musik Vers über das Jüngste Gericht Vielleicht haben Sie das schon gehört oder erlebt: Sirin trat auf bei Chor Symposien in Lubljana und Rotterdam, bei Festivals wie Musica Sacra in Marktoberdorf und Maastricht, bei Musik Festivals in Frankreich, Belgien, England. Sein origineller Vortragsstil und seine exzellente Gesangskultur werden immer wieder hervorgehoben. Warum traten sie in Konstanz beim Konzilsjubiläum auf? Glaubt man der aus Wappen bestehenden Teilnehmerliste des Konzils von Ulrich Richental, so war auch der Herrscher der Tartarei eine mittelalterliche Bezeichnung der Mongolei und eine russische Delegation beim Konstanzer Konzil. Deshalb hatte das Festival Europäische Avantgarde um 1400 das mit orthodoxer Musikkultur nach Konstanz eingeladen. Mit der Befreiung der russischen Fürstentümer von den Tartaren entwickelte sich die russische Kunst und Kultur im 15. Jahrhundert. Neben der Ikonenmalerei blühte auch der Gesang im Gottesdienst auf und brachte neue Formen hervor. Sirin interpretiert solche Kompositionen aus dem frühen 15. Jahrhundert und singt außerdem Bauernweisen der volkstümlichen Pilgerbewegungen. Hier ein Vers zu Ehren des Hl. Theodor Tyron. Musik 2 Ein Vers zu Ehren des hl. Theodor Tyron 1 44 Herr, als Du auf das Kreuz gestiegen bist" 3 47 Das Ensemble für altrussische Musik Sirin wurde 1989 von Andrej Kotow gegründet mit dem Ziel, die alten orthodoxen Musiktraditionen früherer Jahrhunderte wieder aufleben zu lassen. Benannt wurde die Gruppe nach Sirin, einem Paradiesvogel

3 3 aus den russisch-christlichen Legenden. Die Berufsmusiker fühlen sich den frühen orthodoxen Gesangstraditionen verbunden, im Konzert tragen sie auch Gewänder, die den traditionellen russischen Trachten nachempfunden sind. In der Presse werden die vollendeten stimmlichen Fähigkeiten und die Professionalität des Chores immer wieder gelobt. Sehr unterschiedlich klingen die Gesänge, die sie darbieten, je nachdem, aus welcher der östlichen Kirchen sie herkommen. Kotov O- Ton 1 Razniza myte stilum meloj latinja.obrzewiz slowa. Der Gesangsstil richtet sich nach den verschiedenen Sprachen. Griechische Gesänge unterscheiden sich deshalb von denen in Latein, kirchenslawisch oder russisch, denn die Melodien orientieren sich am Sprachduktus. Hier ein Sanctus in griechisch und kirchenslawisch Hagios O theos und Swjati Bosche heißt es da. Musik Heiliger Gott Das interpretiert u.a. Liturgien der sog. Altgläubigen mit Gesangsweisen des Jahrhunderts. Ab etwa 1666 lösten sich religiöse Strömungen und Gruppen innerhalb der russisch-orthodoxen Tradition von der russischen-orthodoxen Großkirche ab. Der griechische Ritus hatte sich seit dem Mittelalter verändert, ebenso aber auch der russische. Daher entstanden Unterschiede zwischen Byzanz und den slawischen und russischen Kirchen in Musik und Liturgie, sogar in der Art und Weise, wie man das Kreuzzeichen ausführte. Patriarch Nikon versuchte ab 1652, Texte und Riten der russisch-orthodoxen Gottesdienste zu reformieren und einheitlicher zu gestalten. Die Altgläubigen aber wandten sich gegen seine Reformen und trennten sich schließlich völlig von der Großkirche. Trotz schwerster Verfolgungen behielten sie die ursprünglichen Gottesdienstformen bei. Im 17. Jahrhundert mussten die Altgläubigen aus Moskau fliehen, sie gingen z.t. an die entlegeneren Außenränder der russischen Fürstentümer, flohen auch ins Ausland. Heute gibt es Altgläubige Gemeinden in Tschetschenien, der Ukraine, in Kasachstan, in Sibirien und auch in Moskau, sie sind frei in ihrer Religionsausübung. Der Roman Die Vergessenen der Taiga von Wassili Peskow und die Oper Chowanschtschina von Modest Mussorgski widmen sich übrigens dieser Thematik. Hier sind solche Gesänge der Altgläubigen mit dem.

4 4 Musik 4 Der Herr hat seinen Engel gesandt 2 42 Vers der Altgläubigen zu Perm "Steh auf, Mensch" 2 44 Gesänge der Altgläubigen zu Perm. Den Einstudierungen des liegen Erkenntnisse von Musikwissenschaftlern und Philologen zugrunde. Es geht den Sängern um Musik und Prosa, die das orthodoxe Weltverständnis der russischen Bevölkerung in den Jahrhunderten bewahrt hat. Das Repertoire des Ensembles ist äußerst vielfältig: es umfasst den Znamennyj-Gesang aus dem 15. Jahrhundert, putjevoj- und demestvennyi- Gesänge, den frühen russischen Partesgesang, Kiewer und Bulgarische Liturgie sowie verschiedene Klostergesänge und frühe Formen der russischen Polyphonie. Was bedeuten die einzelnen Begriffe? Andrey Kotov: Znamennyj-Raspew der sog. Zeichen Gesang ist ein System, womit die Gesänge aufgezeichnet werden. Es beruht auf 8 Kirchentonarten und Grundmelodien. Das Prinzip dabei ist, dass diese Melodien und Tonarten der Reihe nach alle 8 Wochen im Gottesdienst immer wiederholt werden und von neuem auftauchen. Dabei ist die Melodiegestaltung im russischen Gesang aber ganz anders als im westlichen. Putjevoij Gesang ist melismatischer, also kleinteiliger. Es ist eine kompliziertere, abgewandelte Variante des Znamennyj-Raspew, ihm ist eine gewisse Strenge und zugleich Virtuosität eigen. Er wird an den hohen Festtagen z.b. an Weihnachten und Ostern in der Liturgie gesungen. Demestvennyi-Gesang kommt direkt aus Byzanz. Die Vorsänger der byzantinischen Liturgie kamen nach Russland, sie brachten besonders feierliche Melodien mit, die man dann ins kirchenslawisch übersetzte. So entstand das System der Demestvennyi-Gesänge. Auf der Grundlage dieser 3 Formen entfalteten sich im 15. Jahrhundert die ersten mehrstimmigen Kompositionen. Kommt wir verneigen uns ist ein solcher putjevoij, ein besonders feierlicher mehrstimmiger Gesang. Musik 5 Kommt wir verneigen uns 0 39 "Auf die Fußwaschung bereiten wir uns vor" 2 25 SWR 2 Geistliche Musik, heute mit dem Thema: Musik zum Konstanzer Konzil. Da wohl auch eine russische Delegation vor 600 Jahren in Konstanz beim Konzil war, hatte das Festival Europäische Avantgarde um1400 das aus Moskau eingeladen. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts, der Zeit um das Konstanzer Konzil, vollzog sich also nicht nur in Europa mit der beginnenden Renaissance ein echter Aufbruch. Auch

5 5 die russischen Fürstentümer befreiten sich vom fremden Joch der Tartaren. Die altrussische Ikonenmalerei erlebte einen Aufschwung, die Archivtektur erblühte ähnlich wie in Italien. Und auch die Musik der russischen Kirche konnte sich besser entwickeln. Man versteht sie besser, wenn man sich bewusst macht, dass die Gesänge der orthodoxen Liturgie eigentlich Engelsgesänge darstellen, die allem weltlichen abgewandt sind. So ist das musikalische System auf ganz anderen Prinzipien aufgebaut als im Westen. Es ignoriert vollkommen die Höhenlage und das Tempo der Töne als Attribute der sachlichen Welt. Konstruiert werden statt dessen melodische Linien, die sich zwar rhythmisch an der Sprache orientieren, bei denen aber die absolute Tonhöhe und die Harmonien weniger wichtig sind. Vielmehr soll das Hören des Gesangs zur Meditation und zur Loslösung von der Welt anregen, ähnlich wie das Betrachten einer Ikone. Mich interessierte im Gespräch mit dem Leiter Andrey Kotov: gibt es denn im 15. Jahrhundert schon schriftliche musikalische Quellen? Im 15. Jahrhundert gibt es bereits viele Handschriften mit Noten für den Znamenyj und den Demestennyj Gesang, etwa 4000 lagern in Moskauer Archiven. Putjevoij Gesänge wurden noch nicht aufgezeichnet, sie entstanden später. Es gibt Versuche, die Gesänge zu transkribieren, das ist die Grundlage für unsere Wieder-Aufführung. Volkslieder findet man dort allerdings nicht, sie kommen aus mündlicher Tradition. Musik 6 Lobpreisung 1 27 Buße öffne mir die Türen Strochnoij, Gesang, zweistimmig 6 06 Gepriesen bist du Herr Demestvennyj, Gesang 2 11 Lobpreisung, Buße öffne mir die Türen und Gepriesen bist du Herr. Die Herkunft dieser Gesänge aus den russischen Fürstentümern ist vielfältig. Mit der Durchsetzung des Altslawischen als Kirchensprache konnten sich regionale Besonderheiten ausformen. So entwickelte sich auch der Kiewer Gesang, oder auch spezielle Formen in bulgarischen Gemeinden. Im Konzert gab es auch verschiedene Klostergesänge und Beispiele für den frühen russischen Partes-Gesang, das ist ein homophoner Chorgesang ukrainisch-polnischer Herkunft. Welche Musik hören wir denn aus den russischen Klöstern? Und woher kommen diese Lieder? Wir bringen eine ganze Reihe von Gesänge aus der Klosterkultur. Die Lieder stammen aus deren Gottesdiensten. Aber die Unterscheidung der Herkunft ist schwierig. Man kann heute nicht mehr zuordnen, woher die Lieder kommen, in welchem Kloster sie zuerst aufgetreten sind.

6 6 Und gibt es im Konzertprogramm Lieder der religiösen Pilgerbewegung, also Pilgerlieder? Dieses Lied hier ist ein Pilgergesang. Die Pilger wanderten von Kloster zu Kloster. Sie nahmen die Lieder mit und veränderten sie im Lauf der Zeit. Im Lied bedanken sich die Pilger bei all denen, die sie auf ihrem Weg über das weite Land und durch die Klöster unterstützt haben. Musik 7 Danksagung für die Barmherzigkeit 1 59 Das mit einer Danksagung für die Barmherzigkeit, die den Pilgern entgegen gebracht wurde. Aus dem 15. Jahrhundert. Wir sahen: es gibt schriftliche Quellen zu diesen Gesängen, aber die Neumen, die Noten, geben nicht die genaue Tonhöhe an. Der Gesang wird von Meistern vorgetragen und von den Schülern gelernt. Die Tradition wird also überwiegend mündlich weiter gegeben. Darin ähnelt diese Musikkultur der des osmanischen Reiches, von der wir am Dienstag in Musikglobal mit dem Ayangil Ensemble hörten. Hier singt eine Art Sanctus - Heiliger Gott und Zeilen aus Psalm 148 Lobet den Herrn Sonne und Mond, lobt ihn, all ihr leuchtenden Sterne. Musik 8 Heiliger Gott 2 08 Lobet den Herrn im Himmel 2 41 Psalm Kompositionen in Form russischer Znamennyj-Gesänge mit dem Ensemble Sirin aus Moskau. Hören wir noch einen Gesang zu Weihnachten. Heute wird Christus geboren, ein dreistimmiger Putjevoij, also ein Gesang für die großen Feiertage. Musik 9 gekürzt auf 4 26 Heute wird Christus geboren dreistimmiger Putjevoj Gesang In SWR 2 Geistliche Musik hörten Sie: Europäische Avantgarde um 1400, Musik zum Konstanzer Konzil. Heute Folge 4: das mit Kompositionen der russischen Fürstentümer aus dem 15. Jahrhundert. Ein Konzert vom 2. Oktober 2016 in Konstanz. Auf unseren Internetseiten können Sie die vier Sendungen zum Thema noch eine Woche nachhören. Am Mikrofon war Anette Sidhu-Ingenhoff.