Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht
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- Bernhard Melsbach
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1 Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KES) St.Gallen, Elisabeth Frölich Edelmann Sozialarbeiterin FH Nachdiplom Dienstleistungsmanagement FH Leiterin Abteilung Familie und Sozialhilfe, Departement des Innern
2 Inhalt 1. Geschichte des Kindes- und Erwachsenenschutzes 2. Grundhaltungen des neuen KES 3. Organisation des KES im 4. Auswirkungen im Sozialwesen Seite 2
3 1. Geschichte des Kindes- und Erwachsenenschutzes 19. Jahrhundert: kantonale Gesetze Jahre 1907/1912: Vormundschaftsrecht im ZGB Jahr 1973: neues Adoptionsrecht Jahr 1978: neues Kindesrecht und Pflegekinderverordnung Jahr 1981: Fürsorgerische Freiheitsentziehung FFE Jahr 1993: Auftrag des Bundesamtes für Justiz an drei Experten Jahr 1999: Expertenkommission für Vorentwurf Jahr 2003: Vernehmlassung Vorentwurf (ZGB und Verfahrensrecht) Jahr 2006: Entwurf und Botschaft Jahr 2007/2008: parlamentarische Beratungen Jahr 2011/2012: kantonales Einführungsgesetz 1. Januar 2013: neues Recht tritt in Kraft Seite 3
4 Schutz von Kindern und Erwachsenen Einschränkung von Rechten - zum Schutz der Betroffenen Schutz vor welcher Gefährdung? Beispiel: Gesetz über das Vormundschaftswesen, 1834 «Bevogtung», wenn die «Besorgnis» besteht, «dass sie durch leichtsinnige Handlungen (Verschwendung) oder liederlichen Lebenswandel, für sich selbst oder ihre Familien einen künftigen Nothstand» herbeiführen werden. (Quelle: Helfen, Erziehen, Verwalten. Beiträge zur Geschichte der Sozialen Arbeit in St.Gallen. 2010) Welcher Schutz? Auch schlechte Entscheidungen wurden oft wohlmeinend getroffen. Seite 4
5 Dunkle Kapitel Verdingkinder Kinder der Landstrasse administrativ Versorgte Zwangssterilisationen Seite 5
6 Menschenrechte Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not geniessen, das höchste Streben des Menschen gilt, da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, (). (Aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, UNO-Resolution vom 10. Dezember 1948) Seite 6
7 Grundrechte Art. 36 BV Einschränkungen von Grundrechten 1 Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr. 2 Einschränkungen von Grundrechten müssen durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein. 3 Einschränkungen von Grundrechten müssen verhältnismässig sein. 4 Der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar Seite 7
8 Ziele der Revision Förderung des Selbstbestimmungsrechts Stärkung der Familiensolidarität Schutz von Urteilsunfähigen in stationären Einrichtungen massgeschneiderte Massnahmen Verstärkung des Rechtsschutzes bei der Fürsorgerischen Unterbringung Vermeidung von Stigmatisierungen wesentliche Verfahrensgrundsätze im Bundesrecht (Quelle: Botschaft zur Änderung des ZGB vom 28. Juni 2009) Seite 8
9 3. Grundhaltungen des neuen KES: Selbstbestimmung Soweit wie möglich wird auch die urteilsunfähige Person in die Entscheidfindung einbezogen (Vertretung bei medizinischen Massnahmen, Behandlungsplan, Art. 377 nzgb). Bei der Festlegung der von der Einrichtung zu erbringenden Leistungen werden die Wünsche der betroffenen Person so weit wie möglich berücksichtigt (Betreuungsvertrag, Art. 382 nzgb). Die behördlichen Massnahmen stellen das Wohl und den Schutz hilfsbedürftiger Personen sicher. Sie sollen die Selbstbestimmung der betroffenen Person so weit wie möglich erhalten (Art. 389 nzgb). Die Beiständin oder der Beistand erfüllt die Aufgaben im Interesse der betroffenen Person, nimmt soweit tunlich auf deren Meinung Rücksicht und achtet deren Willen, das Leben entsprechen ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten (Art. 406nZGB). Seite 9
10 Höchstpersönliche Rechte Für Urteilsunfähige handelt der rechtlicher Vertreter, sofern nicht ein Recht so eng mit der Persönlichkeit verbunden ist, dass jede Vertretung ausgeschlossen ist (Art. 19c Abs. 2 nzgb). Beispiel höchstpersönliche Rechte: Essen Sterilisation Eheschliessung Seite 10
11 Bedeutung der Familie, anderer nahestehenden Personen und Vertrauenspersonen Bei urteilsfähigen hilfsbedürftigen Personen werden keine Massnahmen angeordnet, wenn die Hilfe der Familie oder andern nahestehenden Personen ausreicht. Familienmitglieder oder nahestehende Personen übernehmen aufgrund eines Vorsorgeauftrags, einer Patientenverfügung oder Vertretungsrechten die Sorge für eine urteilsunfähige Person. Fürsorgerische Unterbringung FU: Jede Person, die in einer Einrichtung untergebracht wird, kann eine Vertrauensperson beiziehen. Seite 11
12 Schutz der Rechte von Urteilsunfähigen Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. (Art. 10 Abs. 2 BV) Voraussetzungen für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, das Vorgehen und die Aufsicht werden in Art. 383 ff nzgb geregelt. Massgeschneiderte Massnahmen Referat von Angela Marfurt Seite 12
13 3. Organisation und Verfahren Bundesrechtliche Vorgaben zur Organisation: Die KES-Behörde ist eine Fachbehörde Sie fällt Entscheidungen mit wenigstens drei Mitgliedern (Ausnahmen werden durch die Kantone bestimmt) Die Kantone bestimmen die Aufsichtsbehörden. Der Bundesrat kann Bestimmungen über die Aufsicht erlassen. Bundesrechtliche Vorgaben zum Verfahren: Verfahrensgrundsätze: Abklärung von Amtes wegen, nicht an Anträge gebunden (Art. 446 nzgb) Neu: Melderechte und -pflichten (Art. 443 nzgb) Neu: Verschwiegenheitspflicht und Regelung der Auskunftspflicht (keine Publikation mehr) (Art. 451 nzgb) Zusammenarbeitspflicht, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass eine hilfsbedürftige Person sich oder andere schädigt. Berechtigung für Personen, die dem Amts- oder Berufsgeheimnis unterstehen, Mitteilung zu erstatten (Art. 453 nzgb) Seite 13
14 Regelung durch die Kantone Trägerschaft, Zahl und Zusammensetzung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden KESB (Interdisziplinarität, Fachlichkeit und Unabhängigkeit) Festlegung ein- oder mehrstufige Aufsicht über KESB Regelung Entschädigung und Spesenersatz von Mandatsträgerinnen und -trägern Kompetenzen bei Fürsorgerischer Unterbringung FU, Regelung der Nachbetreuung Bezeichnung gerichtlicher Beschwerdeinstanzen gegen Entscheide der KESB und bei fürsorgerischer Unterbringung Verfahrensrecht Rückgriffsrecht auf KESB bei Staatshaftung Sicherstellung Aufsicht über Wohn- und Pflegeeinrichtungen Zuteilung Aufgaben Bewilligung und Aufsicht über Pflegefamilien und Tagesfamilien 14. November 2011 Seite 14
15 Trägerschaft der neuen St.Galler Behörden Zuständigkeit für KESB Gemeinden in interkommunaler Zusammenarbeit = Verwaltungsbehörden Trägerschaftsformen Sitzgemeindemodell (See-Linth, St.Gallen) Zweckverband (Sarganserland, Werdenberg, Rorschach) + selbständige öffentlich-rechtliche Kindes- und Erwachsenenschutzeinrichtung (Rheintal, Gossau, Wil- Uzwil, Toggenburg) Seite 15
16 Die neun KES-Regionen Wil-Uzwil Gossau St.Gallen Rorschach Rheintal Werdenberg Sarganserland See-Linth Toggenburg Seite 16
17 Umbau Schweiz: von ca. 1'420 VBs zu 148 KES-Behörden St.Gallen: von 77 VBs zu 9 KES-Behörden Statistik 2010 Anzahl bestehenden Massnahmen Erwachsenenschutz, Dossiers zu den KESB Anzahl bestehende Massnahmen Kindesschutz Dossiers zu den KESB SG: Anzahl Pflegefamilien, Dossiers zum 4'614 3' Nebenbemerkung: Alte Vormundschaftsakten bleiben in den Gemeindearchiven Seite 17
18 Aufsicht, Beschwerdeinstanzen, Kanton SG Gerichtliche Beschwerdeinstanzen Zweistufiger Instanzenzug bei Beschwerden gegen Behördenentscheide 1. Verwaltungsrekurskommission (neu; bisher Departement des Innern) 2. Kantonsgericht (wie bisher) Analog für Entscheide Ärztinnen/Ärzte bei Fürsorgerischer Unterbringung Administrative Aufsicht über Behörden Departement des Innern, Ziele der administrativen Aufsicht Sicherstellen des Funktionierens der KESB Qualitätssicherung Vereinheitlichung der Rechtsanwendung Unterstützung durch die Konferenz der Kantone im Kindes- und Erwachsenenschutz KOKES ( Seite 18
19 4. Auswirkungen Seite 19
20 Auswirkungen: Soziale Beziehungen Die Behörde ordnet eine Massnahme an, wenn die Unterstützung der hilfsbedürftigen Person durch die Familie, andere nahestehende Personen oder private oder öffentliche Dienste nicht ausreicht oder von vornherein als ungenügend erscheinen. Bedeutende Aufgaben verbleiben in den Gemeinden: Unterstützung der Vereine Förderung von Freiwilligenarbeit und Nachbarschaftshilfe gemeinwesenorientierte Sozialarbeit Integrationsförderung und Quartierarbeit Seniorennachmittage, Familientreffpunkte familienergänzende Betreuung Gestaltung und Belebung öffentlicher Raum, Treffpunkte familienfreundliche Gemeinde, kinderfreundliche Gemeinde usw. Seite 20
21 Auswirkungen: Private oder öffentliche Dienste These: Die Anzahl notwendiger Massnahmen hängt davon ab, wie das System der privaten oder öffentlichen Dienste (Beratungsangebote, Spitex usw.) ausgebaut ist. Mögliche Entwicklungen: 1. Es gibt weniger Massnahmen, weil die professionelle KESB das Subsidiaritätsprinzip stärker achtet. 2. Es gibt mehr Massnahmen, weil die professionellen KESB am besten mit schwierigen Situationen umgehen können. Seite 21
22 Auswirkungen: Sozialhilfe Die Sozial- und Vormundschaftsämter der Gemeinden bleiben Sozialämter und verantwortlich für die finanzielle Sozialhilfe: Professionalisierungsdruck zu hohe Komplexität des Systems der sozialen Sicherung für kleine Stellenpensen Regionalisierung? Missbrauchsverdacht und Schutz von persönlichen Rechten - Wo ist der «neue Geist»? Seite 22
23 Auswirkungen: Stationäre Einrichtungen Das neue Recht bietet Anlass, wichtige Fragen in der Beziehung von Heimen und Institutionen zu ihren Bewohnerinnen und Bewohnern neu zu justieren, zu thematisieren und anzuschauen. Dies wirkt sich aus auf die Qualität der Pflege, der Pädagogik, der Unterstützung. Aber ob die Diskussionen, die jetzt stattfinden, wirklich zu Verbesserungen führen in der Heimlandschaft, entscheidet sich auch an anderen Faktoren. (Peter Mösch Payot, Professor für Sozialrecht, HSLU, Zeitung Curaviva 9/12, Das neue Erwachsenenschutzrecht enthält ein grosses Potenzial zur Sicherstellung der Persönlichkeitsrechte auch in Alters- und Pflegeheimen. Man sollte aber nicht übersehen: Bei der konkreten Umsetzung stellen sich Fragen der personellen und finanziellen Ressourcen. (Christoph Schmid, Fachbereich Alter, Curaviva Schweiz, Zeitung Curaviva 9/12 Seite 23
24 Auswirkungen: Gesellschaft..und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen (aus der Präambel der Bundesverfassung) Wie gehen wir mit den Schwächeren um? Im Kulturellen und im Politischen, also in dem gesamten Bereich des öffentlichen Lebens, geht es weder um Erkenntnis noch um Wahrheit, sondern um Urteilen und Entscheiden, um das urteilende Begutachten und Bereden der gemeinsamen Welt und die Entscheidung darüber, wie sie weiterhin aussehen und auf welche Art und Weise in ihr gehandelt werden soll. (Hannah Arendt) Seite 24
25 Weitere Informationen Literatur: Hauss Gisela, Ziegler Beatrice (Hrsg.). Helfen, Erziehen, Verwalten. Beiträge zur Geschichte der Sozialen Arbeit in St.Gallen. Zürich 2010 Waltz Martin, Teske Irmgard, Martin Edi (Hrsg.). Menschenrechtsorientiert wahrnehmen beurteilen handeln. Luzern 2010 Praxishilfe: KOKES (Hrsg.). Praxisanleitung Erwachsenenschutzrecht. Zürich/St.Gallen 2012 Gesetze, Verordnungen, Empfehlungen, Links: (Erwachsenen- und Kindesschutz) Soziales : Seite 25
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