Ethische Aspekte bei Hygienemassnahmen

Transkript

1 Zürcher Hygienesymposium Ethische Aspekte bei Hygienemassnahmen «Ethik versus Isolationen» Andreas U. Gerber, Burgdorf

2 Eine Multiple-Choice-Frage In meiner Arbeit sehe ich mich mit einer emotional belasteten / belastenden Hygienesituation konfrontiert: 1. Mehrmals pro Tag 2. Mehrmals pro Woche 3. Mehrmals pro Monat 4. Häufiger als oben erfragt 5. Seltener als oben erfragt 6. Die Frage trifft für mich nicht zu augerber@bluewin.ch 2

3 Ziele und «Take Home Messages» Fakten Werte Moral Ethik

4 Ziele und «Take Home Messages» Fakten (Wahrscheinlichkeiten) inkl. das Können Werte (Be-Wertungen & Werthaltungen) Moral (Moralität) Ethik

5 Fallsituation: Hr. H.A., ein 84-jähriger Patient im Pflegeheim (1) Lebt seit 4 J im Pflegeheim, polymorbid aber mobil (Zweierzimmer) Periphere arterielle Verschlusskrankheit (wiederholt im Zentrumsspital stationär behandelt) Aktuell: Erneute Verlegung ins Zentrumsspital wegen therapierefraktärer Schmerzen li Unterschenkel, beginnende Gangrän > Unterschenkelamputation Schlechte Wundheilung > Abstrich: MRSA Rückverlegung ins Pflegeheim unter adäquater antibiotischer Therapie augerber@bluewin.ch 5

6 Fallsituation: Hr. H.A., ein 84-jähriger Patient im Pflegeheim (2) Verlegungsbericht / ärztliches Überweisungsschreiben im Wundabstrich wurden trotz adäquater antibiotischer Therapie wiederholt Methicillin resistente Staphylokokken nachgewiesen. Die entsprechenden Hygienemassnahmen (Kontaktisolation) sind somit auch im Pflegeheim strikt zu beachten. Fortführen der antibiotischen Therapie nach untenstehendem Schema augerber@bluewin.ch 6

7 Fallsituation: Hr. H.A., ein 84-jähriger Patient im Pflegeheim Definition des vorliegenden Problems Es handelt sich in erster Linie um ein Medizinisch-fachliches Problem Oekonomisches Problem Psychologisches Problem Moralisches Problem Ethisches Problem Rechtliches Problem anderes?

8 Fallsituation: Hr. H.A., ein 84-jähriger Patient im Pflegeheim Definition des vorliegenden Problems Es handelt sich in erster Linie um ein Medizinisch-fachliches Problem Oekonomisches Problem? Psychologisches Problem Moralisches Problem Ethisches Problem Rechtliches Problem anderes

9 Hygiene im Spital / Heim Permanente Bedrohung durch Krankheitserreger Personal (ÄrztInnen / Pflege) MitpatientInnen Spitalumgebung (inkl. Besucher) Kofaktoren: - Infektabwehr des Patienten - Lokale Prävalenz bestimmter Krankheitserreger - Interventionen, Hygienepraktiken und deren Qualität - «Antibiotic Stewardship» augerber@bluewin.ch 9

10 Wissenschafts-Theorie (1) Was können wir wissen? Wie können wir unsere Kenntnisse / unsere Gewissheit über das faktisch Vorliegende vergrössern? Induktives Vorgehen (Beobachtungsstudien über das natürlich Vorkommende) > so könnte es allgemein sein Deduktives Vorgehen (Theorie > Verifikation) Ablatives Vorgehen (0-Hypothese > Falsifikation) augerber@bluewin.ch 10

11 Ignaz Semmelweis ( ) 1846 Assistenzarzt im allg. Krankenhaus, Wien Letalität von Gebärenden 5-15 (-30)% 1947 Händedesinfektion mit Chlorkalk > Letalität von Gebärenden 12 > 2 > 1.3% 1849 Stellt Antrag auf Aufnahme in die Ärztegesellschaft (Widerstand!) 1851 Wird Leiter der Frauenheilkunde in Pest (Budapest) 1861 Veröffentlicht ein 500-seitiges Buch: «Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers» augerber@bluewin.ch 11

12 Ignaz Semmelweis ( ) 1861: «Ich trage in mir das Bewusstsein, dass seit dem Jahre 1847 Tausende und Tausende von Wöchnerinnen und Säuglingen gestorben sind, welche nicht gestorben wären, wenn ich nicht geschwiegen, sondern jedem Irrtum, welcher über Puerperal-Fieber verbreitet wurde, die nötige Zurechtweisung hätte Teil werden lassen [ ]. Das Morden muss aufhören.» Sollten Sie aber, Herr Hofrat, ohne meine Lehre widerlegt zu haben, fortfahren, Ihre Schüler und Schülerinnen in der Lehre des epidemischen Kindbettfiebers zu erziehen, so erkläre ich Sie vor Gott und der Welt für einen Mörder augerber@bluewin.ch 12

13 Der problematische Kurz-Schluss vom IST zum SOLLEN Definition des vorliegenden Problems Kenntnisse der Faktenlage sind nie absolut, Fakten sind immer nur Wahrscheinlichkeiten Fakten sind immer nur ein Teilwissen (kontextabhängig) Fakten werden subjektiv unterschiedlich wahrgenommen Wir Menschen handeln nicht (nur) auf der Basis von Fakten, Wissen und Können, sondern vor allem auf der Basis von Bewertungen & Werthaltungen (meinen zu wissen, was gut/schlecht ist) Werthaltungen sind persönlich und stark verankert (identitätsstiftend) Werthaltungen sind der Rationalität schlecht zugänglich

14 Der problematische Kurz-Schluss vom IST zum SOLLEN Definition des vorliegenden Problems Kenntnisse der Faktenlage sind nie absolut, Fakten sind immer nur Wahrscheinlichkeiten Fakten sind immer nur ein Teilwissen (kontextabhängig) Fakten werden subjektiv unterschiedlich wahrgenommen Wir Menschen handeln nicht (nur) auf der Basis von Fakten, Wissen und Können, sondern vor allem auf der Basis von Bewertungen & Werthaltungen (meinen zu wissen, was gut/schlecht ist) Werthaltungen sind persönlich und stark verankert (identitätsstiftend) Werthaltungen sind der Rationalität schlecht zugänglich

15 Joseph Lister ( ) Ab 1865: perioperative Antisepsis mit Phenol (basierend auf den Entdeckungen von Louis Pasteur ) perioperative Mortalität von ca. 50% > 15%. 1867: Sechs Publikationen in «The Lancet» 1868/69: Fünf Publikationen in «British Medical Journal»

16 Joseph Lister ( ) Ab 1865: perioperative Antisepsis mit Phenol (basierend auf den Entdeckungen von Louis Pasteur ) perioperative Mortalität von ca. 50% > 15%. 1867: Sechs Publikationen in «The Lancet» 1868/69: Fünf Publikationen in «British Medical Journal»

17 Hygiene im Spital / Heim: Was sollen wir (nicht) tun? Permanente Bedrohung durch Krankheitserreger Personal (ÄrztInnen / Pflege) MitpatientInnen Spitalumgebung (inkl. Besucher) Kofaktoren: - Infektabwehr des Patienten - Lokale Prävalenz bestimmter Krankheitserreger - Interventionen, Hygienepraktiken und deren Qualität - «Antibiotic Stewardship» augerber@bluewin.ch 17

18 Hygiene im Spital / Heim: Was sollen wir (nicht) tun? Permanente Bedrohung durch Krankheitserreger Normativer Rahmen Personal (ÄrztInnen / Pflege) MitpatientInnen Spitalumgebung (inkl. Besucher) Kofaktoren: - Infektabwehr des Patienten - Lokale Prävalenz bestimmter Krankheitserreger - Interventionen, Hygienepraktiken und deren Qualität - «Antibiotic Stewardship» augerber@bluewin.ch 18

19 Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012 (Stand am 1. Januar 2017)

20 Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012 (Stand am 1. Januar 2017)

21 Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012 (Stand am 1. Januar 2017)

22 Hygiene im Spital / Heim: Was sollen wir (nicht) tun? ethischer Rahmen Permanente Bedrohung durch Krankheitserreger Gesestzlicher Rahmen Personal (ÄrztInnen / Pflege) MitpatientInnen Spitalumgebung (inkl. Besucher) Kofaktoren: - Infektabwehr des Patienten - Lokale Prävalenz bestimmter Krankheitserreger - Interventionen, Hygienepraktiken und deren Qualität - «Antibiotic Stewardship» augerber@bluewin.ch 22

23 Wissenschafts-Theorie (2) Gibt es eine wissenschaftliche Basis für das Sollen? Prinzipienethisch Nicht Schaden zufügen Das «Gute» tun Den Willen des / der Betroffenen respektieren Gerecht handeln Konsequenzen des Handelns berücksichtigen Pragmatisch handeln (nach den Gegebenheiten der Situation und den Bedürfnissen der Betroffenen) Die Tugenden und Gesinnungen berücksichtigen Etc. z. B. >>>> Bereichsethiken augerber@bluewin.ch 23

24 Deliberates Entscheiden und Handel betr. Hygienemassnahmen Was wissen wir / was können wir und was nicht? Konkret: Um welche Krankheitserreger geht es? Welcher Art und wie hoch ist das Übertragungsrisiko? Welche Auswirkungen (Morbidität, Mortalität, etc) hat die Übertragung der betr. Krankheitserreger? Mit welchen Massnahmen können die Übertragung und deren Folgen vermindert werden? In welchem Ausmass? Mit welcher Wahrscheinlichkeit? Welche negativen Auswirkungen (Schadenspotenzial) haben die ins Auge gefassten Massnahmen? Schaden für wen? Mit welcher Wahrscheinlichkeit? Wie gross ist der effektive Gesamtnutzen diskontiert um den Gesamtschaden? Was sollen wir tun, was nicht? Um welche und wessen Werthaltungen soll es gehen? Welche impliziten Werthaltungen liegen vor und wie sollen wir mit diesen umgehen? Konkret: Wer soll von welchem Teilnutzen profitieren? Wer soll welche Teilschäden tragen? Wessen Abwehr- resp. Einforderungsrechte sollen für welche Massnahmen Priorität haben? Wie soll die Güterabwägung erfolgen und nach welchen Kriterien? Wie sollen unterschiedliche Werte gewichtet werden? Wie sollen wir die unterschiedlichen Werthaltungen hierarchisieren? Hält die Entscheidung ceteris paribus einer Verallgemeinerung stand? augerber@bluewin.ch 24

25 Take Home Messages: Jedes Entscheiden und Handeln basiert auf zwei kategorial unterschiedlichen Säulen Fakten (Wahrscheinlichkeiten) inkl. Können Werten (Be-Wertungen & Werthaltungen) Moral (Moralität) Ethik ist die Wissenschaft der Be-Wertungen und der moralischen Werthaltungen und damit des Sollens und des (guten) Handelns

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