Exakte Differentialgleichungen
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- Gerrit Berger
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1 Kapitel 4 Exakte Differentialgleichungen 4.1 Kurvenscharen Sei D R 2 ein offenes und zusammenhängendes Gebiet. Dann kann man zu jeder D einfach überdeckenden Kurvenschar eine Differentialgleichung erster Ordnung der Art finden, dass die Kurven dieser Schar die Lösungskurvender ODE repräsentieren. Dazu wählenwir z.b. als rechte Seite der Gleichung die Ableitungsfunktion einer Kurve der Schar. Beispiel 1. Betrachte die Kurvenschar x 2 + y 2 = r 2 mit positivem r R. Ausserhalb von ( r, 0) und (r, 0) können wir die Kurven in der Form y = y(x) darstellen. Differenzieren bringt yy + x = 0 bzw. y = x y. Ist ferner t T ein regulärer Kurvenparameter für die geschlossene Kurve x 2 + y 2 = r 2, so dass stets gilt ẋ 2 + ẏ 2 > 0, wobei der oben geschriebene Punkt die Ableitung bez. t kennzeichnet, d.h. gilt so erhalten wir nach Differenzieren bez. t x(t) 2 + y(t) 2 = r 2, xẋ + yẏ = 0. Das ist nun eine zweite differentielle Darstellung ein und derselben Kurve (zumindest eines Kurvenabschnitts). Mit anderen Worten: Wir wollen unsere Sichtweise für Differentialgleichungenerweitern und betrachten zur Beschreibung einer Kurvenschar Gleichungen der Gestalt bzw. einfach g(x, y) + h(x, y)y = 0 bez. der Darstellung y = y(x) g(x, y)ẋ + h(x, y)ẏ = 0 bez. der Darstellung x = x(t), y = y(t) mit auf dem Gebiet D stetigen (später auch stetig differenzierbaren) Funktionen g und h sowie unter Benutzung der Differentialformen dx und dy (Pfaffsche Formen), welche nach Festlegung der funktionellen Abhängigkeiten von x und y wie folgt wirken: Ist y = y(x), dann erhalten wir die erstgenannte Darstellung g(x, y) + h(x, y)y = 0; sind x = x(t), y = y(t) mit einem regulären Kurvenparameter t, so erhalten wir die zweitgenannte Darstellung g(x, y)ẋ + h(x, y)ẏ = 0. Falls möglich, können wir auch x = x(y) in die Gleichung einsetzen! Differentialformen sind wesentlicher Inhalt des zweiten Teils dieser Vorlesung. 15
2 16 KAPITEL 4. EXAKTE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 4.2 Stammfunktionen Definition 1. Die ODE in Differentialform heißt in D exakt, falls (g, h) ein Gradientenfeld ist, d.h. falls es ein F C 1 (D, R) gibt mit F x (x, y) = g(x, y), F y (x, y) = h(x, y) in D. Die Funktion F heißt dann Stammfunktion der ODE mit dem Gradientenfeld (g, h). Das Differential df vonf berechnet sichsymbolischzu df = F x dx + F y dy, so dass sich im Falle, dass F Stammfunktion zu obiger ODE ist, ergibt df = g dx + h dy = 0. Ein wesentlicher Schritt, eine Differentialgleichung zu lösen, ist das Finden einer Stammfunktion. Einen Zusammenhang zwischen den einzelnen differentiellen Darstellungen gibt der Satz 1. Seien g, h C 0 (D, R). Ist die ODE in Differentialform in D exakt mit einer Stammfunktion F C 1 (D, R), so ist (x(t), y(t)) C 1 (T) mit Bildwerten in D genau dann eine Lösung der parametrischen ODE g(x, y)ẋ + h(x, y)ẏ = 0 in T mit regulärem Parameter t T, d.h. ẋ 2 + ẏ 2 > 0 in T, falls gilt F(x(t), y(t)) = const in T. Ebenso ist y(x) eine Lösung, wenn F(x, y(x)) = const in I. Gilt außerdem g 2 + h 2 > 0 in D, so erhält man durch Auflösen von F(x, y) = α alle Lösungskurven von g + hy = 0 im Falle y = y(x) bzw. gx + h = 0, falls x = x(y), und durch jeden Punkt von D geht genau eine solche Lösungskurve. Beweis. (Walter [2], Kapitel I, 3, Abschnitt II) 1. Wir beginnen mit gẋ + hẏ = F x ẋ + F y ẏ = d F(x(t), y(t)). dt Das Funktionenpaar (x(t), y(t)) ist also genau dann Lösung von gẋ+hẏ = 0, falls F(x(t), y(t)) = const. Die weitere Behauptung verbleibt als Übung. 2. Für den zweiten Teil des Satzes benötigen wir den Satz über implizite Funktionen. Ist (ξ, ) D mit F(ξ, ) = α, so lässt sich F(x, y) = α in einer Umgebung U des Punktes (ξ, ) nach x oder y auflösen, da wegen F x = g und F y = h sowie der Voraussetzung g 2 + h 2 > 0 auch F x 0 oder F y 0 folgen. Ist etwa F y (ξ, ) 0, so existiert also eine Umgebung U, in welcher F(x, y) = α eindeutig nach y = y(x) aufgelöst werden kann. Anschließende Differentiation von F(x, y) = α liefert g + hy = 0.
3 4.3. INTEGRABILITÄTSBEDINGUNGEN Integrabilitätsbedingungen Gibt es ein Kriterium, um zu entscheiden, wann eine ODE exakt ist? Der folgende Satz verlangt zwar mehr Voraussetzungen an die Regularität der Funktionen g und h, insbesondere auch an den topologischen Zusammenhang von D, gibt uns aber ein handliches Kriterium. Satz 2. Sei D offen und einfach zusammenhängend. Sind nun g, h C 1 (D, R), so existiert eine Stammfunktion F C 2 (D, R) mit genau dann, wenn die Integrabilitätsbedingung in D erfüllt ist. Beweis. (Sauvigny [1], Kapitel VI, 3) Seien (ξ, ) D sowie ein Rechteck F x (x, y) = g(x, y), F y (x, y) = h(x, y) in D g y (x, y) = h x (x, y) R := { (x, y) D : x (ξ α, ξ + α), y ( β, + β) } D mit Seitenlängen 2α und 2β gewählt. Wir zeigen die Integrabilitätsbedingung in R; um die Behauptung auf allgemeineren Gebieten zu zeigen, müssen wir vonder Theorie der Pfadintegrale Gebrauchmachen. Da wir aber Differentialgleichungen nur lokal integrieren, genügt uns auch ein Rechteck. 1. Die ODE sei exakt in R. Dann gibt es ein F C 2 (R, R) mit F x = g und F y = h in R. Es folgt F yx = h x, F xy = g y, und da F xy = F yx nach einem Satz von Schwartz gelten muss, folgt h x = g y. 2. Sei nun g y = h x in R. Setze Differentiation liefert F(x, y) := x ξ g(t, )dt + F x = g(x, ) + d dx h(x, t)dt, (x, y) R. h(x, t)dt. Die rechtsstehende Ableitung berechnen wir wie folgt: Zunächst ist d dx 1 y { } h(x, t)dt = lim h(x + ε, t) h(x, t) dt. ε 0 ε Nach dem Mittelwertsatz gibt es dann für jedes t [, y] ein ε t [0, ε] mit d dx 1 h(x, t)dt = lim ε 0 ε h x (x + ε t, t)ε dt = lim ε 0 h x (x + ε t, t)dt = Damit kommen wir auf F x zurück: Die Integrabilitätsbedingung liefert nun F x = g(x, ) + h x (x, t)dt = g(x, ) + h x (x, t)dt. g y (x, t)dt = g(x, ) + { g(x, y) g(x, ) } = g(x, y). Entsprechend zeigt man F y = h in R, und (g, h) ist ein Gradientenfeld mit Stammfunktion F.
4 18 KAPITEL 4. EXAKTE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN 4.4 Praktische Bestimmung einer Stammfunktion Ausgehend von einer exakten ODE in Differentialform wollen wir zwei praktische Anleitungen zum Bestimmen einer Stammfunktion kennen lernen. Gesucht ist also ein F(x, y) mit F x = g und F y = h, wobei g(x, y) und h(x, y) gegeben sind. 1. Eventuellkann manaus der speziellengleichung einen Koeffizientenelementarintegrieren, z.b. g(x, y) nach x. Die Resultierende besitzt dann eine Funktion ϕ(y) als Integrationskonstante, welche sich im besten Fall bestimmen lässt nach Einsetzen in die noch auszuwertende Bedingung F y = h. 2. Eine Stammfunktion lässt sich aber nach vorigem Beweis auch als Wegintegral berechnen: Dort hatten wir nämlich ein F(x, y) in Abhängigkeit vom Feld explizit angegeben. Allgemeiner gilt (warum?) F(x, y) = (x,y) { } g(s, t)ds + h(s, t)dt. (ξ,) Unter Umständen ist dieser zweite Weg einfacher zu realisieren, da man die Freiheit besitzt, den Integrationsweg geeignet zu wählen. 4.5 Die Eulersche Multiplikatorregel Die Gleichung y dx + 2xdy = 0, d.h. g = y, h = 2x, 1 ist nicht exakt wegen g y = 1 2 = h x, aber nach Multiplikation mit x (unter der Voraussetzung x 0) wird die Resultierende y dx + 2 x dy = 0 x eine exakte ODE mit Stammfunktion F = 2y x! Multiplikation mit y würde ebenfalls eine exakte ODE in Differentialform liefern, jetzt mit Stammfunktion F = xy 2. Definition 2. Seien g und h stetig. Es heißt M(x, y) 0 ein integrierender Faktor bzw. Eulerscher Multiplikator der ODE in Differentialform falls die Gleichung exakt in D ist. in D, M(x, y)g(x, y)dx + M(x, y)h(x, y)dy = 0 Wie den Satz im vorigen Paragraphen zeigt man auch hier Satz 3. Sei D offen und einfach zusammenhängend, und seien g, h C 1 (D, R). Dann ist M(x, y) ein integrierender Faktor genau dann, wenn (Mg) y = (Mh) x bzw. M y g + Mg y = M x h + Mh x. Das Finden eines integrierendenfaktors bedeutet also i.a., eine partielle Differentialgleichung zu lösen! Das ist in der Regelsehr schwierig. Hängt aber M beispielsweise nur vonx ab (oder nur von y), so lässt sich die Identität aus dem Satz auf folgende Regel kürzen: 0 + Mg y = M h + Mh x mit M := M x, also (lnm) = M M = g y h x h Beachte: Die rechte Seite darf nur von x abhängen! Diese Gleichung ist eventuell leichter zu lösen..
5 4.6. EXISTENZ DES EULERSCHEN MULTIPLIKATORS Existenz des Eulerschen Multiplikators Wir schließen unsere Untersuchungen über exakte Differentialgleichungen ab mit folgendem allgemeinen Existenzsatz. Satz 4. (Sauvigny [1], Kapitel VI, 6, Satz 3) Auf einer Umgebung U R 2 des Punktes (x 0, y 0 ) R 2 seien p, q C 2 (U, R) mit p(x, y) 2 + q(x, y) 2 > 0 auf U vorgelegt. Dann gibt es eine Umgebung V U von (x 0, y 0 ), eine Stammfunktion F C 2 (V, R) der ODE p(x, y)dx + q(x, y)dy = 0 sowie einen integrierenden Faktor M C 1 (V, R), so dass gelten F x (x, y) = M(x, y)p(x, y), F y (x, y) = M(x, y)q(x, y) in V. D.h. Mp dx + Mq dy = 0 ist in V eine exakte Differentialgleichung. Für einen detaillierten Beweis, welcher Resultate über parameterabhängige Differentialgleichungen benötigt, verweisen wir auf die angegebene Literatur.
6 20 KAPITEL 4. EXAKTE DIFFERENTIALGLEICHUNGEN
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