Emotions- und Stressregulation aus der Perspektive des Gehirns Uwe Herwig Psychiatrisches Zentrum Appenzell Ausserrhoden Psychiatrische Universitätsklinik Zürich 19. Oktober 2016
Stress
Stress Repräsentative Befragung in der Schweiz zu Stress und Gesundheit 82.6% der Antwortenden fühlen sich gestresst 70% sagten, sie können mit Stress umgehen und fühlen sich gesund 12.6% können dies nicht und haben dadurch gesundheitliche Probleme - nehmen Medikamente - nehmen medizinische Dienste in Anspruch - reduzieren berufliche und private Aktivitäten Bundesamt für Wirtschaft (SECO), 2000
Stress Cannon 1914, Selye 1936: Unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Anforderung
Evolution und Stress-Adaptation - Entwicklung der Organismen unter komplexen Umweltanforderungen - Ausformung von physiologischen Anpassungs- und Überlebensstrategien Miller, 2009 Miller, 2009 : Gilbert, 2006
Moderne Stressfaktoren Mensch nach evolutionären Zeitmassstäben für Steppe oder Wald geschaffen In letzten 200 Jahren rasante zivilisatorische Entwicklung Organismus braucht Zeit sich anzupassen Zivile Stressfaktoren: Gleichzeitige Populationsdichte und Einsamkeit Erhöhte Mobilitätsanforderungen bei geringerer körperlicher Bewegung Informationsüberlastung Komplexe berufliche und familiäre Belastungen Lärm
Stress am Arbeitsplatz Unklare Ziele Unzureichende Information Überschwemmung mit Aufgaben ohne eigene Prioritäten setzen zu können Zeitdruck und Deadlines Fehlende Anerkennung Fehlende Rückmeldung Fehlender Austausch mit anderen Unvorhersehbare Änderungen der Arbeitssituation ohne Einverständnis und Vorbereitung Fehlendes Verständnis von Vorgesetzten und Kollegen für Probleme
Stress zu Hause Auflösung traditioneller Rollenkonzepte Doppelbelastung (Arbeit und Familie) Pflege kranker Angehöriger Auflösung familiärer Bindungen (Trennungen) Raummangel Finanzielle Sorgen
Psychosozialer Stress Dauerhafte emotionale Belastung mit ständiger Beanspruchung und Veränderung der Emotionssysteme, z. B. in Belohnungssystem und präfrontalen Kontrollregionen. Morgan et al. 2002
Stress physiologische Folgen
Stress-System Evolution Evolution von der Ursuppe bis zur Grossstadt - Entwicklung eines komplexen hierarchischen Selbstregulationssystems - Ziel: Aufrechterhaltung der Homöostase - Bereitstellung von Energie bei Bedrohungen - Abruf von Fight, Flight, Fright Verhalten - Anschliessend Erschöpfung und Erholung
Individuelle Entwicklung Emotionale Prägung Gehirn entwickelt sich auch anhand emotionaler Erfahrung: Bedeutung bleibt Vulnerabilität für psychische Erkrankungen wie z. B. Depression Geburt 6 Jahre 14 Jahre
Strukturelle Anpassungen bei Stress ACC Braun et al. 2003 Erhöhte Dendritenanzahl im anterioren Cingulum (und Verhaltensauffälligkeiten) bei sozial deprivierten Strauchratten, keine Veränderungen im somatosensorischen Kortex (Braun et al. 2003)
Zentralnervöse Informationsverarbeitung Aus: Gazzaniga 1998
Erfahrungsgeprägte Informationsverarbeitung Adelson/MIT
Stress-System Hypothalamus- Hypophysen- Nebennierenrinden- (HHN-) Achse Hypothalamus Stressreaktion - Hemmende Rückmeldung über Glucocorticoide Regulation über die Amygdala - Aktivierung und Inhibition Hypophyse Nebennierenrinde Nestler et al. 2002
Stress - Adaptation Aktuelle Stresssituationen Akutreaktionen Ausformung und Anpassung des Systems Gazzaniga et al 1998
Emotionale Informationsverarbeitung Pessoa 2008, Tamietto et al. 2011
Stress: Amygdala übernimmt Arnstein et al. 2009 Akuter und chronischer Stress führen zur Übernahme der Regie Morgan et al. 2002 durch die Mandelkerne und zur Schwächung präfrontaler Kontrolle.
Stress: Amygdala übernimmt Arnstein et al. 2009 Sandi et al. 2015 Amygdala zentrale Rolle in Emotionsverarbeitung und Bahnung Verhalten Morgan et al. 2002
Emotions- und Selbstregulation Evolutionär verschiedene hierarchische Ebenen Von basal unbewusst Protoselbst über bewusst werdend Kernselbst bis aktiv und langfristig gesteuert autobiographisches Selbst Diskrepanz-Signal Soll/Ist aktiviert nächste Ebene Höhere Ebenen können niedrigere kontrollieren
Emotionale Informationsverarbeitung Erwartung und Präsentation emotionaler Stimuli Evolutionär sinnvoll, das Schlimme zu erwarten und sich vorzubereiten «Pessimismus» Element der «kognitiven Triade» der Depression
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beta Emotionale Informationsverarbeitung Pessimistische Voreinstellung IFG 0,5% signal change IFG R 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 r=0.53 0 Herwig et al., 2007 0,2 0 Expect. Present. Scan 1-4 Scan 5-8 - 0,2 20 30 40 50 SDS
bei depressiven Patienten Dorsolateraler präfrontaler Cortex (DLPFC) Pessimistische Voreinstellung DLPFC L depressiv 0,5 % signal change 0 Expect. Present. Gruppenvergleich depressiv / gesund Exp Ng p=0.03 Exp Uk p=0.002 (Herwig et al., 2010
Amygdala und Emotionen Mandelkern-Aktivierung bei emotionalen Reizen 0.5 % signal change 0 Expect. Present.
Stress Was tun?
Vier Arten der Stressbewältigung Burrisch, 1994
Stress- und Emotionsregulation Änderungs-/Anpassungsstrategien auf Organisationsebene auf individueller Ebene aller Anfang: kühlen Kopf bewahren Überblick verschaffen eigene Ziele und Prioritäten formulieren Zeitmanagement Planen Physiologisches und psychosoziales Gleichgewicht beachten Schlaf, Bewegung, Nahrung Familie, Freunde, Freizeit, Arbeit
Stress und Emotionen Regulationsstrategien Über sich ergehen lassen Ablenken Unterdrücken der Emotion Neueinschätzung einer Situation Achtsames Wahrnehmen der Situation Änderung der Selbsteinstellung
Emotionsregulation Ein Experiment... Als nächstes wird ein unangenehmes Bild gezeigt. Bitte bewerten Sie auf einer Skala von 1-10, wie unangenehm Sie das Bild empfunden haben.
Beschreiben Sie für sich das nächste Bild und stellen Sie sich zum Beispiel vor, es könne sich um ein anatomisches Präparat handeln. Bewerten Sie wieder auf einer Skala von 1 bis 10, wie unangenehm Sie das Bild empfinden.
Versuchen Sie beim nächsten Bild, jede emotionale Reaktion (Gesicht verziehen usw.) zu unterdrücken. Bewerten Sie wieder auf einer Skala von 1 bis 10, wie unangenehm Sie das Bild empfinden.
Welches Bild bekam die höchste Punktzahl?
Emotionsregulation Strategien Unterdrücken der Emotion verändert nur emotionalen Ausdruck, nicht Emotion, Physiologie verstärkt Deskriptive Wahrnehmung und ggf. Neubewertung einer Situation entspannt gesamte emotionale Antwort Element kognitiver Verhaltenstherapie am wirkungsvollsten für Angstreduktion Goldin et al. 2008
Kognitive Emotionsregulation Kognitive Kontrolle / ohne Kontrolle während negativer und «unbekannter» Erwartung Neueinschätzung der Situation reality check
Regulation der Mandelkern Aktivität MPFC 0.5 % Signaländerung MPFC Kognitive Kontrolle Keine Kontrolle Amygdala 0 0.5 % Amygdala L Kognitive Kontrolle Expect. Present. Scan 1-4 Scan 5-8. Keine Kontrolle 0 Expect. Present. Scan 1-4 Scan 5-8
Kognitive Kontrolle bei Patienten mit sozialer Angststörung Amygdala R 0.5 % signal change No control Cognitive control Brühl et al.,2012 Inhibition der Amygdala auch bei SAD
Wenn uns etwas Äußeres belastet, erfolgt die Belastung nicht durch dieses direkt, sondern durch unsere Einschätzung desselben; und diese zu ändern, haben wir jederzeit die Macht. nach Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8. Buch, Absatz 47
Emotionsregulation bei Depressionen Kupfer et al. 2012
Neurobiologischer Wirkmechanismus Psychotherapie versus Medikation Hypothese für Wirkweise Psychotherapie Castren 2005 DeRubeis et al., 2008
Emotionsregulation Vorhersage Therapieerfolg Depression: Hohe DLPFC Aktivität rechts bei Emotionsregulation geht mit besserem 6-Monatsverlauf einher Heller et al. 2013
Therapie-Monitoring Psychotherapie Depression: Normalisierung Amygdala-Aktivität auf negative selbst-bezogene Worte nach Psychotherapie (kognitiv-verhaltenstherapeutisch 12 Wochen) aus: DeRubeis 2008
Emotionale Modulation bei Achtsamkeit und Selbstreflektion Emotionale Introspektion (Achtsamkeit) vs. Kognitive Selbstreflexion vs. Neutral
Eigene Gefühle be(ob)achten Amygdala Amygdala Emotionale Introspektion verminderte Amygdala-Aktivität 0.2 % signal change think neutral feel Wenn ich mich über etwas aufrege und schaue, wie es sich anfühlt, rege ich mich schon wieder ab. Bewusstmachung entlastet tiefere Signalebene ( Wecker ausstellen ). Herwig et al. 2010b
Achtsamkeit bei depressiven Patienten Amy li 0.2 % Signalveränderung 0 Achtsamkeitsintervention Reduktion der Amygdala-Aktivität durch Achtsamkeitsintervention ( feel ) in Analyse der Amygdala-ROI auch gegenüber think p<0.001, neutral p<0.03 und baseline p<0.00004 (Herwig et al., under review)
Die [Selbst-]Vergegenwärtigung während der [achtsamen] Meditation kann zu klarem Erkennen und Verstehen führen. Gleichzeitig führt diese Vergegenwärtigung zu einem gesunden Grad an innerer Loslösung, da der Akt, seine Stimmungen und Gefühle zu beachten, die Identifikation mit diesen verringert. Frei nach Analayo, Satipatthana, aus Creswell et al. 2007
Emotionsregulation durch Selbst-Bewertung Kognitive positive und negative Selbstbewertung
Emotionsregulation durch Selbst-Bewertung 0.5% Signalveränderung Selbstbewertung Wahrnehmung eigenes Bild Positive Selbstbewertung führt zu Amygdala-Aktivierung - Induktion positiver Gefühle Strategie der Selbsteinstellung vor Herausforderungen (Roth et al. 2013)
Emotionsregulation - Mechanismen Situation / Emotionaler Stimulus Aspekte Bedeutungen Emotionale Antwort Auswahl Modifikation Aufmerksamkeitssteuerung z.b. Ablenkung Kognitive Veränderung Antwort- Modulation Achtsamkeit Antecedent-focused Voreinstellung zu Selbst und Umwelt Reappraisal Suppression Response-focused
Emotions- und Selbstregulation
Initiation selbst-referentieller Hirnaktivität Initiative Steuerung mentaler, z.b. selbst-referentieller Aktivität Meta-Analyse von Studien bzw. Bedingungen mit initiativer selbst-referentieller mentaler Aktivität (Draeger et al., in preparation) Gemeinsame Schnittstelle DMPFC
Selbststeuerung Regelkreis Soll-Wert: Soll-Selbst, Selbstkonzept, Ziele Ist-Wert: Ist-Selbst, aktuelle Situation Störgrösse: Psychosoziale Krisen, Erkrankungen Messfühler: Selbsteinschätzung, Sensorik, Rezeptoren Regler: Verhalten, Einstellung des inneren Milieus
Selbststeuerung Regie über eigene Hirnaktivität Mentale Steuerung zentralnervöser Informationsverarbeitung Kognitionen Gedächtnis Perzeption Emotionen Körpersteuerung Verhaltensroutinen Antrieb Drevets et al. 2001
Neurobiologisch geleitete psychotherapeutische Interventionen Psychotherapeutische Interventionen zur Modifikation pathophysiologischer Hirnaktivität Mentale Steuerung auf Basis systemischneurowissenschaftlicher Befunde Training der Interventionen «Wie einen Muskel mit Physiotherapie»
Emotionsregulation per fmrt- Neurofeedback Echtzeit-Rückmeldung der Hirnaktivität zum Training von Regulationsstrategien (decharms 2008, Caria et al. 2010)
Emotionsregulation per fmrt- Neurofeedback Fig. 1a: Feedback task, the pictures were randomized changing Fig. 1b: Example of feedback of decreasing amygdala activity
beta Emotionsregulation per fmrt- Neurofeedback Pilotstudie n=26, 15 Feedback, 11 Kontrollen, je 4 Trainingssessions (Herwig et al., in preparation) 0.5 Feedback-group Control-group reg1 view1 reg1-view1 0.3 0.1-0.1-0.3 S1 S2 S3 S4 S1 S2 S3 S4
Ausblick Neurowissenschaftliche Grundlagen der Stress-, Emotions-, Selbstregulation Neurobiologische Marker bei Affektiven Störungen Therapieresponse-Prädiktion und Therapieerfolgs-Monitoring neurobiologisch begründete/unterstützte Psychotherapie
Ausblick Zunehmende Kompetenz in der Selbstregie der eigenen Hirnaktivität und das Selbst Entwurf psychotherapeutischer Behandlungsmodule - geleitet von neuro-systemischen Befunden - zur gezielten Beeinflussung beeinträchtigter zentralnervöser Informationsverarbeitung
Zusammenfassung Stressreaktion evolutionär sinnvoll hochkomplexes ausgereiftes System Gene und frühkindliche Umwelt formen individuelles Stresssystem Hierarchische und rekurrente Struktur: Physiologie Emotionen Kognitionen Gedanken und Emotionen psychotherapeutisch / mental selbst steuern z.b. Emotionsregulation mittels reality check und Achtsamkeit Amygdala-Regulation per Neurofeedback
Zusammenfassung Kognitive Kontrolle: kühlen Kopf Überblick Gleichgewicht bewahren: ursprünglicher Sinn der Stressreaktion und nicht vergessen: Erholung
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