Ursula Böing. Professionalisierung. Begriffsbestimmung

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Transkript:

Ursula Böing Professionalisierung Begriffsbestimmung Der Begriff der Professionalisierung steht etymologisch in enger Beziehung mit den Termini Profession und Professionalität. Alle drei Bezeichnungen sind durch den gemeinsamen Kontext der Beruflichkeit (lat. professio, Gewerbe, Beruf) miteinander verbunden. Sie beziehen sich jedoch auf unterschiedliche soziale Ebenen, auf verschiedene Prozesse und Zustandsbeschreibungen, weshalb eine differentialtheoretische Betrachtung notwendig erscheint (vgl. Dlugosch 2009, 252). Aus professionstheoretischer, soziologischer Perspektive beschreibt der Begriff der Professionalisierung einen Prozess in dessen Verlauf ein Beruf in zunehmendem Maße den Kriterien einer Profession entspricht (Hoyle 1991, 135). Professionen sind demnach eine bestimmte Klasse von Berufen, das heißt sie lassen sich durch bestimmte typische Merkmale von anderen Berufen unterscheiden, die keine Professionen sind (Horster et al. 2005, 9). Historisch betrachtet war der Begriff der Profession, im Sinne von Berufung, jenen Ständen vorbehalten, die zentrale Aspekte des menschlichen Lebens in der Gesellschaft gestalteten und auf das Gemeinwohl orientiert waren, typischerweise Theologen, Mediziner oder Juristen. Im Verlauf der historischen Entwicklung wurden unter Bezugnahme auf den Professionsbegriff vor allem berufsständische Interessen gesichert und in einer indikatorisch-normativen Vorgehensweise bestimmte Klassen von Berufen als Profession identifiziert und von anderen Berufen abgegrenzt. In der Regel galten folgende Merkmale als relevant: Spezialisierung bzw. akademisch erworbenes Spezialwissen, Dienstleistungsorientierung bzw. Vermittlungstätigkeit, eine spezifische Standesorganisation, eine eigene Berufsethik und Autonomie gegenüber staatlichen Instanzen (vgl. Kemnitz 2011, 37; Herzog et al. 2011, 70 ff.). 1

Dem Lehrerberuf wurde in dieser idealtypisch-klassifikatorischen Lesart oft der Status einer Semiprofession verliehen, insbesondere wegen der fehlenden Autonomie gegenüber dem Staat als organisierender und kontrollierender Instanz. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird die Legitimationsdiskussion um berufsständische Merkmale und Abgrenzungen durch soziologische Forschungen ergänzt und qualitativ erweitert. Es gilt, besondere Entwicklungslinien einer Profession zu identifizieren bzw. den Kern und die Funktion einer Profession innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens zu bestimmen (vgl. Horster et.al. 2005, 9). Aktuelle Professionstheorien untersuchen unter Rückgriff auf die je spezifische wissenschaftstheoretische Ausrichtung die soziologische Bedeutung von Professionen im gesellschaftlichen Kontext. In der Erziehungswissenschaft haben sowohl die systemtheoretischen Analysen von Luhmann als auch die strukturtheoretischen Überlegungen von Oevermann erheblichen Einfluss auf den Professionalisierungsdiskurs genommen (vgl. ebd., 13). Im systemtheoretischen Ansatz wird der Professionsbegriff im Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft für jene Teilsysteme reklamiert, denen es nicht gelingt, ihr Handeln zu formalisieren und zu technisieren, die also ein Technologiedefizit aufweisen. Dies gilt insbesondere für das Erziehungs- und Bildungssystem (vgl. Luhmann/Schorr 1988). Das strukturtheoretische Professionskonzept zielt darauf ab, den strukturellen Kern von Professionen herauszuschälen und sie damit beobachtbar zu machen. Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit einer Reflexion professioneller Handlungszusammenhänge, die nicht als normative Idealkonstruktion fungieren, sondern in der rekonstruierten Strukturlogik des Handelns ihre Grundlage besitzen (vgl. Helsper 2011, 149). Konstitutives Merkmal von Professionen in strukturtheoretischer Position ist in der Bestimmung des Verhältnisses von Educandus und Lehrperson - die Notwendigkeit einer stellvertretenden Bearbeitung zur Krisenbewältigung. Über diesen Bezugspunkt werden die Wertbezüge der Professionen bestimmt (vgl. Helsper 2011, 149). In Anbetracht dieser Ausführungen ist mit dem Begriff der Professionalität jene handlungstheoretische Betrachtung verbunden, die in aktuellen Professionstheorien aufscheint (Dlugosch 2009, 253). Während Hoyle 1991 noch konstatierte, dass Professionalität einen erreichten oder zu erreichenden Zustand darstelle (135), stellt Professionalität heute die schwer bestimmbare Schnittmenge aus Wissen und Können dar, eine spezifische Mischung aus berufsbezoge- 2

nem Wissen, situationsbezogenem Können und berufsethischen Haltungen (Terhart 2007, 460), wobei das Zusammenwirken von Wissen und Können in den unterschiedlichen Forschungsrichtungen verschieden gefasst wird. Der Begriff der Professionalisierung wird neben der oben beschriebenen Funktion als Beschreibung des Prozesses der Ausbildung eines Berufsstandes auch synonym zum Terminus der professionellen Entwicklung genutzt, um die Ebene des individuellen Akteurs zu fokussieren. Nach Hoyle wird damit der Prozess bezeichnet durch den ein Praktiker die für effektive professionelle Praxis notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten erwirbt oder verbessert (Hoyle, zit. nach Dlugosch 2005, 28). In strukturtheoretischer Perspektive muss dieser Prozess als ein unabgeschlossener Prozess begriffen werden, ohne dass Ziel und Weg in teleologischer Weise bestimmbar und ohne dass die Ausformung dieser Prozesse ohne den Bezug zu konkreten und historisch expliziten gesellschaftlichen Verhältnissen definierbar wären (Helsper et al. 2000). Forschungen zur pädagogischen Professionalität Forschungen zur pädagogischen Professionalität untersuchen das Handeln von Lehrpersonen, das Verhältnis von Wissen und Können sowie die Relevanz von Einstellungen und Werten für das Lehrerhandeln und betten diese Erkenntnisse in gesellschaftlich-soziale Kontexte ein. Verschiedene wissenschaftstheoretische Untersuchungen erhellen die Diskussion um die pädagogische Professionalität von Lehrpersonen. Kognitionspsychologische Forschungen (vgl. Neuweg 2002; Bromme 2004) unterscheiden in Anlehnung an Shulman (1987) zur Beschreibung notwendiger kognitiver Kompetenzen zwischen Fachwissen (content knowledge) und allgemeinem pädagogischen Wissen (pedagogical knowledge). Darüber hinaus wird mit dem Terminus pedagogical content knowledge eine weitere Wissensform bezeichnet, die eine Integration dieser Komponenten zu einem eigenständigen, berufstypischen Wissensbereich darstellt (Neuweg zit. nach Strunz-Maireder 2010, 41). Pedagogical content knowledge wird definiert als Kompetenz zur verständlichen Lehrstoffdarbietung unter Berücksichtigung der Schülerkognition und beschreibt fachdidaktisches Können und damit auch implizites fachdidaktisches Wissen (vgl. Neuweg 2011, 457f). Der Erwerb von Expertise erfolgt demnach nicht in erster Linie durch deklaratives verbal ausdrückbares Ausbildungswissen, sondern durch prozedurales, implizites Wissen, welches auch als Können bezeichnet wird (vgl. Koch-Priewe et al. 2004, 10). Die kognitionspsycholo- 3

gische Forschung hebt damit den impliziten Charakter des Wissens in Handlungssituationen hervor (vgl. Böing 2009, 62). Professionelles Handeln ist in dieser Lesart routiniertes Handeln, welches sich aus dem impliziten Wissen der Lehrperson, seinem Können, speist. Forschungen aus strukturtheoretischer Perspektive fokussieren einen anderen Aspekt pädagogischen Handelns. Nicht die Routine wird als Strukturkern professionellen pädagogischen Handelns identifiziert, sondern die Krise. In der Rekonstruktion des Lehrerhandelns identifizieren strukturtheoretische Positionen die Lehrperson als stellvertretenden Krisenlöser bzw. Kriseninitiator des Schülers (vgl. Helsper 2011, 152). Die allgemeine Strukturlogik des schulischen Handelns liegt in der pädagogischen Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler, genauer in der Gewährleistung einer körperlich-seelischen, und sozialen Integrität der Person und des gesellschaftlichen Nachwuchses (Oevermann zit. nach Helsper 2011, 151). Aus dieser Beziehung ergeben sich widersprüchliche Handlungslogiken, die durch Helsper - in Anknüpfung an die Oevermannsche Position - in verschiedene strukturelle Professionsantinomien differenziert und spezifiziert werden. So führt die Analyse der Lehrer-Schüler- Beziehung als diffus-soziale und distanziert-rollenförmige Beziehung in eine antinomische Struktur von Nähe und Distanz und die Notwendigkeit der stellvertretenden Deutung der Lebenspraxis des Schülers, als weiteres Strukturmerkmal des Lehrerhandelns, in die Ungewissheitsantinomie (vgl. Helsper 2004, Helsper 2011). Schütze (1996) kommt in seinen symbolisch-interaktionistischen Untersuchungen zu ähnlichen Erkenntnissen. In der empirischen Rekonstruktion von professionellen Handlungsproblemen identifiziert er unterschiedliche professionelle Paradoxien, insbesondere im Spannungsfeld von Interaktion und Organisation (vgl. Schütze 1996, Dlugosch 2009, 254). In diesen Forschungsrichtungen ist professionelles Handeln gekennzeichnet durch Ungewissheit und Riskanz, die nicht aufhebbar sind. Pädagogische Expertise wird in dieser Bestimmung nicht durch routiniertes Handeln, sondern durch Reflexion erworben. Pädagogische Ungewissheit muss durch (Selbst-)Reflexion kontrolliert und in den Fokus genommen werden. Gemeinsam haben theoretische Forschungen zur pädagogischen Professionalität folgende Überzeugungen herauskristallisiert: Ausbildungswissen ist nicht unmittelbar handlungsleitend. Die Vorstellung eines simplen Transfers oder einer Transformation von Ausbildungswissen in die Praxis ist trivial. Der Zusammenhang von Ausbildungswissen und dem Können von Lehrpersonen in konkreten Handlungsvollzügen ist komplexer Art. Die Differenz von theoretischem Wissen und praktischem Handeln ist anzuerkennen (Neuweg 2011, 455). 4

Professionelles Lehrerhandeln zeichnet sich durch Widersprüche, Paradoxien und Antinomien aus. Ungewissheit, Unwägbarkeit und Riskanz sind wesentliche Strukturmerkmale pädagogischer Professionalität. (vgl. Dlugosch 2009, 255) Perspektiven Zur Professionsentwicklung der Heil- und Sonderpädagogik hat Dlugosch wichtige Anmerkungen vorgelegt. In Anlehnung an Oevermann bilanziert sie, dass allein die Abtrennung der Sonder- und Heilpädagogik aus der Normalpädagogik (...) schon als Zeichen der Nicht- Professionalisierung gelesen werden (kann). Die Ausgrenzung, Abspaltung und Delegation von Problemfällen aus der allgemeinen Pädagogik an die Sonderpädagogik widerspricht damit dem strukturellen Wesenskern von Professionen, nämlich der stellvertretenden Krisendeutung und -bewältigung. Im Kontext von Inklusion erscheint es vordringlich, eine neue Standortbestimmung der Heilund Sonderpädagogik vorzunehmen und sie im Sinne einer Allgemeinen Behindertenpädagogik pädagogisch, politisch und ethisch zu einer Anwältin von Heterogenität und Vielfalt zu entwickeln (vgl. Dederich 2005, 185). Ihre Legitimation bezieht sie in einer solchen Bestimmung nicht länger aus einem subsidiären Charakter, sondern aus einer Kritik- und Korrekturfunktion gegenüber solchen Wissenschaften, die in einem Denken der einseitigen Betonung des Allgemeinen und Gemeinsamen befangen sind und Ausschlüsse produzieren (vgl. ebd. 185). Perspektivisch müssen sich darüber hinaus die Erkenntnisse der pädagogischen Professionalisierungsforschung in der Lehrerinnen- und -lehrerbildung widerspiegeln. Die strukturelle Differenz von Theorie und Praxis und die Ungewissheit pädagogischen Handelns erfordern eine Ausbildung, in der nicht nur pädagogisches und didaktisches Wissen vermittelt, sondern ein reflexiver und forschender Habitus grundgelegt wird. Geeignet erscheinen Methoden des Forschenden Lernens in Praxisphasen, wie sie beispielsweise in Schulbegleitforschungsprojekten initiiert werden. Forschungen können u.a. widersprüchliche Handlungslogiken in inklusiven Schul- und Unterrichtsprozessen im Sinne einer strukturtheoretischen Betrachtungsweise aufdecken, um sie für die pädagogische Arbeit zu identifizieren und damit reflexiv handhabbar zu machen (vgl. Böing 2011). 5

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