Fall 9 Pflichtmitgliedschaft

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Transkript:

Fall 9 Pflichtmitgliedschaft 1 Vereinigungsfreiheit, Definition einer Vereinigung: Jeder freiwillige, auf längere Zeit angelegte Zusammenschluss mehrerer natürlicher oder juristischer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks mit einer organisierten Willensbildung. Das VereinsG hat diese Definition in 2 I VereinsG übernommen. An den gemeinsamen Zweck sind keine besonderen Anforderungen zu stellen. 2 1

Die Vereinigungsfreiheit stellt nach h.m. ein doppeltes Grundrecht dar. Auf können sich berufen: die Vereinsmitglieder (individuelle Vereinigungsfreiheit) die Vereinigung selbst (kollektive Vereinigungsfreiheit) Dies ergibt sich nicht bereits aus Art. 19 III GG, sondern stellt eine Besonderheit im Rahmen des dar. 3 Problem: Fallen Vereinigungen deren Zweck oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten (Art. 9 II GG) aus dem Schutzbereich bereits heraus? Dafür könnte der Wortlaut stehen ( sind verboten ). h.m. aber: Ist für Eingriff in (vom BVerfG offen gelassen). Aus rechtsstaatlichen Gründen sind bestimmte formelle Regelungen für ein Vereinsverbot erforderlich. Dem Verbot durch die zuständige Behörde kommt konstitutive Wirkung zu. Die Verbotsmöglichkeit durch die Behörde spricht gegen eine Beschränkung des Schutzbereichs und für eine bloße Einschränkungsmöglichkeit! Sonst würde einfachgesetzlich der Schutzbereich eines Grundrechts definiert werden. 4 2

Geschütztes Verhalten: Individuell sind die Gründung, der Beitritt und Verbleib, negativ auch das Fernbleiben und das Recht auszutreten. Kollektiv sind die Existenz des Vereins, die innere Organisation und die Funktionsfähigkeit der Vereinigung geschützt. Nicht geschützt ist die spezielle Vereinstätigkeit hier sind dann spezielle Grundrechte betroffen (über Art. 19 III GG). Problem: Schützt die negative Vereinigungsfreiheit auch vor Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Vereinigungen? Pro: Vom Wortlaut nicht ausgeschlossen Abwehrfunktion der Grundrechte gegenüber dem Staat 5 Contra: Systematisch: Art. 9 II GG zielt erkennbar nur auf private Vereinigungen ab, da sich öffentlich-rechtliche Vereinigungen schwerlich gegen die verfassungsgemäße Ordnung richten (a.a. gut vertretbar). Historisch nahm der Verfassungsentwurf zu ö-r Vereinigungen aus, da die Notwendigkeit bestehe, bestimmte Berufe in ö-r Organisationen zusammenzufassen. begründe kein Recht zur Gründung öffentlich-rechtlicher Vereinigungen (dies muss durch staatlichen Hoheitsakt geschehen). Die negative Freiheit könne aber nicht weiterreichen, als die positive. Im Ergebnis ist somit davon auszugehen, dass keinen Schutz vor Zwangsmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Körperschaften bietet. 6 3

II. Eingriff II. Eingriff Moderner Eingriffsbegriff Keinen Eingriff stellen die Rechtsvorschriften dar, die Typen der Vereinigung festlegen. Sie normieren lediglich die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme bestimmter Rechtsformen. 7 II. Eingriff III. verf. III. Verfassungsrechtliche 1. Einschränkbarkeit Kein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt Aus Art. 9 II GG wird eine für einen Eingriff entnommen = verfassungsunmittelbare Schranke (abschließende Aufzählung von Verbotsgründen). Dieser gilt nur, wenn die Verbotsschwelle überschritten wurde. Ansonsten greift nur kollidierendes Verfassungsrecht. Verfassungsmäßige Ordnung ist hier anders zu definieren, als bei Art. 2 I GG. Er ist gleichzusetzen mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung (erhöhte Anforderungen). 8 4

II. Eingriff III. verf. 2. Formelle Verfassungsmäßigkeit Zitiergebot ist nicht zu beachten. 3. Materielle Verfassungsmäßigkeit a) Verhältnismäßigkeit aa) Legitimes Ziel bb) Geeignetheit cc) Erforderlichkeit dd) Angemessenheit b) Sonstiges materielles Verfassungsrecht 9 Fall 9: Pflichtmitgliedschaft Der Vogt (V) ist deutscher Staatsbürger und Inhaber einer Modeboutique in Augsburg, in der er hippe junge Mode angesagter Designer aus Berlin verkauft. Das Geschäft läuft auch Dank seiner vorzüglichen Modeberatung gut. Ein Ärgernis für V ist jedoch die Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer Schwaben (IHK) nach 2 IHKG. Vogt ist der Ansicht, die IHK sei eine überholte Einrichtung ohne jeden Sinn und Zweck, die er als kleiner Gewerbetreibender überhaupt nicht brauche. Das Schlimmste an der Pflichtmitgliedschaft seien die Beiträge in Höhe von jährlich 200. Die Beiträge und die Pflichtmitgliedschaft würden ihn in seinen Grundrechten verletzen und er wolle dagegen vorgehen. Bereits gegen den ersten Beitragsbescheid geht der V gerichtlich vor. Nach in allen Instanzen erfolgloser verwaltungsgerichtlicher Klage hält V die Zeit für gekommen, um Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzulegen. Er bittet daher seinen Freund, den Anwalt Negelé (N), gegen das letztinstanzliche Urteil vorzugehen, der dieser Bitte auch form- und fristgerecht nachkommt. 1 IHKG (1) Die Industrie- und Handelskammern haben, soweit nicht die Zuständigkeit der Organisationen des Handwerks nach Maßgabe des Gesetzes zur Ordnung des Handwerks (Handwerksordnung) vom 17. September 1953 (BGBl. I S. 1411) gegeben ist, die Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirkes wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen; dabei obliegt es ihnen insbesondere, durch Vorschläge, Gutachten und Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten sowie für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken. 10 [ ] 5

2 IHKG (1) Zur Industrie- und Handelskammer gehören, sofern sie zur Gewerbesteuer veranlagt sind, natürliche Personen, Handelsgesellschaften, andere Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer eine Betriebsstätte unterhalten (Kammerzugehörige). [ ] 3 IHKG (1) Die Industrie- und Handelskammer ist Körperschaft des öffentlichen Rechts. (2) Die Kosten der Errichtung und Tätigkeit der Industrie- und Handelskammer werden, soweit sie nicht anderweitig gedeckt sind, nach Maßgabe des Wirtschaftsplans durch Beiträge der Kammerzugehörigen gemäß einer Beitragsordnung aufgebracht. [ ] Bearbeitervermerk: Prüfen Sie, ob die Verfassungsbeschwerde des V Aussicht auf Erfolg hat. 11 I. Zuständigkeit II. BFähigkeit Lösung Fall 9 Obersatz: Die Verfassungsbeschwerde des V hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 I Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a BVerfGG) Soweit sich V auf die Verletzung von Grundrechten beruft ist das BVerfG zuständig. II. Beschwerdeberechtigung (Art. 93 I Nr. 4a GG, 90 I BVerfGG) Jedermann = jeder potentielle Träger der gerügten Grundrechte V als natürliche Person (+) 12 6

I. Zuständigkeit II. BFähigkeit III. BGegenstand IV. BBefugnis III. Beschwerdegegenstand (Art. 93 I Nr. 4a GG, 90 I BVerfGG) Jeder Akt der öffentlichen Gewalt (alle drei Gewalten) Hier: Urteile deutscher Gerichte (Judikative) Beachte: bei letztinstanzlichem Urteil besteht Wahlmöglichkeit IV. Beschwerdebefugnis (Art. 93 I Nr. 4a GG, 90 I BVerfGG) = Wer behaupten kann, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein. 1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung Hier: Pflichtmitgliedschaft in der IHK lässt Verletzung von sowie von Art. 12 I GG oder Art. 2 I GG als möglich erscheinen. 2. Eigene, unmittelbare und gegenwärtige Beschwer Bereits durch den Beitragsbescheid erfüllt. 13 I. Zuständigkeit II. BFähigkeit III. BGegenstand IV. BBefugnis V. Rechtsweger. VI. Subsidiar. VII. Form, Frist V. Rechtswegserschöpfung ( 90 II BVerfGG) Bei letztinstanzlichem Urteil ist der Rechtsweg erschöpft. VI. Subsidiarität Andere Möglichkeiten der Grundrechtswahrung sind hier nicht ersichtlich. VII. Form und Frist ( 23 I, 92, 93 III BVerfGG) Laut Sachverhalt wurde die Verfassungsbeschwerde form- und fristgerecht eingereicht. Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des V ist zulässig. 14 7

I. B. Begründetheit Obersatz: Die Verfassungsbeschwerde des V ist begründet, wenn das Urteil ihn in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt. Dies wiederum ist der Fall, wenn es in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift, ohne verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein. I. Vereinigungsfreiheit, a) Persönlicher Schutzbereich ist ein Deutschengrundrecht, V ist Deutscher isd Art. 116 I GG. 15 I. b) Sachlicher Schutzbereich Vereinigung: Freiwilliger Zusammenschluss mehrerer natürlicher oder juristischer Personen für eine längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck mit einer organisierten Willensbildung. Hier: Positive Vereinigungsfreiheit nicht betroffen. Fraglich, ob negative Vereinigungsfreiheit vor öffentlich-rechtlichen Zwangsmitgliedschaften schützt. Dafür spricht der Wortlaut und die Abwehrfunktion der Grundrechte Dagegen sprechen die systematische (vgl. Art. 9 II GG) und die historische Auslegung sowie der Schluss aus dem Schutzumfang der positiven Vereinigungsfreiheit. 16 8

I. Somit ist der Schutzbereich von nicht eröffnet. Zwischenergebnis: Zwangsmitgliedschaft und Zwangsabgabe verletzen den V nicht in seinem Grundrecht aus. II. Berufsfreiheit, Art. 12 I GG a) Persönlicher Schutzbereich Art. 12 I GG ist ein Deutschengrundrecht, V ist Deutscher (s.o.). 17 I. b) Sachlicher Schutzbereich Art. 12 I GG ist ein einheitliches Grundrecht, welches sowohl die Berufsausübung, als auch die Berufswahl umfasst. Begriff des Berufes: Jede auf Dauer angelegte Tätigkeit, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient. Hier: V bestreitet mit der Boutique seinen Lebensunterhalt (+). Die Pflichtmitgliedschaft müsste in Art. 12 I GG eingreifen. Durch 2 I IHKG wird V gezwungen, Mitglied in der IHK Schwaben zu werden, eine Nichtmitgliedschaft ist ihm damit unmöglich. Nach dem modernen Eingriffsbegriff läge ein Eingriff vor. 18 9

I. Besonderheit: Aufgrund der Weite von Art. 12 I GG wird einschränkend das Merkmal einer berufsregelnden Tendenz gefordert. Subjektiv: Gesetz bezweckt gerade die Berufsregelung (Finalität) Hier: Nicht gegeben, da 2 I IHKG nicht final in Art. 12 I GG eingreifen möchte. Objektiv: enger Zusammenhang zwischen Regelung und Beruf Hier: Jedes Gesetz wirkt sich auf Art. 12 I GG zu einem gewissen Maße aus. BVerfG: keine berufsregelnde Tendenz, um Art. 12 I GG nicht ausufern zu lassen. Außerdem Beeinträchtigt 2 I IHKG das Marktgeschehen nur unspezifisch. Hier sei die allgemeine Handlungsfreiheit in der Ausprägung als wirtschaftliche Betätigungsfreiheit betroffen. Die Berufsausübung soll nicht gelenkt werden, sondern 2 I IHKG dient der Finanzierung der Aufgabenerledigung. 19 I. Somit liege keine berufsregelnde Tendenz vor (a.a. gut vertretbar). Eine Verletzung des V in Art. 12 I GG scheidet demnach aus. III. Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG 1. Anwendbarkeit Grundsätzlich ist bei Eröffnung des Schutzbereichs eines Freiheitsgrundrechts der Rückgriff auf Art. 2 I GG verwehrt. Eine Ausnahme soll aber bei Art. 12 I 1 GG gelten. Grund hierfür ist, dass der Beschwerdeführer nicht schutzlos gestellt werden soll, weil solche Fälle sonst an gar keinem Grundrecht gemessen werden könnten. (Eine andere Ansicht vermeidet dieses Problem, in dem sie die berufsregelnde Tendenz im Schutzbereich von Art. 12 I GG prüft). 20 10

I. Jeder kann tun und lassen, was er will Hier: Die Pflicht, Mitglied der IHK zu sein und Abgaben an diese abzuführen berührt den V in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit. 2 und 3 IHKG stellen Eingriffe in Art. 2 I GG dar, indem sie die Pflichtmitgliedschaft in der IHK anordnen und diese mit Beitragspflicht belegen (moderner Eingriffsbegriff). 21 I. 4. Verf. 4. Verfassungsrechtliche a) Einschränkbarkeit Schrankentrias aus Art. 2 I GG von Bedeutung ist lediglich die verfassungsmäßige Ordnung (im Ergebnis ein einfacher Gesetzesvorbehalt) Hier: 2, 3 IHKG, wenn diese formell und materiell verfassungsgemäß sind. b) Verfassungsmäßigkeit der Eingriffsgrundlage aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit (1) Gesetzgebungskompetenz Recht der Wirtschaft aus Art. 74 I Nr. 11 GG 22 11

I. 4. Verf. Außerdem müsste Erforderlichkeit nach Art. 72 II GG gegeben sein. Hier: Funktionsfähigkeit des Wirtschaftraumes der BRD, Aufgabenwahrnehmung der IHK muss bundeseinheitlich sein. Erforderlichkeit damit zu bejahen. (2) Gesetzgebungsverfahren Keine Anhaltspunkte für eine Verletzung (3) Form Art. 19 I 2 GG, Zitiergebot, gilt nach BVerfG für Art. 2 I GG nicht. Zwischenergebnis: Das Gesetz ist formell verfassungsgemäß. 23 I. 4. Verf. bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit (1) Verhältnismäßigkeit (a) Legitimes Ziel 2, 3 II IHKG müssten einem legitimen Ziel dienen. Hier: Wahrnehmung des Gesamtinteresses der Gewerbetreibenden. Förderung der gewerblichen Wirtschaft. Wirken für die Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns. Legitime Ziele liegen demnach vor. 24 12

I. 4. Verf. (b) Geeignetheit Von der Geeignetheit kann ausgegangen werden (weiter Einschätzungsund Prognosespielraum des Gesetzgebers) (c) Erforderlichkeit Rein private, freiwillige Verbände Aber: Schwankungen und Unsicherheiten machen das Mittel weniger geeignet. Wahrnehmung durch staatliche Behörden Aber: Wohl nicht die gleiche Sachnähe und Kompetenz, wie die Selbstverwaltungseinrichtungen 25 I. 4. Verf. (d) Angemessenheit Zwang hat einiges Gewicht Jahresbeitrag Möglichkeit der Partizipation Aber keine Mitwirkungspflichten Somit wird V im Ergebnis nicht über die Maßen beeinträchtigt, die Regelungen sind verhältnismäßig. (2) Sonstiges materielles Verfassungsrecht Keine Verstöße ersichtlich. Zwischenergebnis: 2, 3 II IHKG sind verfassungsgemäß. 26 13

I. 4. Verf. c) Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes (Urteil, das den Beitragsbescheid aufrechterhält) aa) Prüfungsmaßstab Das Bundesverfassungsgericht ist keine Superrevisionsinstanz. Prüfungsmaßstab ist allein spezifisches Verfassungsrecht, d.h. die Beachtung der Grundrechte durch die Fachgerichte und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. bb) Verhältnismäßigkeit Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Mitgliedschaft in der Kammer für V eine unverhältnismäßige Belastung darstellt. Auch der Pflichtbeitrag von 200 ist angesichts des gut gehenden Geschäfts wohl verhältnismäßig. Zwischenergebnis: V ist nicht in Art. 2 I GG verletzt. 27 I. 4. Verf. Ergebnis Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des V ist zulässig aber unbegründet und hat damit keine Aussicht auf Erfolg. 28 14

Hinweise zur Nachbearbeitung: Der vorliegende Fall 9 behandelt ein klassisches Problem aus der Grundrechtslehre, die Zwangsmitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung. Wichtig ist, dass neben und Art. 12 I GG schließlich ausnahmsweise noch Art. 2 I GG geprüft werden muss, obwohl der Schutzbereich von Art. 12 I GG eröffnet ist und Art. 2 I GG eigentlich als Auffanggrundrecht zurücktreten müsste (Wichtige Besonderheit). Auch beim vorliegenden Fall war der Aufbau wieder einmal zweistufig (Eingriffsgrundlage, Einzelakt) 29 15