LÖSUNGSVORSCHLAG 3. FALL - HARTNÄCKIGE STEUERSCHULDEN Frage 1 A. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges... 2 I. Aufdrängende Sonderzuweisung... 2 II. Generalklausel 40 Abs. 1 S. 1 VwGO... 2 1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit... 2 a) Modifizierte Subjektstheorie... 2 b) Subordinationstheorie... 2 2. Nicht-verfassungsrechtlicher Art... 2 III. Abdrängende Sonderzuweisung... 3 B. Ergebnis... 3 Frage 2 A. Anwendbares Verfahrensrecht... 3 B. Wirksamwerden des Erlassbescheids nach 124 Abs. 1 AO... 4 I. Rechtliche Existenz... 4 II. Äußere Wirksamkeit... 4 III. Innere Wirksamkeit... 4 C. Nichtigkeit des Erlassbescheides... 4 I. Nichtigkeit des Erlassbescheides nach 125 Abs. 2 Nr. 1-4 AO (-)... 4 II. Nichtigkeit des Erlassbescheides nach 125 Abs. 1 AO... 4 1. Besonders schwerwiegender Fehler... 4 2. Offenkundigkeit des Fehlers... 5 D. Ergebnis... 5 Frage 3... 5 1
Frage 1 A. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges I. Aufdrängende Sonderzuweisung - besondere gesetzliche Vorschrift, die Streitigkeit den Verwaltungsgerichten zuweist (-) II. Generalklausel 40 Abs. 1 S. 1 VwGO 1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit Was ist Streitgegenstand? = Wille des Klägers + Lebenssachverhalt hier: Streit um Gewerbesteueraussetzungszinserlassbescheid Welches ist die streitentscheidende Norm? - 1 GewStG: Die Gemeinde erhebt eine Gewerbesteuer als Gemeindesteuer. Gehört die streitentscheidende Norm dem öffentlichen Recht an? a) Modifizierte Subjektstheorie = streitentscheidende Norm berechtigt oder verpflichtet einen Träger von Hoheitsgewalt in dieser spezifischen Eigenschaft hier: Befugnis der Gemeinde als Abgabenbehörde zur Erhebung der Gewerbesteuer gem. 1 GewStG b) Subordinationstheorie = Vorliegen eines Über-/Unterordnungsverhältnisses hier: Gemeinde setzt Steuerbetrag mit verbindlichen Anordnungen ggü. Betroffenen fest, kein gleich geordnetes Verhältnis (+) daher: öffentlich-rechtliche Streitigkeit (+) 2. Nicht-verfassungsrechtlicher Art - (S) Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit = Beteiligung von Verfassungsorganen und Streit um materielles Verfassungsrecht, d.h. um Rechte und Pflichten, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind hier: M und Gemeinde sind keine Verfassungsorgane und streiten nicht um Rechte und Pflichten aus der Verfassung daher: nicht-verfassungsrechtlicher Art (+) 2
3. Abdrängende Sonderzuweisung Wird die Streitigkeit durch Sonderzuweisung den ordentlichen Gerichten oder einer speziellen Gerichtsbarkeit zugewiesen? Möglicherweise 33 Abs. 1 FGO einschlägig? - Abgabenangelegenheiten definiert in Abs. II hier: (+) Nr. 1 (-), keine Verwaltung durch Landesfinanzbehörden, vgl. 1 GewStVerwÜG SH, sondern Verwaltung durch Gemeinde Nr. 2 (-), kein Vollzug durch Landesfinanzbehörden Vollzug durch Gemeinde (s.o.) Nr. 3 (-), keine Streitigkeit nach dem Steuerberatergesetz Nr. 4 (-), keine andere Angelegenheit und keine sondergesetzliche Eröffnung des Finanzrechtsweges ersichtlich Nach Art. 105 Abs. 2 GG unterliegt die Gewerbesteuer der Gesetzgebung des Bundes. Sie wird aber nur bis zur Festsetzung des Steuermessbetrags von den Landesfinanzbehörden (Finanzämtern) verwaltet. Die Steuerfestsetzung obliegt dagegen den Gemeinden ( 1, 14, 16 GewStG). Gemäß 33 I Nr. 1 FGO können also nur die Gewerbesteuer messbescheide im Finanzrechtsweg angefochten werden, nicht hingegen die von den Gemeinden erlassenen Gewerbesteuerbescheide. Gegen diese ist der Verwaltungsrechtsweg gemäß 40 Abs. 1 VwGO eröffnet. 1 hier: Streit um Erlassbescheid, keine Streitigkeit um Steuermessbetrag daher: abdrängende Sonderzuweisung (-) B. Ergebnis - Verwaltungsrechtsweg eröffnet Frage 2 A. Anwendbares Verfahrensrecht - 124, 125 AO als lex specialis anwendbar - 1 Abs. 2 Nr. 3 AO (+), Gewerbesteuer als Realsteuer, deren Verwaltung den Gemeinden übertragen worden ist - i.ü. 124, 125 AO im Wesentlichen wortgleich mit 112, 113 LVwG 1 Birk, Steuerrecht, 6. Auflage, 2003, Rdnr. 516. 3
B. Wirksamwerden des Erlassbescheids nach 124 Abs. 1 AO I. Rechtliche Existenz = Verlassen des verwaltungsinternen Bereichs und Bekanntgabe an wenigstens einen Betroffenen (P) Äußerung des Gemeindemitarbeiters in der Gaststätte als Bekanntgabe? Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Bekanntgabe prüfen! Bekanntgabe muss durch zuständige Behörde amtlich veranlasst worden sein hier: Äußerung erfolgt in privatem Umfeld, Mitarbeiter tritt nicht als Amtsträger auf daher: VA liegt erst mit Zugang des schriftlichen Bescheides einige Tage später vor II. Äußere Wirksamkeit = Maßgeblichkeit für jeweiligen Adressaten/Betroffenen durch individuelle Bekanntgabe hier: Erlassbescheid nur für eine Person (M) relevant, daher fallen rechtliche Existenz und äußere Wirksamkeit zusammen III. Innere Wirksamkeit = verbindliche Entfaltung der vom VA ausgesprochenen Regelungswirkung hier: (+), Erlöschen der Schuld über 15% der Zinsen C. Nichtigkeit des Erlassbescheides Aufbauhinweis: Die Prüfung erfolgt wie bei 113 LVwG von hinten nach vorne. I. Nichtigkeit des Erlassbescheides nach 125 Abs. 2 Nr. 1-4 AO (-) II. Nichtigkeit des Erlassbescheides nach 125 Abs. 1 AO 1. Besonders schwerwiegender Fehler = Fehler, der den davon betroffenen Verwaltungsakt als schlechterdings unerträglich erscheinen lässt, weil er mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar ist, so dass von niemandem erwartet werden kann, dass er den Verwaltungsakt als verbindlich anerkennt Ausnahme zum Grundsatz der Vermutung der Gültigkeit eines staatlichen Akts (-) bei bloß fehlender oder verfassungswidriger Rechtsgrundlage (-) bei bloß unrichtiger Rechtsanwendung (-) bei einfacher Grundrechtsverletzung (-) bei einfachem Verstoß gegen europäisches Gemeinschaftsrecht hier: individueller Erlass von bestimmten Finanzabgaben - Widerspruch zum rechtsstaatlichen Grundsatz, dass öffentliche Abgaben nur nach Maßgabe der Gesetze erhoben werden dürfen (Art. 20 III GG) 4
- Unzulässigkeit der individuellen Vereinbarungen, sofern nicht besondere gesetzliche Gestattung Der Grundsatz, dass die Steuererhebung nur nach Maßgabe der Gesetze und nicht abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen auf Grund von Vereinbarungen zwischen Steuergläubiger und Steuerschuldner erfolgen kann, ist für einen Rechtsstaat [ ] fundamental und für jeden rechtlich Denkenden [ ] einleuchtend [ ] 2 daher: besonders schwerwiegender Fehler (+) 2. Offenkundigkeit des Fehlers - Schwerwiegende Fehlerhaftigkeit UND Offenkundigkeit müssen kumulativ vorliegen (sog. Evidenzprinzip) = Offenkundigkeit bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände maßgeblich - Maßstab des verständigen Durchschnittsbürgers, nicht des verwaltungsrechtlichen Insiders - Tatsache des Gewerbetreibens als solches ist keine hinreichende Grundlage, um in jedem Fall mögliche Gutgläubigkeit abzulehnen 3 hier: insbesondere nicht Erlass der eigentlichen Steuerschuld, sondern einer Zinsforderung Glaube des Geschäftsführers, dass Erlass als Ausgleich dient für Verzicht auf etwaige Rechtsmittel bzw. Bereitschaft zur sofortigen Begleichung des strittigen Gewerbesteuerbetrages daher: Offenkundigkeit (-) D. Ergebnis - Nichtigkeit des Erlassbescheides (-) rechtswirksam, aber rechtswidrig (wegen des schwerwiegenden Fehlers) Frage 3 - Gemeinde kann rechtwidrigen Erlassbescheid möglicherweise zurücknehmen vgl. 116 LVwG, aber ggf. (P) Vertrauensschutz des Betroffenen bei begünstigenden Verwaltungsakten vgl. dazu auch Fall 4 zur Aufhebung eines Verwaltungsakts 2 BVerwGE 8, 329 (330). 3 A.A. mit sehr guter Argumentation vertretbar. 5
Hinweis: Der Fall ist angelehnt an die Entscheidung des BVerwG vom 17.10.1997, - 8 C 1/96 -, NVwZ 1998, 1061. Zur Nacharbeit: - Bekanntgabe, Erlass, Wirksamkeit und Bestandskraft eines VAs Folie 9 - Der rechtswidrige VA (Prüfungsreihenfolge!) Folie 10 - Nichtigkeit eines VAs Folie 11 - Das Widerspruchsverfahren: Ablauf anhand der Normen nachvollziehen und Prüfungsreihenfolge mit Anfechtungsklage (Folie 4) vergleichen und sich Unterschiede klarmachen Folie 12 Zur Vorbereitung: - Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff: Detterbeck: 8 S. 98-124; Maurer: 7 - Widerruf und Rücknahme: Detterbeck: Rn. 673-749 (-765); Maurer: 11 S. 294-328 besonderes Augenmerk auf die Subventionsfälle: Friedrich E. Schnapp, Sandra Henkenötter, Wann ist ein Verwaltungsakt fehlerhaft?, JuS 1998, 524 ff. (Teil I)*, JuS 1998, 624 ff. (Teil II) Friedrich E Schnapp, Axel Cordewener, Welche Rechtsfolgen hat die Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsakts?, JuS 1999, 39 ff. (Teil I)*, JuS 1999, 147 ff. (Teil II) 6