Prof. Dr. Felix Uhlmann Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre AVR 5 Universität Zürich Prof. Dr. Felix Uhlmann 1
Der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot Prof. Dr. Felix Uhlmann 2
Der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot Grundsatz der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) Willkürverbot (Art. 9 BV) Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV) Gleiche Rechte für Mann und Frau (Art. 8 Abs. 3 BV) Bei der Rechtsetzung Bei der Rechtsanwendung Sonderfälle Beschränkter Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht Beschränkter Schutz vor Praxisänderungen Prof. Dr. Felix Uhlmann 3
Gleichbehandlung im Unrecht Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht 1. Gesetzeswidrige Praxis 2. Fortführung 3. Keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen Prof. Dr. Felix Uhlmann 4
Praxisänderung Voraussetzungen einer Praxisänderung 1. Ernsthafte und sachliche Gründe für die neue Praxis 2. Änderung muss grundsätzlich erfolgen 3. Interesse an richtiger Rechtsanwendung überwiegt Interesse an Rechtssicherheit 4. Kein Verstoss gegen Treu und Glauben ("Übergangsrecht", "Ankündigung") Prof. Dr. Felix Uhlmann 5
Willkürverbot Grundlage Art. 9 BV Kurzbeschreibung Verweis auf die geltende Rechtsordnung im weitesten Sinne. Willkür ist eine krasse Verletzung normativer Erwartungen. Funktion Ergänzung Rechtsschutz. Flexibilisierung Rechtsordnung. Bundesgerichtliche Definition "Ein Entscheid ist willkürlich, wenn er offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft." Durchsetzung (pro memoria) Alle Rechtsmittelverfahren, bei subsidiärer Verfassungsbeschwerde nur bei Vorliegen eines rechtlich geschützten Interesses. Prof. Dr. Felix Uhlmann 6
Gleichbehandlung (Beispiele) 1. Hunde Für Personen mit Wohnsitz im Kanton X. ist die Neuanschaffung eines Kampfundes gemäss bestimmten Rassenlisten bewilligungspflichtig. Welche Fragen der Gleichbehandlung sehen Sie (vgl. BGE 136 I 1 ff. [ZH], BGE 133 I 249 ff. [VS], BGE 132 I 7 ff. [BL])? Prof. Dr. Felix Uhlmann 7
Gleichbehandlung (Beispiele) 2. Graufahrer X. fuhr mit einem Fahrausweis für die 2. Klasse angeblich versehentlich in der ersten Klasse einer S-Bahn mit Selbstkontrolle von Zürich nach Schaffhausen. Bei einer Kontrolle wurde festgestellt, dass X. keinen gültigen Ausweis besass, wofür ihm ein Zuschlag von Fr. 80.- sowie ein Zeitzuschlag von Fr. 25.- in Rechnung gestellt wurden. Da X. nicht vor Ort bezahlte, stellten ihm die SBB in der Folge eine entsprechende Rechnung zu. Hiergegen beschwerte sich X. sowohl bei den SBB als auch beim Bundesamt für Verkehr (BAV). Das BAV leitete sodann ein Aufsichtsverfahren gegen die SBB ein, an dessen Ende es den Zuschlagsentscheid gegen X. aufhob. Die SBB gelangten an das Bundesverwaltungsgericht, welches wiederum den Entscheid des BAV aufhob, worauf letzteres Beschwerde an das Bundesgericht führte (vgl. BGE 136 II 457 ff.) Prof. Dr. Felix Uhlmann 8
Rechtliche Fragen (BGE 136 II 457) Rechtliche Fragen Unterscheidung zwischen "Schwarz-" und "Graufahrern". Grenzen der Pauschalisierung und Schematisierung bei der Gebührenerhebung. Prof. Dr. Felix Uhlmann 9
Erwägungen (BGE 136 II 457) Erwägungen "Das Bundesamt, an das sich der Bahnkunde gewandt hatte, entschied aufsichtsrechtlich, die Erhebung eines Kontrollzuschlags von Fr. 80.- verstosse gegen Art. 16 TG [Transportgesetz], da dem Umstand nicht Rechnung getragen werde, dass der Einnahmenausfall bei den Bundesbahnen durch den Erwerb eines zeitlich und örtlich gültigen Billetts zweiter Klasse im Falle einer ausgebliebenen Kontrolle geringer ausgefallen wäre, als wenn gar kein Billett erstanden worden wäre. Verletzt werde überdies Art. 10 TG, weil der Verzicht auf die Erhebung des Fahrpreises dazu führe, dass Reisende mit teilweise gültigem Fahrausweis im Ergebnis mehr bezahlen müssten als solche, die gar kein Billett erstehen. ( ) Die Bundesbahnen erheben auf Strecken mit Selbstkontrolle von Graufahrern (Reisende in der ersten Klasse mit einem zeitlich und örtlich gültigen Fahrausweis, der nur für die zweite Klasse gilt) den gleichen Kontrollzuschlag wie für Schwarzfahrer (Kunden, die überhaupt kein Billett gelöst haben). Gleichzeitig ziehen sie keinen Fahrpreis ein, angeblich weil es zu aufwändig wäre, die Reisestrecke festzustellen." Prof. Dr. Felix Uhlmann 10
Erwägungen (BGE 136 II 457) Erwägungen "Dadurch haben Graufahrer im Ergebnis eine grössere Zahlung zu leisten als Schwarzfahrer, wenn sie in eine Kontrolle geraten. Dafür mögen allenfalls Gründe der Einfachheit und Praktikabilität sprechen. Überdies sind insofern analog zu den Gebühren oder anderen Kausalabgaben gewisse Schematisierungen und Pauschalisierungen verfassungsrechtlich durchaus zulässig. ( ) Im Ergebnis ist die gänzlich undifferenzierte Behandlung von Grau- und Schwarzfahrern, soweit keine Hinweise auf absichtliches Verhalten bzw. Missbrauch bestehen, dennoch rechtsungleich und verstösst in mehrfacher Hinsicht gegen das Bundesrecht. ( ) Die Praxis, welche die Graufahrer den Schwarzfahrern gleichstellt bzw. im Vergleich dazu sogar benachteiligt ( ) erweist sich daher als klar bundesrechtswidrig." Prof. Dr. Felix Uhlmann 11
Gleichbehandlung (Beispiele) 3. Geschwindigkeitskontrolle Bei einer Geschwindigkeitskontrolle auf der Oberlandautobahn in Volketswil wurde die zulässige Geschwindigkeit von so vielen Fahrzeuglenkern überschritten, dass die Polizei ausserstande war, alle fehlbaren Lenker zu erfassen. Sie beschränkte sich darauf, nur die schweren Fälle zu registrieren. Es handelte sich um jene, welche die Tempolimite um mehr als 15 km/h überschritten hatten. Eine Automobilistin, die die Geschwindigkeitslimite nach Abzug der Toleranz um 20 km/h überschritten hatte und deshalb gebüsst worden war, beschwerte sich beim Bundesgericht. Sie verlangte, gleich wie andere Automobilisten, gesetzwidrig begünstigt zu werden. Deshalb müsse von einer Strafe abgesehen werden (BGer, Urteil 1P.129/1991 vom 11. November 1991 [nicht amtlich veröffentlicht], in: ZBl 1992, S. 232 ff.). Hat ihr Begehren Erfolg? Prof. Dr. Felix Uhlmann 12
Gleichbehandlung (Beispiele) 4. Gerichtsschreiber Dem geschäftsleitenden Gerichtspräsidenten des Gerichts-kreises VIII Bern-Laupen wurde von der übergeordneten Behörde die Möglichkeit eingeräumt, die Hälfte der Gerichtsschreiberstellen in eine höhere Gehaltsklasse (23 statt 22) einzureihen. Da alle Gerichtsschreiber die gleichen Pflichtenhefte hatten und sich auch bei der Fallzuteilung nicht unterschieden, teilte der Gerichtspräsident die Beförderung durch das Los zu. Ein Gerichtsschreiber, der nicht in den Genuss einer Beförderung kam, erhob Beschwerde wegen Verletzung von Art. 8 Abs. 1 BV (BGer, Urteil 2P.267/2001 vom 27. Februar 2002). Wie beurteilen Sie die Rechtslage? Prof. Dr. Felix Uhlmann 13
Gleichbehandlung (Beispiele) 5. Gerichtsverhandlung Nach einer Bestimmung der Walliser Strafprozessordnung gilt die Berufung gegen ein Strafurteil als zurückgezogen, wenn der appellierende Angeklagte nicht zur Verhandlung erscheint. Das Kantonsgericht legte diese Bestimmung dahin aus, dass kein Rückzug angenommen werde, wenn der Angeklagte zwar selbst nicht an der Verhandlung teilnehme, aber sich durch einen Anwalt vertreten lasse. Diese (publizierte) Praxis änderte das Kantonsgericht und trat auf eine Berufung nicht ein, weil der Anwalt ohne den Angeklagten zur Verhandlung erschienen war. Dies wurde damit begründet, dass bei richtiger Auslegung der Strafprozessordnung die Anwesenheit des Anwalts nicht genüge (BGE 104 Ia 1 ff.). Wie beurteilen Sie diese Praxisänderung im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 BV? Prof. Dr. Felix Uhlmann 14
Der Grundsatz des öffentlichen Interesses 9 Prof. Dr. Felix Uhlmann 15
Öffentliches Interesse 9 Rechtsnatur Unbestimmter Rechtsbegriff, wandelbar Bedeutung Handlungsprinzip mit Geltung für gesamte Rechtsordnung (Art. 5 Abs. 2 BV) Voraussetzung von Grundrechtseinschränkungen (Art. 36 Abs. 2 BV) Interessenabwägung Inhaltliche Bestimmung Verfassung, Gesetz, Rechtsordnung allgemein Beispiele Polizeiliche Interessen, Sozialpolitik, Bildungspolitik, fiskalische Interessen (Sonderfall) Prof. Dr. Felix Uhlmann 16
Öffentliches Interesse Staatliche Aufgabe 9 Grundlage Wandelbarkeit Öffentliches Interesse Verfassung, Gesetz, Rechtsordnung allgemein Ja Staatliche Aufgabe Verfassung ev. Gesetz Nur beschränkt Verantwortung Grundrechtsbindung Verwirklichung Alle Gemeinwesen, ev. Private Indiz Soweit möglich bei jeder staatlichen Tätigkeit, Berücksichtigung bei Interessenabwägung Bestimmtes Gemeinwesen, Private durch Übertragung Ja (Art. 35 Abs. 2 BV) Entsprechend Kompetenzordnung im positiven Recht Prof. Dr. Felix Uhlmann 17
Öffentliches Interesse (Beispiele I) 9 Um welche öffentlichen Interessen geht es bei folgenden Beispielen? Wie würden Sie diese Interessen gewichten? 1. Das Schweizerische Heilmittelinstitut verbietet ein Medikament wegen neu aufgetretenen, starken Nebenwirkungen. 2. Die Einwohnerbehörde weigert sich, eine Abmeldebestätigung auszustellen, weil die betroffene Person Steuerschulden hat. 3. Die Universität lässt die Juristische Fakultät evaluieren. 4. Eine Gemeinde führt auf ihrem Gebiet "Tempo 30" ein. Prof. Dr. Felix Uhlmann 18
Öffentliches Interesse (Beispiel II) 9 Auszug aus der "Enforcement-Policy" der FINMA: Grundsatz 3: Enforcement mit Augenmass Am Ende eines "eingreifenden Verwaltungsverfahrens" der FINMA kann ein schwerer Eingriff in Rechtspositionen der Parteien stehen. Bevor die FINMA ein solches Verfahren eröffnet, wägt sie deshalb sorgfältig alle wesentlichen Umstände ab und prüft alternative Handlungsmöglichkeiten. Sie prüft Kriterien wie die Gefahr für Anleger, Versicherte, Gläubiger, Investoren, Beaufsichtigte und die Reputation des Finanzplatzes, Schwere und Zeitpunkt der in Frage stehenden Verletzungen des Aufsichtsrechts und die Funktion der für die Verletzung Verantwortlichen. Wesentlich sind aber auch Elemente wie die vorhandenen Ressourcen, öffentliche Erwartungen und (Korrektur-)Massnahmen der Parteien. Verfahren dürfen nur mit Zustimmung eines Mitglieds der erweiterten Geschäftsleitung eröffnet werden. Welche öffentlichen Interessen verfolgt die FINMA in diesem Zusammenhang? Prof. Dr. Felix Uhlmann 19