Philosophie Gerechtigkeit
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- Martina Pohl
- vor 7 Jahren
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Transkript
1 Philosophie Gerechtigkeit Sendemanuskript IN Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Spiel mit zwei Teilnehmern; einer davon sind Sie. Ihr Mitspieler erhält Euro, mit der Maßgabe, Ihnen einen Teil davon abzugeben. Wie viel, kann er selber bestimmen. Allerdings gibt es eine Bedingung: Sie müssen der Aufteilung zustimmen. Nur dann darf jeder seinen Anteil behalten. Wenn Sie nein sagen, bekommt keiner etwas. Angenommen, Ihr Mitspieler bietet Ihnen 500 Euro, also genau die Hälfte. Nehmen Sie an? Vermutlich ja. IN Angenommen, er bietet Ihnen 50 Euro. Wie entscheiden Sie dann? Wenn Sie nein sagen, bekommen Sie gar nichts. Der andere allerdings auch nicht. Wenn Sie ja sagen, haben Sie immerhin 50 Euro, der andere allerdings Stimmen Sie zu? Überlegen Sie einen Moment. Wahrscheinlich werden Sie nein sagen. Dies prophezeit jedenfalls die Spieltheorie, die das Entscheidungsverhalten von Menschen erforscht. Sie verwendet das Ultimatum-Spiel, das wir gerade gespielt haben, für ihre Experimente. Dabei zeigt sich, dass die meisten Menschen Angebote von weniger als 30 Prozent ablehnen. Das heißt, Sie hätten in unserem Ultimatum-Spiel - sofern Sie dem statistischen Durchschnitt entsprechen - auf bis zu 300 Euro verzichtet. IN Der Grund dafür ist unser Sinn für Gerechtigkeit, der offenbar so stark ist, dass wir dafür sogar materielle Nachteile in Kauf nehmen. In welchem Umfang, ist individuell verschieden und hängt auch von der persönlichen Lebenssituation ab. Aber wir reagieren nicht nur empfindlich auf Ungerechtigkeit, sondern sind auch bereit, uns Gerechtigkeit etwas kosten zu lassen. Der griechische Philosoph Platon kannte das Ultimatum-Spiel noch nicht. Aber er hätte das Ergebnis erklären können. Ein zu niedriges Angebot, so hätte Platon vermutlich argumentiert, bringt die Ordnung in unserer Seele durcheinander. IN Platon unterscheidet drei Seelenteile im Menschen: den denkenden Teil, den muthaften Teil und den begehrenden. Jedem Seelenteil entsprechen spezifische Zuständigkeiten und Tugenden: dem denkenden Teil etwa die Weisheit, Klugheit
2 und Einsicht, dem muthaften die Tapferkeit, der Ehrgeiz und das Ehrgefühl und dem begehrenden das Besitzstreben, aber auch die Besonnenheit oder Mäßigkeit. Damit die Seelenteile gut zusammenwirken, bedarf es einer weiteren Tugend, nämlich der Gerechtigkeit. Sie soll für die richtige Balance unserer Seelenteile und damit für eine gute Ordnung in unserer Seele sorgen. Sie steht deshalb über den anderen Tugenden und ist die höchste und wichtigste von allen. IN Im Ultimatum-Spiel nun geraten zwei Seelenteile in Widerstreit. Das Besitzstreben des begehrenden Teils will auf jeden Fall kassieren, egal welchen Betrag. Aber das Ehrgefühl des muthaften Teils wird bei einem zu niedrigen Angebot gekränkt. Wir fühlen uns in unserem persönlichen Wert herabgesetzt. Ein Seelenteil würde hier also auf Kosten eines anderen profitieren und dadurch die Balance in unserem Innern durcheinanderbringen. Vielleicht haben Sie diesen inneren Widerstreit gespürt, als Sie über das Angebot nachdachten. IN Hier schreitet deshalb der Gerechtigkeitssinn ein und sorgt dafür, dass wir erst ab einer gewissen Angebotshöhe zustimmen, dann nämlich, wenn beide Seelenteile zufrieden sind. Dieses Seelenmodell ist die Grundlage von Platons Gerechtigkeitstheorie. Anders als die mythischen und religiösen Gerechtigkeitsvorstellungen der Frühgeschichte sieht er den Ursprung der Gerechtigkeit in der Seele des Menschen, nicht mehr in einer göttlichen Ordnung oder im Walten des Schicksals. Platon versteht deshalb Gerechtigkeit in erster Linie als personale Gerechtigkeit, das heißt als eine Tugend, die den rechtschaffenen Menschen auszeichnet. In seinem Hauptwerk Politeia, Der Staat, überträgt Platon das Seelenmodell dann auch auf die Gesellschaft. IN Den drei Seelenteilen im Menschen entsprechen drei Stände im Staat: dem denkenden der Stand der Herrscher, dem muthaften der Wehrstand und dem begehrenden der Nährstand. Bei dem Stand der Herrscher handelt es sich um die sogenannten Philosophenkönige, das heißt die Besten der Besten, die sich in einer viele Jahre währenden strengen Ausbildung für ihre Ämter qualifiziert haben. Ihre Aufgabe ist es, den Staat zu leiten. IN Den Wehrstand bilden die Wächter. Wir würden heute sagen: die Soldaten und die Polizisten. Sie sorgen für die Sicherheit im Staat.
3 Der Nährstand schließlich besteht aus den Bauern, den Handwerkern und den Gewerbetreibenden. Sie sind für die materiellen Grundlagen des Staates zuständig. Wie die Seelenteile, so verfügen auch die Stände über spezifische Tugenden: die Herrscher über die Tugend der Weisheit, der Wehrstand über die Tugend der Tapferkeit und der Nährstand über die Tugend der Besonnenheit und des Maßhaltens - so jedenfalls sah es Platon. IN Auch im Staat ist es die Aufgabe der Gerechtigkeit, die Teile zu einem vernünftig und gut geordneten Ganzen zu vereinen. Sie regelt also das Zusammenleben der Menschen. Dadurch erhält sie eine neue, zusätzliche Qualität. Denn die anderen Tugenden, etwa die Tapferkeit oder die Besonnenheit, kommen nur dem zugute, der sie besitzt. Sie haben also eine egoistische Komponente. Die Gerechtigkeit hingegen dient der Gemeinschaft. In dieser gesellschaftlichen Funktion sieht Platons Schüler Aristoteles sogar den Hauptgrund dafür, dass die Gerechtigkeit die vorzüglichste unter allen Tugenden ist. Aristoteles, ansonsten ein eher nüchterner Wissenschaftler, gerät beim Thema Gerechtigkeit für seine Verhältnisse geradezu ins Schwärmen. In seinem Werk Die Nikomachische Ethik preist er sie als Eine Tugend, so wunderbar schön, dass nicht der Abend- und nicht der Morgenstern gleich ihr erglänzt. IN Ein zentrales Element der Gerechtigkeit ist die Gleichheit. Allerdings wissen wir spätestens seit George Orwells Farm der Tiere, dass nicht alle Gleichen gleich, sondern manche gleicher sind als andere. So auch schon bei Platon. Platon unterscheidet zwei Formen von Gleichheit, nämlich die arithmetische und die geometrische. Die arithmetische Gleichheit ist diejenige, welche die Menschen bloß zählt. Sie betrachtet tatsächlich alle Menschen als gleich, nämlich jeden als Zahl wie jede andere. Die geometrische Gleichheit hingegen zählt nicht nur, sondern legt sozusagen auch Maß an und bezieht dies in ihr Urteil ein. Die geometrische Gleichheit erkennt deshalb auch Unterschiede. Sie ist für Platon diejenige Form von Gleichheit, die schwerer zu ermitteln, aber letztlich gerechter ist. In der Politeia schreibt er dazu: Die wahrhafteste und beste Gleichheit vermag nicht mehr jeder zu erkennen. Denn sie ist die Unterscheidung des Zeus Dem Überlegenen nämlich teilt sie mehr, dem Schwächeren weniger zu und gibt so jedem der beiden Angemessenes im Verhältnis zu ihrer Natur. Es steht also nicht allen Menschen das Gleiche zu, sondern jedem das ihm Angemessene.
4 IN So kommt es zu Platons berühmter Definition der Gerechtigkeit, nämlich: dass jeder das Seinige und Gehörige hat und tut. Jedem das Seine ist somit die Kurzformel der platonischen Gerechtigkeit. Sie klingt einleuchtend, lässt aber vieles unbestimmt und damit viel, vielleicht sogar zu viel Raum für Interpretationen. Denn was ist jeweils das Seine? IN Schon in der Politeia kommt es zu Missverständnissen. Ein Gesprächspartner des Sokrates versteht die Definition so, dass man Freunden Gutes tun soll und den Feinden Böses. Jedem halt das, was ihm gebührt. Sokrates widerspricht dem zwar vehement: Es kann nie Sache des Gerechten sein, jemandem zu schaden. Dennoch finden sich in der Geistes- wie in der politischen Geschichte immer wieder Fehlinterpretationen der platonischen Gerechtigkeitsformel, auch als bewusster Missbrauch - bis hin zu ihrer Pervertierung auf dem Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald. Denn dort stand genau dies zu lesen: Jedem das Seine. Aristoteles sieht denn auch weiteren Klärungsbedarf. In der Nikomachischen Ethik macht er deutlich, inwiefern Gerechtigkeit sowohl auf Gleichheit als auch auf Ungleichheit beruhen kann. IN Wenn der Staat zum Beispiel Güter, Geld oder Ehrungen an seine Bürger vergibt, dann ist gerechterweise nicht das Prinzip der Gleichheit anzuwenden, sondern das der Proportionalität. Das heißt, nicht die 1:1-Gleichheit von Personen oder Dingen, sondern die Gleichheit von Verhältnissen. Wer sich vor anderen auszeichnet, etwa durch mehr Leistung und mehr Erfolg, soll auch entsprechend mehr an Gütern und öffentlicher Anerkennung erhalten. Alles andere wäre ungerecht. Vor Gericht aber, so Aristoteles weiter, liegen die Dinge völlig anders. Hier kann nur die strikte Gleichbehandlung aller Menschen zu Gerechtigkeit führen. Denn, so Aristoteles: Es trägt ja nichts aus, ob ein guter Mann einen schlechten beraubt oder ein schlechter einen guten, oder ob ein guter oder ein schlechter Mann einen Ehebruch begeht; vielmehr sieht das Gesetz nur auf den Unterschied des Schadens, und es behandelt die Personen als gleiche. Der römische Rechtsgelehrte Ulpian fasste die Überlegungen der antiken Philosophie in drei Grundsätzen zusammen, die als die berühmtesten Prinzipien der abendländischen Rechtsgeschichte gelten. Sie lauten: Honeste vive!
5 Zu deutsch: Lebe ehrenhaft! Neminem laede! Tue niemandem Unrecht! und: Suum cuique tribue! Gib jedem das Seine! IN In diesen Grundsätzen ist alles enthalten, was zu einem gerechten und friedlichen Leben und Zusammenleben der Menschen erforderlich ist. Würde jedermann sie beachten, brauchten wir keine Polizei und keine Gerichte. Leider halten sich die Menschen meistens nicht an die Ulpianischen Grundsätze des rechtschaffenen Lebens. Im Gegenteil: Der Mensch ist des Menschen Wolf, schreibt der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert. Die natürliche Form des menschlichen Zusammenlebens sei nicht das gerechte und friedliche Miteinander, sondern der Krieg aller gegen alle. IN Deshalb steht für die Philosophie der Neuzeit nicht mehr die personale Gerechtigkeit im Vordergrund, sondern die institutionelle, also die des Staates. Es geht darum, Regeln zu entwickeln, die ein gutes und gerechtes Zusammenleben der Menschen auch dann ermöglichen, wenn die Menschen selber nicht gerecht sind. So entstehen ab dem 17. Jahrhundert die sogenannten Vertragstheorien. Sie sollen die Menschen voreinander schützen, aber zugleich auch helfen, die in dieser Zeit erwachenden Gedanken der Aufklärung zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in wirkliches Leben umzusetzen. IN Bahnbrechend ist die Vertragstheorie des französischen Aufklärers Jean-Jacques Rousseau. In seinem Hauptwerk Le Contrat Social, Der Gesellschaftsvertrag, bildet die Idee des Gemeinwillens die moralische Grundlage eines gerechten Staates. Diese Idee steht für das Wollen aller Menschen, die diesen Staat und diese Gesellschaft bilden. Damit sind jedoch nicht individuelle, persönliche Wünsche jedes einzelnen gemeint, sondern sozusagen das Wollen der Menschen als Menschen überhaupt, also das, wovon vernünftigerweise angenommen werden kann, dass jeder Mensch es will. Diese Idee des Gemeinwillens bildet das Prinzip aller Gesetze. Sie ist der Maßstab, anhand dessen beurteilt werden kann, ob Gesetze gut und gerecht sind oder nicht.
6 IN Gerecht sind demnach Gesetze, von denen angenommen werden kann, dass sie den Willen aller zum Ausdruck bringen; schlecht sind Gesetze, welche die Bürger zu etwas zwingen, das sie vernünftigerweise nicht wollen können. So ist zum Beispiel anzunehmen, dass niemand Gesetze will, die zulassen, dass seine Freiheit eingeschränkt wird oder dass er ungestraft angegriffen und verletzt oder getötet werden darf. IN Auf diese Weise schließt die Idee des Gemeinwillens gravierende Ungerechtigkeiten in der Gesetzgebung eines Staates aus. Formuliert wird der Gemeinwille im Gesellschaftsvertrag, den alle Bürger eines Staates miteinander abschließen. Auch der Gesellschaftsvertrag ist zunächst nur eine Idee, die sich dann aber in der Verfassung eines Staates materialisiert. IN Im Gesellschaftsvertrag unterstellt jeder Bürger seinen privaten Willen dem Gemeinwillen, verpflichtet sich also, dem Gemeinwillen nicht zuwiderzuhandeln. Zugleich tritt er seine persönliche Gewalt an den Staat ab. Das heißt, er verzichtet darauf, sich sein Recht selber mit Gewalt zu erkämpfen. Nur noch die Gemeinschaft ist zur Gewaltanwendung befugt. Ein solcher Staat, so schreibt Rousseau, gewährleistet den Menschen wahre Freiheit und Gleichheit und damit Gerechtigkeit. IN Diese wahre Freiheit ist nicht gleichzusetzen mit Zügellosigkeit. Sondern sie besteht im Gegenteil in der Bindung aller an Gesetze. Aber dies sind Gesetze, die sich die Menschen selber gegeben haben, in der Idee des Gemeinwillens. Somit unterwirft sich jeder zwar der Gemeinschaft, aber er muss sich nicht mehr irgendeinem einzelnen unterwerfen. Sondern jeder hat über den anderen dasselbe Recht wie dieser über ihn. Das ist es, was Rousseau als wahre Freiheit bezeichnet. Zugleich verbürgen die Gesetze und die staatliche Macht auch die rechtliche Gleichheit der Menschen. Denn dadurch erhält jeder die Kraft, sein Recht zu behaupten, auch wenn er persönlich schwächer ist als etwa sein böser Nachbar. Seine individuelle Schwäche wird kompensiert durch die Kraft der Gemeinschaft, konkret: durch die Gesetze, die Polizei und die Gerichte. Im Anschluss an Rousseau formuliert dann Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten den Begriff der institutionellen Gerechtigkeit:
7 Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. Als konkrete Handlungsanweisung ergibt sich daraus der so genannte Kategorische Rechtsimperativ, nämlich: Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne. IN Dies erinnert an die Goldene Regel: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Ein entscheidender Unterschied liegt aber darin, dass es nicht jedermanns persönlichem Gutdünken überlassen bleibt, was erlaubt ist und was nicht. Sondern dies wird durch ein allgemeines, also gleichermaßen für alle geltendes Gesetz geregelt, und zwar eins, das sich die Menschen unter der Idee des Gemeinwillens selber, also frei, gegeben haben. IN Bei Rousseau und Kant, wie überhaupt im Denken der Moderne, tritt die Freiheit als zentrales Element von Gerechtigkeit neben die antiken Gesichtspunkte der Gleichheit und der guten Ordnung. Daraus werden in der Folge konkrete Menschenrechte abgeleitet: als Grundrechte, die jedem Menschen allein aufgrund seines Menschseins zustehen und deren Unverletzlichkeit durch den Staat zu garantieren ist. Zu den Menschenrechten zählen neben dem Recht auf Leben und Unverletzlichkeit der Person unter anderem das Recht auf freie Ausübung der eigenen Religion, das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie das Recht auf Schutz vor fremder Willkür. IN Die heutige Rechtsphilosophie denkt weniger über inhaltliche Aspekte der Gerechtigkeit nach, sondern mehr über Wege zu ihrer tatsächlichen Verwirklichung. Deshalb versucht sie, ausgeklügelte Verfahrensregeln zu entwickeln, die allein schon, sozusagen automatisch, ein gerechtes Ergebnis versprechen. Ein einfaches Beispiel für eine solche Verfahrensgerechtigkeit können wir bei jedem Kindergeburtstag praktizieren. IN Wenn zwei Kinder ein Stück Kuchen gerecht untereinander aufteilen sollen, empfiehlt sich folgende Verfahrensregel: Das eine Kind schneidet auf, und das
8 zweite darf sich zuerst ein Stück aussuchen. Man kann davon ausgehen, dass das erste Kind sich unter diesen Voraussetzungen alle Mühe geben wird, zwei gleich große Stücke zu schneiden. Denn es muss ja befürchten, dass andernfalls das andere Kind sich das größere Stück nimmt, es selber also nur noch das kleinere bekommt. Das Kind wird also gerecht handeln, ohne dass es dazu moralischer Vorhaltungen bedarf. Ähnlich, wenn es um einen ganzen Kuchen und mehrere Stücke geht. Hier darf sich derjenige, der aufschneidet, erst das letzte Stück nehmen. Auch dieses Verfahren gewährleistet in der Regel, dass der Kuchen in gleich große Stücke geschnitten und dadurch Gerechtigkeit hergestellt wird. IN Dies ist der Grundgedanke einer Verfahrensgerechtigkeit. Sie versucht, ohne moralische Appelle, etwa an Genügsamkeit, Selbstlosigkeit oder Nächstenliebe, auszukommen und den Menschen gewissermaßen so zu nehmen, wie er ist, mit all seinen Eigeninteressen. Dennoch soll, allein durch die Anwendung der richtigen Verfahrensregeln, am Ende Gerechtigkeit herrschen. Zwei Modelle haben diesbezüglich in den letzten Jahren von sich reden gemacht. Das eine ist die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness, die von dem Amerikaner John Rawls entwickelt wurde; das andere die Diskursethik des deutschen Philosophen Jürgen Habermas. IN Der Schlüsselgedanke bei John Rawls ist der so genannte Schleier des Nichtwissens. In seinem philosophischen Bestseller Eine Theorie der Gerechtigkeit konstruiert Rawls eine Situation, in der die Menschen die Grundgesetze ihrer Gesellschaft festlegen, ohne zu wissen, in welcher Weise sie selber künftig von diesen Regeln betroffen sein werden: ob als Reiche, Arme, Gesunde, Kranke, Ausländer, Topmanager oder Arbeitslose. Durch dieses Verfahren werden alle in die gleiche Lage versetzt, und niemand gerät in Versuchung, sich Gesetze auszudenken, die ihn besonders bevorzugen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Vorschriften, die auf diese Weise zustande kommen, fair und gerecht sind. Diese ursprüngliche Situation ist nur ein Gedankenexperiment, mit dem sich aber die Gerechtigkeit jedes Gesetzes testen lässt. IN Man kann sich zum Beispiel fragen, wie Politiker unter dem Schleier des Nichtwissens über Mindestlöhne, Arbeitslosengeld, Gesundheitskosten oder Zuwanderung entscheiden würden. - So wie bisher? Oder anders? Rawls zufolge, auf jeden Fall fair. Es könnte schließlich sein, dass sich der eine oder andere anschließend als Asylbewerber wiederfindet. Noch ein gutes Stück konkreter ist das Verfahren, das Jürgen Habermas in seiner Diskursethik vorschlägt.
9 IN Habermas denkt nicht an eine fiktive ursprüngliche Situation, sondern an real stattfindende Diskussionen, in denen die jeweils Betroffenen über Regeln ihres Zusammenlebens selber entscheiden. Dies soll für alle Ebenen in Staat und Gesellschaft gelten, von der UNO bis zur eigenen Familie und entsprechend auch für alle Themen, von den Menschenrechten bis zur Frage, wer wann den Abwasch übernimmt. Wann immer also etwas zu regeln ist, sollen die Betroffenen oder deren Vertreter sich zum Diskurs zusammensetzen. Dafür gibt Habermas Verfahrensregeln vor, die sicherstellen sollen, dass die Diskurse konstruktiv und fair verlaufen. IN Etwa, dass alle Betroffenen persönlich anwesend oder vertreten sein müssen. Weiterhin, dass jeder frei sprechen darf, aber auch die Argumente des anderen ernst nehmen muss; dass jeder nur das behaupten darf, was er tatsächlich glaubt, und dass kein Sprecher sich selber widersprechen darf. Nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments, so Habermas, soll im Diskurs gelten. Habermas weiß, dass er hier eine ideale Diskurssituation beschreibt, die in der Realität zumeist nicht vollkommen verwirklicht werden kann. Wenn dies so ist, soll der fehlende Bestandteil in Gedanken ergänzt werden, um der idealen Situation so nahe wie möglich zu kommen. IN Am Ende soll jedenfalls eine Lösung stehen, der alle Teilnehmer aus freien Stücken zustimmen können. Ein solcher einstimmiger Konsens macht die betreffende Regel gerecht. Also nicht höhere allgemeine Prinzipien entscheiden bei Habermas über Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit, sondern der konkrete Konsens der jeweils Betroffenen. Gerecht ist das, worauf sich die Beteiligten einigen. Die Verfahrensgerechtigkeit kommt möglicherweise zur rechten Zeit. Sie scheint besonders gut geeignet, die aktuellen globalen Herausforderungen an Recht und Gerechtigkeit zu bewältigen, weil sie auf moralische Ansprüche verzichtet, die meist kulturspezifisch sind und in anderen Regionen der Welt nicht anerkannt werden. Der Schleier des Nichtwissens hingegen kann überall wehen, und der Gerechtigkeitsdiskurs lässt sich auch auf Arabisch führen. IN Gerade die Herausforderungen der Globalisierung, aber auch neue Stichworte wie Generationengerechtigkeit oder Nachhaltigkeit sorgen dafür, dass das Nachdenken über Gerechtigkeit nicht aufhört. Die Voraussetzungen für ein solches Nachdenken sind übrigens gut. Denn zumindest eins ist auf der Welt offenbar absolut gerecht verteilt. Das ist der Verstand, wie der französische Philosoph René Descartes feststellte. Denn noch nie hat sich jemand beschwert, er hätte zu wenig davon abbekommen.
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