Beitrag: Kostenfreie Kitaplätze Das Wahlversprechen der SPD

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1 Manuskript Beitrag: Kostenfreie Kitaplätze Das Wahlversprechen der SPD Sendung vom 20. Juni 2017 von Anke Becker-Wenzel, Armin Coerper und Birte Meier Anmoderation: Kleine und mittlere Einkommen entlasten, dafür den Besserverdienern mehr abverlangen. Gestern stellte Kanzlerkandidat Martin Schulz das Steuerkonzept der SPD vor. Ein Konzept für, na klar, mehr Gerechtigkeit. Gerechtigkeit, der alte und neue Wahlkampfschlager der Genossen. Eine Strophe des Schlagers, die Schulz dabei immer wieder singt, handelt von der kostenlosen Kita. Und für viele Eltern klingt das erst mal gut. Doch wie sollen Länder und Kommunen dann noch finanzieren können, was wirklich gerecht für benachteiligte Kinder wäre: mehr Erzieher, mehr Qualität, mehr Förderung und Chancengleichheit? Anke Becker-Wenzel, Armin Coerper und Birte Meier über den Preis der kostenlosen Kita. Text: O-Ton Collage Martin Schulz, SPD, Kanzlerkandidat: Bildung muss gebührenfrei werden. Wenn ihr Kinder habt und ihr müsst für die Kita Gebühren bezahlen, befreien wir euch davon. Dass wir die gleichen Bildungschancen für alle ermöglichen. Dass Leute nicht arbeiten gehen müssen, um die Kitagebühren zu bezahlen. Arbeit und Familie darf nicht eine doppelte Last sein, es muss eine doppelte Freude sein. Hier treffen die freudigen Versprechen der Politik auf die oft freudlose Wirklichkeit. Wir sind in Berlin-Kreuzberg bei den Stadtteilmüttern: Sie beraten und betreuen Familien in

2 Erziehungsfragen, hier sind das vor allem Migrantenfamilien. O-Ton Ulrike Koch, Familienzentrum Diakonie Berlin-Mitte: Die frühzeitige Unterbringung in einer Kita ist ein elementares Thema, weil wir davon überzeugt sind, dass wenn Kinder frühzeitig in einer Kita untergebracht werden, dass deren Bildungserfolg ein ganz anderer ist, dass diese Kinder ganz anders aufgestellt sind, wenn sie eingeschult werden. Da klingt es doch eigentlich prima, dass ausgerechnet im notorisch klammen Berlin die Kita bereits für alle kostenlos ist. Doch den Eltern ist gute Betreuung wichtiger als billige. O-Ton Rukiye Hamza, Mutter: Ich habe anderthalb Jahre lang gesucht und auch intensiv. Also, ich hab auch gemerkt, dass ich halt ein bisschen mehr dahinter war, als das vielleicht üblich ist, aber ich wollte halt einen guten Kitaplatz auch finden. Gute Kitas - Mangelware in Berlin. Manche Kinder hier sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Manche Kinder sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Bei den unter Dreijährigen sollten nach Expertenmeinung maximal drei Kinder auf einen Betreuer kommen, doch das würde Geld kosten, viel Geld. Erzieher müssten besser bezahlt werden, viel besser, denn es gibt einfach zu wenige. Mancherorts ist der Betreuungsschlüssel deshalb dreimal höher als empfohlen. Um die kostenfreie Kita überhaupt finanzieren zu können, stellt Berlin jetzt vermehrt fachfremde Betreuer ein also, Menschen ohne pädagogische Ausbildung, die die dann im Rahmen ihrer Tätigkeit langfristig nachholen können. Sie haben praktisch eine Nicht-Fachkraft, die zu 100 Prozent angerechnet wird, und das kann nicht funktionieren. Sie müssen angeleitet werden, sie müssen natürlich betreut werden und sie können nicht einfach auf die Kinder losgelassen werden. Und das sind alles Probleme, mit denen die Erzieher hier vor Ort, die ohnehin schon knapp bemessen sind, noch mal zusätzlich belastet werden. Falko Liecke ist stellvertretender Bürgermeister in Berlin- Neukölln, ein sozialer Brennpunkt. Gerade hier wäre es wichtig, dass alle Kinder in die Kita gehen, doch Liecke findet kein Personal. Ja, in diesem Raum könnten wir eine neue Kitagruppe

3 einrichten, wenn wir genügend Personal hätten, in ganz Neukölln Plätze sofort, wenn wir die Erzieher finden würden. Und so wartet hier ein vollständig ausgestatteter Raum auf Kinder und vor allem auf Erzieher. Kostenfreie Plätze für alle dieses Versprechen sorgt bei Falko Liecke für Kopfschütteln. Die Kita-Kostenfreiheit bringt uns kein Stück weiter. Es ist vielleicht erst einmal ein hehres Ziel, aber wenn Sie die Erzieherinnen und Erzieher nicht haben, die das umsetzen, konterkarieren Sie das System. Es führt ja nicht zu mehr Qualität, es führt ja zu einer Verringerung von Qualität und damit zu einer schlechteren Situation in dieser Bildungseinrichtung Kita, und das halte ich politisch für fatal. Nach einer repräsentativen Umfrage geht es den Eltern vor allem um Qualität. Deutschlandweit zahlen 81 Prozent für die Kinderbetreuung, bei 14 Prozent herrscht wie in Berlin Beitragsfreiheit, fünf Prozent zahlen nicht, weil ihr Einkommen zu gering ist. Von denen, die zahlen, würde fast die Hälfte mehr zahlen, wenn dafür die Betreuungsqualität stimmt. Und sogar die, die nichts zahlen, wären mehrheitlich [51 Prozent] dazu bereit. Experten halten es ohnehin für fraglich, ob es sozial gerecht ist, wenn die Kita für alle Kinder kostenlos ist. Vielmehr sollten sich die Finanzstärkeren zugunsten der Schwächeren an den Kosten beteiligen. O-Ton Prof. Ludger Wößmann, Leiter ifo Zentrum für Bildungsökonomik: Wichtig ist für die Chancengleichheit, dass wir Kitas für bildungsferne Schichten, für ärmere Schichten freistellen. Zur Gerechtigkeit wird es nicht beitragen, dass auch die Familien, die gut verdienen, ihre Kitas kostenfrei bekommen. Wir konfrontieren Martin Schulz mit dem Vorwurf der Experten, sein Plan sei gar nicht sozial gerecht. O-Ton Frontal 21: Warum halten Sie es für gerechter, wenn die Kita für alle kostenlos ist? Ist es nicht gerechter, wenn die Finanzstarken sich zu Gunsten der Finanzschwächeren daran beteiligen? O-Ton Martin Schulz, SPD, Kanzlerkandidat: Ich glaube, dass wir unseren Kindern den Respekt entgegenbringen sollten, dass sie uns alle gleich viel wert sind. Ich kenne das Argument, weil Reiche oder Einkommensstärkere Kitagebühren zahlen können, brauchen Schwächere nicht mehr frei zu werden, das ist nicht der Weg,

4 den ich gehen will. Stattdessen plant Schulz, dass der Bund die kostenfreien Kitaplätze finanzieren soll. Doch der Bund kann das gar nicht so einfach von oben verordnen. O-Ton Gerd Landsberg, Deutscher Städte- und Gemeindebund: Also, der Bund hat keinerlei Kompetenzen im Bereich Kitagebühr, das ist Sache der Länder und der Kommunen. Deswegen kann er es nur durchsetzen, wenn er die Länder bewegt und dafür Geld gibt, und da sage ich, das können wir später mal machen. Wir sind sehr interessiert, dass der Bund Geld gibt, aber nicht für Kita-Gebührenfreiheit, sondern für bessere, dauerhafte Kinderbetreuung. Hier wird auf Englisch gesungen: Bei den Kids in Berlin zahlen die Eltern maximal 100 Euro im Monat, damit ihre Kinder zweisprachig betreut werden. Das hebt zwar den Betreuungsschlüssel, doch entspricht nicht den Vorstellungen des rot-rot-grünen Senats. Gerecht heißt für den nämlich Zwangsangleichung nach unten. Deshalb schiebt die Politik den Zuzahlungen jetzt den Riegel vor, mit abstrusen Folgen. O-Ton Antje Schwartz, Geschäftsführerin Kids in Berlin : Das heißt für diese Kita hier zum Beispiel, dass wir die Verträge, die wir mit Dritten haben im Bereich Musikpädagogik oder im Sport, gekündigt haben, da wir uns an die Kündigungsfristen auch halten müssen. Das heißt, dass andere Angebote, die wir haben - wie das englische Sprachangebot - auf einem Prüfstand steht. In Berlin soll die Kita eben kostenfrei sein, egal um welchen Preis. Der kleine Samuel wächst wie viele hier mehrsprachig in einer multinationalen Familie auf, sein Vater fühlt sich von der Politik bevormundet. O-Ton Vater: Wir haben Familie und Freunde im Ausland und das ermöglicht die Kommunikation. Man eröffnet den Kindern ganz neue Kulturen und erzieht die Kinder auch, sag ich mal, zur Weltoffenheit. Doch die SPD hat die kostenfreie Kita zum Wahlkampfthema gemacht, sie ist Teil ihres Plans von sozialer Gerechtigkeit. Martin Schulz ist nicht der erste Genosse, der damit in diesem Jahr in einen Wahlkampf zieht. O-Ton Hannelore Kraft, SPD, ehemalige Ministerpräsidentin Nordrhein-Westfalen: Was bisher der Renner ist im Wahlkampf, kann ich wirklich

5 sagen, ist die kostenlose Kita für 30 Stunden. Das ist ganz wichtig für die Familien. Das ist eine enorme Entlastung. O-Ton Anke Rehlinger, ehemalige SPD-Spitzenkandidatin Saarland: Entlastung der Eltern bei den Kitabeiträgen zum Beispiel. O-Ton Thorsten Albig, SPD, ehemaliger Ministerpräsident Schleswig-Holstein: Das können sich junge Familien oft nicht leisten und deswegen wird meine Regierung über die nächsten Jahre dies abschaffen. Dass seine Parteifreunde damit ihre Wahlen verloren haben, das könnte Martin Schulz eigentlich nachdenklich stimmen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.