Kinder in der Notaufnahme mit Verdacht auf Misshandlung und Vernachlässigung
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- Calvin Waldfogel
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1 Kinder in der Notaufnahme mit Verdacht auf Misshandlung und Vernachlässigung - Eine rechtliche Betrachtung - Peter Lemke - Schulungen und Seminare zum Recht der Gesundheitsberufe
2 Übersicht Kriminalstatistik Rechtsgrundlagen BGB, SGB V + SGB VIII Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz Berufsordnungen Durchbrechung der Schweigepflicht Organisationsaufgaben einer Klinik Aufgaben von Ärzten und Pflegekräften in der Notaufnahme Handlungsempfehlung für Kliniken 2
3 Die Formen der Kindesmisshandlung sind körperliche und psychische Misshandlung, sexueller Missbrauch und Vernachlässigung 2012 wurden in Deutschland Fälle von Kindesmisshandlung ( 225 StGB) strafrechtlich zur Anzeige gebracht Es gibt eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Taten 2012 nahmen die Jugendämter laut Angaben des Statistischen Bundesamts Kinder und Jugendliche in Obhut, da diese in einer für sie akut gefährdenden Situation befanden In Deutschland wachsen etwa 5 % aller Kinder in Familien auf, die nach den Kriterien der Mannheimer Risikokinder-Studie als Hochrisikofamilien für Vernachlässigung gelten 3
4 1631 BGB Inhalt und Grenzen der Personensorge (1) Die Personensorge umfasst insbesondere die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. (3) Das Familiengericht hat die Eltern auf Antrag bei der Ausübung der Personensorge in geeigneten Fällen zu unterstützen. 4
5 42 SGB VIII Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet oder 2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen; im Fall von Satz 1 Nummer 2 auch ein Kind oder einen Jugendlichen von einer anderen Person wegzunehmen. 5
6 294a SGB V Mitteilung von Krankheitsursachen und drittverursachten Gesundheitsschäden (1) liegen Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vor, sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen sowie die Krankenhäuser nach 108 verpflichtet, die erforderlichen Daten, einschließlich der Angaben über Ursachen und den möglichen Verursacher, den Krankenkassen mitzuteilen. Bei Hinweisen auf drittverursachte Gesundheitsschäden, die Folge einer Misshandlung, eines sexuellen Missbrauchs oder einer Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen sein können, besteht keine Mitteilungspflicht nach Satz 1. 6
7 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKC) Anfang 2012 in Kraft getreten Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz Länderaufgabe: flächendeckende Schaffung verbindlicher Strukturen im Bereich Früher Hilfen der Zusammenarbeit der zuständigen Leistungsträger und Institutionen im Kinderschutz mit dem Ziel von Information und Abstimmung Organisation einer verbindliche Zusammenarbeit im Kinderschutz als Netzwerk durch den örtlichen Träger der Jugendhilfe Festlegung von Grundsätzen für verbindliche Zusammenarbeit landesrechtliche Meldepflichten wurden damit aufgehoben 7
8 4 KKC Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung (1) Werden 1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2.-7 in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. 8
9 ... in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, Ausnahme davon: soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. 9
10 (2) Die Personen nach Abs. 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren. Pseudonymisieren ist das Ersetzen des Namens oder anderer Identifikationsmerkmale durch Kennzeichen, um die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen/erheblich zu erschweren Hinzuziehung von Fachkräften der Jugendhilfe Befugnis zur Weitergabe erforderlicher Daten Einbeziehung in den geschlossenen Kreis i. S. des 203 StGB 10
11 (3) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Abs. 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Abs. 1 erfolglos und halten die in Abs. 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen. 11
12 Aktuelle Rechtslage Keine Meldepflicht für Einrichtungen im Gesundheitswesen keine gesetzlichen Meldepflichten für Ärzte oder nichtärztliche Mitarbeiter Meldepflichten können sich aber aus allgemeinen Strafrechtsbestimmungen ergeben In seltenen Fällen kann Körperverletzung durch Unterlassen oder Verlassen in hilfloser Lage gegeben sein, wenn eine eindeutige Sachlage festgestellt wurde und nur eine Meldung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine zu erwartende unmittelbare weitere schwere Misshandlung verhindern kann 203 Strafgesetzbuch 12
13 5 Berufsordnung Pflegekräfte HH Berufspflichten 2. Spezielle Berufspflichten: a) Schweigepflicht: Pflegefachkräfte sind grundsätzlich zur Verschwiegenheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufes anvertrauten oder bekannt gewordenen vertraulichen Informationen der ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen und deren Bezugspersonen verpflichtet; sie sind zur Offenbarung befugt, soweit dies gesetzlich bestimmt ist, sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes, insbesondere auch bei begründetem Verdacht einer Misshandlung, eines Missbrauchs oder einer schwerwiegenden Vernachlässigung, erforderlich ist;.., 13
14 9 (Muster)Berufsordnung BÄK Schweigepflicht (1). (2) Ärztinnen und Ärzte sind zur Offenbarung befugt, soweit sie von der Schweigepflicht entbunden worden sind oder soweit die Offenbarung zum Schutze eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist. Gesetzliche Aussage- und Anzeigepflichten bleiben unberührt. Soweit gesetzliche Vorschriften die Schweigepflicht der Ärztin oder des Arztes einschränken, soll die Ärztin oder der Arzt die Patientin oder den Patienten darüber unterrichten. 14
15 Die Diagnose Kindesmisshandlung ist schwerwiegend und sollte daher mit aller Vorsicht und nur gut belegt getroffen werden. Folgende anamnestische Informationen können auf eine Kindesmisshandlung hinweisen (Herrmann et al., Kindesmisshandlung, Springer 2010): verspätete Vorstellung des Kindes bei gravierenden Verletzungen häufige Arztbesuche auch bei wechselnden Ärzten/Kliniken Vorstellung des Kindes trotz deutlicher Verletzungsspuren wegen anderer, oft geringfügiger Beschwerden fehlende plausible Erklärung für Verletzungen Verletzungshergang wird durch verschiedene Personen unterschiedlich erklärt inadäquater Unfallmechanismus für das Alter bzw. den individuellen Entwicklungsstand 15
16 Rechtfertigung für eine Durchbrechung der Schweigepflicht Entbindung von der Schweigepflicht durch das Kind, sofern von einer Einwilligungsfähigkeit ausgegangen werden kann Entbindung von der Schweigepflicht durch einen Erziehungsberechtigten. Bei schwerwiegenden Schäden für das Kind können die Voraussetzungen für eine mutmaßliche Einwilligung gegeben sein Vorliegen eines "rechtfertigenden Notstands bei begründetem Verdacht nach 34 StGB - kein rechtswidriges Handeln, wenn die Gefahr für Gesundheit und Leben des Kindes so groß ist, dass eine Abwendung dieser Gefahr schwerer wiegt als die Einhaltung der Schweigepflicht. 16
17 34 StGB Rechtfertigender Notstand Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden. 17
18 Organisationsaufgaben einer Klinik Erstellung eines Leitfadens zum Thema Kindesmisshandlung mit Vorgehensweise bei Verdacht Darstellung der medizinischen Aspekte mit Anamnese und körperlicher Untersuchung Dokumentation Einbeziehung des Teams Kinderschutzgruppe Stationäre Phase unter Mitwirkung der Kinderschutzgruppe und des Instituts für Rechtmedizin Information Dritter Leitfaden für Pflegekräfte in nicht-medizinischen Krisensituationen 18
19 Aufgabe der Pflegekräfte bei der Ersteinschätzung nach MTS Schulung der Mitarbeiter hinsichtlich definierter Alarmzeichen und Warnhinweise Im Rahmen der Ersteinschätzung wird auf Alarmzeichen und Warnhinweise geachtet wie Misshandlungstypische Verletzung insb. hinsichtlich Lokalisation Plausibilität der Verletzungserklärung Formen der Verletzung Mehrzeitigkeit von Verletzungen Ausfüllen eines Checkliste als Grundlage für die Information der Ärzte Weitere Entscheidungen obliegen den Ärzten 19
20 Aufgabe der Ärzte in der Notaufnahme bei Verdacht Beachtung der Hinweise der nichtärztlichen Mitarbeiter Konkrete Feststellung hinreichender Anzeichen für eine Kindesmisshandlung Eindeutige Hinweise für eine Wiederholungsgefahr Klärung, ob ein Gespräch mit dem Kind/den Sorgeberechtigten ausreicht, Hinwirken auf die Inanspruchnahme von Hilfe Scheitert das Vorgehen oder verspricht es erkennbar keinen Erfolg, muss der Arzt prüfen, ob und welche Mitteilungen an Dritte geeignet und angemessen sind Beachtung der hausinternen Verfahrensregelungen Wenn Dritte einzuschalten sind, dann das Jugendamt Einschalten der Staatsanwaltschaft i.d.r. nicht sinnvoll 20
21 Handlungsempfehlung für Kliniken Erstellen einer Checkliste für den Erstkontakt in der Notaufnahme bei MTS-Ersteinschätzung für Verdachtsfällen Sofortige Information an der Oberarzt Prüfung: Indikation zu sofortiger forensischer kinder-/jugendgynäkologischer Notfall-Untersuchung Prüfung: Hinzuziehung der bestehenden Kinderschutzgruppe Prüfung: Gefahr im Verzug mit sofortiger Inobhutnahme zur Sicherung des Kinderschutzes erforderlich Bei akutem Verdacht ist das Kind stationär zwecks weiterer Überprüfung aufzunehmen Checkliste zum klinischen Ablauf bei Verdacht auf Kindesmisshandlung 21
22 8a SGB VIII Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen. (2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen. 22
23 KG Berlin 20. Zivilsenat Urteil vom Kommen Ärzte bei einer Behandlung von Kindern nach ärztlichem Standard zu dem ernstzunehmenden Verdacht einer Kindesmisshandlung, so ist die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht durch Information des Landeskriminalamtes und des Jugendamtes entsprechend 34 StGB gerechtfertigt. 2. Zur Rechtfertigung muss eine Misshandlung nicht erwiesen sein, auch ein hinreichender Tatverdacht gemäß 170 Abs. 1 StPO ist nicht erforderlich. 3. Es ist nicht Aufgabe der Ärzte, einen Verdacht auszuermitteln. Ausreichend ist, ob die festgestellten Verletzungen typischerweise durch eine Kindesmisshandlung hervorgerufen werden können, ein begründetet Verdacht vorliegt. 23
24 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 24
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