Fachgerechtes Vorgehen in Verfahren nach Sexualdelikten
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- Tobias Bieber
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1 Fachgerechtes Vorgehen in Verfahren nach Sexualdelikten ESTD Symposium vom 18. Januar 2016 STA lic. iur. Myriam Ernst
2 Übersicht Wie kann das Opfer vor der Belastung durch die Ermittlungen und die Verhandlung geschützt werden? Der Balanceakt zwischen den Rechten des Beschuldigten und den Schutzbedürfnissen des Opfers Überblick über Verjährungsfristen bei Sexualdelikten Was braucht es aus juristischer Sicht, damit ein Strafverfahren gegen einen Beschuldigten geführt werden kann? Inwieweit braucht es die Mitwirkung des Opfers?
3 Einleitung Relevante Grundlagen: Unschuldsvermutung Bis zur rechtskräftigen Verurteilung gilt ein Beschuldigter als unschuldig Der Staat muss die Schuld des Beschuldigten beweisen, nicht der Beschuldigte seine Unschuld Es ist die Pflicht des Staates, sowohl den belastenden als auch den entlastenden Beweisen nachzugehen Rechte Beschuldigter versus Rechte / Schutzbedürfnisse Opfer, Fachgerechtes Vorgehen in Verfahren nach Sexualdelikten
4 Rechte des Beschuldigten Auswirkungen der Unschuldsvermutung: schweigen dürfen sich nicht selbst belasten müssen lügen dürfen (Grenzen: Art StGB) Recht, sich zu verteidigen Recht, jederzeit einen Verteidiger beizuziehen Recht, sich zu den Aussagen der Geschädigten, Zeugen etc. zu äussern Recht, Beweisanträge zu stellen Akteneinsichtsrecht Teilnahmerecht Recht, bei allen Einvernahmen / relevanten Beweisabnahmen anwesend zu sein Recht, Ergänzungsfragen zu stellen
5 Rechte des Opfers allgemein (1) Recht auf Persönlichkeitsschutz Ausschluss Öffentlichkeit auch bei Gerichtsverhandlung i.d.r. keine Veröffentlichung des Namens Recht auf Begleitung durch Vertrauensperson Recht auf Schutzmassnahmen Vermeiden von Begegnung mit Täter Bei Gefahr Zusicherung von Anonymität (selten) Recht auf Information Zeugnisverweigerungsrecht in gewissen Konstellationen, Fachgerechtes Vorgehen in Verfahren nach Sexualdelikten
6 Rechte des Opfers allgemein (2) Zusätzliche Rechte bei Konstituierung als Privatkläger Möglichkeit der Teilnahme an Einvernahmen inkl. Recht Ergänzungsfragen zu stellen Information über wichtige Verfahrensschritte, inkl. Erledigung Recht, Beweisanträge zu stellen Möglichkeit, Zivilansprüche geltend zu machen (Genugtuung, Schadenersatz) Möglichkeit, unentgeltlichen Rechtsbeistand zu verlangen, Fachgerechtes Vorgehen in Verfahren nach Sexualdelikten
7 Rechte des Opfers Spezialfall Sexualdelikte Recht durch Person gleichen Geschlechts befragt zu werden Recht auf Übersetzung durch Person gleichen Geschlechts Recht, Aussagen zur Intimsphäre zu verweigern
8 Rechte des Opfers Spezialfall Kinder (unter 18 Jahre alt bei Einvernahme) Erste Einvernahme so rasch als möglich (meist vor Einvernahme Beschuldigter) Ausschlussmöglichkeit Vertrauensperson wenn erkennbar, dass Einvernahme zu schwerer psychischer Belastung führten könnte: i.d.r. nicht mehr als zwei Befragungen Einvernahme im Beisein von Spezialistin durch speziell ausgebildeten Ermittlungsbeamten (i.d.r. nicht durch STA) mit Videoaufzeichnung
9 Verjährungsfristen bei Sexualdelikten Es ist sehr kompliziert! Es gibt eine Verfolgungs- und eine Vollstreckungsverjährung Für die Beurteilung der Verfolgungsverjährung ist der Tatzeitpunkt von Relevanz sowie grundsätzlich das zu jenem Zeitpunkt geltende Recht Mehrere Revisionen in den letzten 15 Jahren, insbesondere im Bereich von sexuellen Handlungen mit Kindern Kompletter Systemwechsel im Jahr 2002 Grundsatz von lex mitior, dieser wird bei Sexualdelikten z.n. von Kindern unter 12 bzw. 16 Jahren sowie z.n. von Abhängigen unter 18 Jahren jedoch teilweise durchbrochen Bei minderjährigem Täter Anwendung des Jugendstrafrechts mit stark verkürzten Verjährungsfristen Aktuell geltendes Recht: Art. 97 bis 101 StGB (Fassung )
10 Verfolgungsverjährung: Art. 97 StGB 1 Die Strafverfolgung verjährt, wenn die für die Tat angedrohte Höchststrafe: a. lebenslängliche Freiheitsstrafe ist: in 30 Jahren; b. eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren ist: in 15 Jahren; c. eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ist: in 10 Jahren; d. eine andere Strafe ist: in 7 Jahren. 2 Bei sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187) und Abhängigen (Art. 188) sowie bei Straftaten nach den Artikeln 111, 113, 122, 124, 182, , 195 und 197 Absatz 3, die sich gegen ein Kind unter 16 Jahren richten, dauert die Verfolgungsverjährung in jedem Fall mindestens bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers. 3 Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen, so tritt die Verjährung nicht mehr ein. 4 Die Verjährung der Strafverfolgung von sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187) und minderjährigen Abhängigen (Art. 188) sowie von Straftaten nach den Artikeln , 122, 182, und 195, die sich gegen ein Kind unter 16 Jahren richten, bemisst sich nach den Absätzen 1-3, wenn die Straftat vor dem Inkrafttreten der Änderung vom 5. Oktober 2001 begangen worden ist und die Verfolgungsverjährung zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten ist.
11 Unverjährbarkeit: Art. 101 StGB 1 Keine Verjährung tritt ein für: a. ( ) b. ( ) c. ( ) d. ( ) e. 1 sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1), sexuelle Nötigung (Art. 189), Vergewaltigung (Art. 190), Schändung (Art. 191), sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten (Art. 192 Abs. 1) und Ausnützung der Notlage (Art. 193 Abs. 1), wenn sie an Kindern unter 12 Jahren begangen wurden. 2 2 Wäre die Strafverfolgung bei Anwendung der Artikel 97 und 98 verjährt, so kann das Gericht die Strafe mildern. 3 Die Absätze 1 Buchstaben a, c und d sowie 2 gelten, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 1. Januar 1983 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war. Absatz 1 Buchstabe b gilt, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe beim Inkrafttreten der Änderung vom 18. Juni 2010 dieses Gesetzes nach bisherigem Recht noch nicht verjährt war. Absatz 1 Buchstabe e gilt, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 30. November 2008 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war.
12 Vereinfachte Zusammenfassung der Verfolgungsjährung bei Sexualdelikten gemäss aktuellem Recht bei erwachsenen Tätern Opfer zum Tatzeitpunkt unter 12 Jahre alt (Art. 101 StGB) keine Verjährung, sofern Tat vor nach altem Recht noch nicht verjährt Fazit: Taten ab absolut unverjährbar Opfer zum Tatzeitpunkt unter 16 Jahre alt (Art. 97 Abs. 2 und 4) bzw. abhängiges Opfer zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt (Art. 188 StGB) keine Verjährung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahr des Opfers, sofern Tat vor nach altem Recht noch nicht verjährt Fazit: Taten ab absolut unverjährbar, wenn Opfer 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat
13 Zusammenfassung Verfolgungsverjährung (2) Alle übrigen Opfer: (in Klammer: Verjährungsfrist vor ) Menschenhandel (Art. 182 StGB): 15 Jahre Sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB): 15 Jahre Vergewaltigung (Art. 190 StGB): 15 Jahre Schändung (Art. 191): 15 Jahre Sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten (Art. 192 StGB): 10 (7) Jahre Ausnützen der Notlage (Art. 193 StGB): 10 (7) Jahre Exhibitionismus (Art. 194 StGB): 7 Jahre
14 Zusammenfassung Verfolgungsverjährung (3) Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB): 15 Jahre Sexuelle Handlungen mit Minderjährigen gegen Entgelt (Art. 196 StGB): 10 Jahre Pornographie (Art. 197 StGB): Zugänglich machen «softe Pornografie» an unter 16-Jährige (Ziff. 1): 10 Jahre Öffentlich ausstellen «softe Pornografie» ohne Vorwarnung (Ziff. 2): 3 Jahre Veranlassung Minderjährige an Mitwirkung Herstellung Pornografie (Ziff. 3): 10 Jahre Einfuhr, Herstellung, Zugänglichmachen, Erwerben, Besitzen etc. «harte Pornografie» (Ziff. 4) Tiere, Gewalt, nicht tatsächlich sex. Handlungen mit Minderjährigen: 10 Jahre tatsächlich sex. Handlungen mit Minderjährigen: 15 Jahre Einfuhr, Herstellung etc. (vgl. Ziff. 4) zum Eigenkonsum (Ziff. 5) Tiere, Gewalt, nicht tatsächlich sex. Handlungen mit Minderjährigen: 7 Jahre tatsächlich sex. Handlungen mit Minderjährigen: 10 Jahre Sexuelle Belästigung (Art. 198 StGB): 3 Jahre
15 Fazit Jeder Fall muss einzeln geprüft werden Überlassen Sie die Abklärungen zur Verjährung den Spezialisten
16 Was braucht es für die Eröffnung einer Strafuntersuchung Art. 309 StPO - Eröffnung der Strafuntersuchung 1 Die Staatsanwaltschaft eröffnet eine Untersuchung, wenn: a. sich aus den Informationen und Berichten der Polizei, aus der Strafanzeige oder aus ihren eigenen Feststellungen ein hinreichender Tatverdacht ergibt; b. sie Zwangsmassnahmen anordnet; c. sie im Sinne von Artikel 307 Absatz 1 *) durch die Polizei informiert worden ist. 2 Sie kann polizeiliche Berichte und Strafanzeigen, aus denen der Tatverdacht nicht deutlich hervorgeht, der Polizei zur Durchführung ergänzender Ermittlungen überweisen. 3 ( ) 4 ( ) *) schwere Straftaten und andere schwer wiegende Ereignisse
17 Hinreichender Tatverdacht Hinreichender Tatverdacht Ein hinreichender Tatverdacht ist gegeben, wenn ernsthafte Gründe für das Vorliegen einer Straftat gegeben sind. Hinreichender Tatverdacht ohne Aussagen des Opfers? Schwierig, da Sexualdelikte i.d.r. 4-Augen-Delikte Andere Möglichkeiten um zu hinreichendem Tatverdacht zu kommen? Aussagen Psychiater/Psychologe zu seinen Wahrnehmungen? Aussagen von Auskunftspersonen? Bilder, Videos, SMS, ärztliche Berichte etc.? Zwangsmassnahmen, um an solche Beweismittel zu kommen?
18 Zwangsmassnahmen Zwangsmassnahmen = Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die in die Grundrechte der Betroffenen eingreifen (Art. 196 StPO), z.b. Verhaftung, Hausdurchsuchung, körperliche Untersuchung, Telefonüberwachung etc. Voraussetzungen für Anordnung von Zwangsmassnahmen (Art. 197 StPO) Die Zwangsmassnahme ist gesetzlich vorgesehen Es liegt ein hinreichender Tatverdacht vor, je nach schwere der Zwangsmassnahme sogar ein dringender (Verhaftung, Telefonüberwachung etc.) Die damit angestrebten Ziele können nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden Die Bedeutung der Straftat rechtfertigt die Zwangsmassnahme
19 Dringender Tatverdacht Dringender Tatverdacht Ein dringender Tatverdacht liegt vor, wenn aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser vorliegen bzw. wenn die vorhandenen Beweise oder Indizien bereits für eine erhebliche oder hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung sprechen.
20 Beweismittel Aussagen (Geständnis) des Beschuldigten Personalbeweise bzw. Aussagen von Opfern, Zeugen, Auskunftspersonen und Mitbeschuldigten Sachbeweise (Bsp.): DNA-Spuren Spermaspuren Spuren von Latex Fingerabdrücke Ärztlich festgestellte Verletzungen beim Opfer Videoaufnahmen, Fotos SMS, Chats Tatrelevante Sicherstellungen beim Beschuldigten (Person / Wohnort etc.)
21 Problematik In der Regel handelt es sich bei Sexualdelikten um 4-Augen-Delikte Wenn der Beschuldigte die ihm gemachten Vorwürfe bestreitet, ist die Aussage des Opfers bei der Staatsanwaltschaft i.d.r. notwendig, um Anklage erheben zu können Selbst wenn der Beschuldigte den objektiven Tatbestand (sexueller Akt von «aussen» gesehen) nicht bestreitet, steht i.d.r. Aussage gegen Aussage («sie wollte es») Es ist Sache des Gerichtes, Aussagen zu würdigen Im Zweifelsfalle gilt «in dubio pro reo»
22 Tipps Da eine Strafuntersuchung ohne Mitwirkung des Opfer i.d.r. nicht möglich ist und eine grosse Belastung für das Opfer darstellen kann, gilt es mit dem Opfer genau zu klären was es mit der Strafverfolgung bezwecken will (z.b. Bestrafung des Täter, Bekanntwerden der Taten des Täters, Mitteilung des erlittenen Leides, [monetäre] Wiedergutmachung welche Konsequenzen eine Strafverfolgung haben kann (Retraumatisierung, Ächtung durch Familienmitglieder etc., abschliessendes Verarbeiten von schlimmen Erlebnissen) ob es bereit und stark genug ist, ein Strafverfahren von A bis Z durchzustehen (im schlimmsten Fall bis zu drei Befragungen [Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht] mit teils äusserst unangenehmen Fragen)
23 Tipps (2) Nehmen Sie bzw. das Opfer vor / nach einer Anzeigeerstattung Kontakt mit Opferhilfestellen auf, um dem Opfer den Ablauf eines Strafverfahrens aufzeigen zu können und die Unterstützung des Opfers sicherzustellen (Begleitung bei Einvernahmen, finanzielle Unterstützung) Bereiten Sie das Opfer beim Entschluss, Anzeige erstatten zu wollen, darauf vor, dass es trotz dem schwierigen Entscheid, sich dem Strafverfahren zu stellen und den daraus folgenden Einvernahmen mit zum Teil kritischen und belastenden Fragen, zu einem Freispruch kommen kann
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