Deutscher Bundestag Drucksache 17/6319 17. Wahlperiode 29. 06. 2011 Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, Priska Hinz (Herborn), Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeitsmarktpolitik In Beschäftigung und Perspektiven investieren statt Chancen kürzen Der Bundestag wolle beschließen: I. Der Deutsche Bundestag stellt fest: DervonderBundesregierungvorgestellteGesetzentwurfzurInstrumentenreformwurdeeindeutigvomRotstiftdesBundesministersderFinanzendiktiert. ErverlangtEinsparungenvonrund7,8Mrd.Eurobis2015.AndieserVorgabe undnichtaninhaltlichenerfordernissen orientierensichdievorgelegten Vorschläge.DamitdrohteinKahlschlagbeiderArbeitsförderung,derüberallim Landzuspürenseinwird.DieChancenvielerArbeitsloser,besondersvieler LangzeitarbeitsloserundSchwervermittelbareraufArbeitundTeilhabewerden zunichtegemachtunddiespaltungdesarbeitsmarktswirdsichweitervertiefen. Bereitsdie2010beschlossenenKürzungenbeimEingliederungstitelführenaktuellzueinemdrastischenRückgangderFörderaktivitätenderJobcenter.Die darüberhinausgehendengeplanteneinsparungenwerdendielagenocheinmal spürbarverschärfen.deutschlandsteuertunterdiesenvoraussetzungenaufeine Situation des Fachkräftemangels bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit zu. ObwohlderFachkräftebedarfwächst,werdenmitdemGesetzentwurfkeine Impulsegesetzt,umArbeitsloseintensiveralsbisherzuqualifizierenundihnen damitbrückeninarbeitzubauen.imgegenteil:wegenderkürzungenwirddie ZahlderQualifizierungenweiterzurückgehen.AuchdasgroßeProblemder geringenpartizipationvonlangzeitarbeitslosen,geringqualifiziertenoder Migrantinnen und Migranten an Weiterbildungen wird nicht gelöst. VollkommenfehlgeleitetsinddiePlänederBundesregierungzurBeschränkung dergründungenausarbeitslosigkeit.setztsichdiebundesregierungdurch, wirddiezahlderförderungenmassivzurückgehenundstattdessendiearbeitslosigkeitdergründungswilligenverlängert.dasisteinbärendienstandenbetroffenen,zumalnachgewiesenist,dassvieleneugründerinnenund-gründerzusätzlichearbeitsplätzeschaffenunddamitweiterenmenschenbeschäftigung bieten. Arbeitslose,dienichtkurzfristigundkostengünstigzuvermittelnsind,werden vonderbundesregierungabgeschrieben.ihnendrohtwegendereinseitigen OrientierungderFörderungaufeineschnelleIntegrationindenerstenArbeitsmarkt,dasssievollkommenabgehängtzuwerden.Einverlässlichersozialer Arbeitsmarkt rückt durch die Vorgaben der Bundesregierung in weite Ferne.
Drucksache 17/6319 2 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode FüreineerfolgreicheArbeitsförderungsindflexibleundpassgenaueinsetzbare Instrumentenotwendig,mitdenenfürArbeitsloseindividuelleWegeinArbeit gestaltetwerdenkönnen.dassetztvoraus,dassqualifiziertespersonalinden ArbeitsagenturenunddenJobcenternundgenügendMittelfürdieFörderungzur Verfügungstehen.DiebestenInstrumentesindnutzlos,wennkeinGeldfür QualifizierungenundFörderungvorhandenist.Gleichesgiltfürmehrdezentrale Handlungsspielräume.WennsichdasErmessenderArbeitsagenturenund Jobcenterdarinerschöpft,Förderungenablehnenzumüssen,dannistdieser Anspruch eine reine Farce. DiebesteStrategiefüreineerfolgreicheArbeitsmarktpolitikistdienachhaltige VermittlungvonmöglichstvielenArbeitslosenineineBeschäftigung,vonder sielebenkönnenunddieeineselbstbestimmteteilhabeermöglicht.diegute ArbeitsmarktlageistdafüreineidealeBasis.DasarbeitsmarktpolitischeGebot derstundelautetdaher,jetztinarbeitsloseundihrefähigkeitenzuinvestieren, damit sie vom Aufschwung profitieren können. II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, dieinstrumentenreformunddiearbeitsförderungsoauszugestalten,dassalle BetroffenendenerforderlichenZugangzuFörderung,Qualifizierung,BeschäftigungundSelbstständigkeiterhalten.Umdaszugewährleisten,sindfolgende Grundlagen zu schaffen: 1.AlsVoraussetzungfüreinequalitativhochwertigeBetreuungundeinindividuellesFallmanagementwerdendieJobcenterundArbeitsagenturenmitden dafürerforderlichenpersonellenundmateriellengrundlagenausgestattet. Die Kürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind zurückzunehmen. 2.DieüberdieArbeitsagenturenundJobcentergefördertenWeiterbildungsangebotesollenverstärktundaufGeringqualifiziertesowieaufAngebotemit einemanerkanntenberufsabschlussinzukunftsbranchenkonzentriertwerden.hierfüristesauchnotwendig,aufdieausschließlicheorganisationder WeiterbildungüberBildungsgutscheinezuverzichten.Darüberhinausistdie modulare,mitteilqualifikationenzuabsolvierendeweiterbildungzustärken, mit der berufliche Abschlüsse schrittweise erworben werden können. 3.GründungenausArbeitslosigkeitzählenzudennachweislicherfolgreichsten InstrumentenderaktivenArbeitsmarktpolitik.Zudemistnachgewiesen,dass vieleneugründerinnenund-gründerzusätzlichebeschäftigungschaffen. DahermussdieFörderungindieSelbstständigkeitfürallegründungswilligen ArbeitslosenoffenundinbewährterArtundWeiseerhaltenbleiben.Diesgilt unabhängigdavon,obdiearbeitslosigkeiterstseitkurzembestehtoder schon länger andauert. 4.ArbeitsgelegenheitenmitMehraufwandsentschädigungsinddaraufzukonzentrieren,Kompetenzenzustärken,Defizitezubeseitigenundaufeine Erwerbstätigkeitvorzubereiten.DafürwerdenArbeitsgelegenheitennurim RahmenumfassenderIntegrationsstrategienvergebenundaufPersonengruppenbegrenzt,diezunächststabilisiertwerdenmüssen.HierfürmüssenausreichendeMittelfürdenzusätzlichenBetreuungs-undBegleitungsbedarf dieserarbeitslosenzurverfügunggestelltunddieträgerpauschalenanders als geplant bedarfsgerecht ausgestaltet werden. 5.NebendemZugangzuFörderung,Qualifizierung,BeschäftigungundSelbstständigkeitfürArbeitslosesindBeschäftigungsangebotefürsolcheArbeitslosennotwendig,dieabsehbarkeineChanceaufdemerstenArbeitsmarkt haben.fürdiesemenschenwirdeinverlässlichersozialerarbeitsmarkteingerichtet.aufungeeigneteundnichtüberprüfbarekriterienwiediezusätzlichkeitmussverzichtetwerden.dieidentifizierungvontätigkeitsfeldern
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 3 Drucksache 17/6319 sollimkonsensmitdenlokalenakteurenvorgenommenwerden.überdie AktivierungpassiverMittelsollArbeitstattArbeitslosigkeitfinanziertwerden.DamitwirdTeilhabegesichertunddenArbeitslosendurchbegleitende FörderungenlangfristigwiederdieChanceaufIntegrationindenerstenArbeitsmarkteröffnet.DafüristauchdieVerzahnungmitanderenarbeitsmarktpolitischen Instrumenten erforderlich. 6.NebenderIntegrationsquoteindenerstenArbeitsmarktsindweitereErfolgsindikatorenfestzulegen,dieZwischenzieleaufdemWegzurBeschäftigungsaufnahmedarstellen.Damitwirdsichergestellt,dassauchdiePersonen,derenIntegrationindenerstenArbeitsmarktsichlangwierigergestaltetundmit höherenkostenverbundenist,intensivgefördertunddieerfolgedieserförderunganerkanntwerden.hierfürsindgeeignete,integrationsförderndeinstrumentevorzuhaltenundausreichendemittelfürdenzusätzlichenbetreuungs-undbegleitungsbedarfdieserarbeitslosenzurverfügungzustellen. AuchdieTrägerpauschalensindandersalsgeplantbedarfsgerechtauszugestalten. 7.ErfolgreicheFörderungenerfordernqualitätivhochwertigeundaufdieAnforderungenentsprechendzugeschnitteneMaßnahmen.Daherdarfbeider AuswahlvonMaßnahmennichtnurderPreis,sondernmüssenvorallem QualitätundPassgenauigkeitzudenentscheidendenKriteriengehören.DarüberhinaussolleninderVergabepraxisauchalternativeVerfahrenzurAnwendung kommen. Berlin, den 28. Juni 2011 Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion Begründung DieBundesregierunghateinenGesetzentwurfzurVerbesserungderEingliederungschancenamArbeitsmarktvorgelegt.DamitsollenmehrDezentralität,Flexibilität,Individualität,höhereQualitätundmehrTransparenzbeideraktiven Arbeitsmarktpolitikerreichtwerden.DochdiesenselbstgesetztenAnsprüchen wirddergesetzentwurfnichtgerecht.dieshängtvorallemdamitzusammen, dassmitderreformerheblicheeinsparvorgabenverbundensind:bis2015sollen7,8mrd.eurobeiderarbeitsförderungeingespartwerden.davonentfallen alleinaufdengründungszuschussmehrals5mrd.euro.fürdasgesamtpaket dervonänderungenbetroffeneninstrumentesollendemnach2015insgesamt 19 Prozent weniger ausgegeben werden als 2010. EineklarereStrukturderArbeitsförderungunddieStreichungwenigwirksamer Instrumentesinddurchaussinnvoll.GrundsätzlichnutzendiebestenInstrumentejedochnichts,wenndieAgenturenundJobcenternichtgenügendGeld undpersonalfürberatung,förderungundvermittlungzurverfügunghaben. VordemHintergrunddergeplantenundimBereichderGrundsicherungteilweisebereitsumgesetztenKürzungenistdiesjedochabsehbar.Dennschondie bereitsimjahr2010beschlossenenkürzungenbeideraktivenarbeitsmarktpolitikhabenzueinemerheblichenrückgangderförderungengeführt:inden erstenviermonatendesjahres2011sindimvergleichzumvorjahrdiezahlder WeiterbildungenummehralseinDrittel,dieSelbstständigenförderungumfast diehälfteunddiejobperspektiveumzweidrittelzurückgegangen.dieser dramatischerückgangkorrespondiertinkeinerweisemitdemrückgangder
Drucksache 17/6319 4 Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode Arbeitslosigkeit,insbesonderenichtimBereichdesArbeitslosengeldesII,in dem mittlerweile über 70 Prozent aller Arbeitslosen betreut werden. DienunimZusammenhangmitderInstrumentenreformbeabsichtigtenKürzungenbergendieGefahr,dassvielegeringqualifizierteArbeitslosevonderderzeit positivenentwicklungamarbeitsmarktabgeschnittenwerden.damitsiewiederaufdemarbeitsmarktfußfassenkönnen,brauchensieaktuelleundaufdem ArbeitsmarktnachgefragteQualifizierungen.DieseInvestitionenindieKompetenzenderArbeitslosensindhochrentabel,wiediewissenschaftlicheEvaluierungvonWeiterbildungsmaßnahmenzeigt.AuchderwachsendeBedarfder WirtschaftanFachkräftenzeigt,dassQualifizierungenArbeitslosenneuePerspektiven am Arbeitsmarkt eröffnen. GleichesgiltfürdieFörderungderSelbstständigkeitausderArbeitslosigkeit, dienachdenplänenderbundesregierungmassivzurückgefahrenwerdensoll, obwohlkaumeineandereförderungderartigeerfolgeaufweisenkann.auchin einerstellungnahmedesbundesministeriumsfürwirtschaftundtechnologie zurgeplanteninstrumentenreformheißtes: DieseeinseitigeMaßnahmeist wirtschafts-undarbeitsmarktpolitischfragwürdig.beiderförderungderselbständigkeithandeltessichumeinerfolgreichesinstrument,dasnichtnureinen vielversprechendenwegausderarbeitslosigkeitaufweist,sondern wievom IABfürdieVorgängerinstrumentenachgewiesen auchzusätzlichesozialversicherungspflichtige Beschäftigung schafft. NachdenPlänenderBundesregierungbleibtdieIntegrationindenerstenArbeitsmarkteinheitlichesZielderArbeitsmarktpolitikimZweitenundimDritten BuchSozialgesetzbuch (SGBIIundSGBIII).DarunterliegendeZwischenziele fürbesondersschwervermittelbarepersonenwerdennichteingeführt.mitdem alleinigenfokusaufdieaufnahmeungeförderterbeschäftigungbestehtjedoch diegefahr,dassmenschendauerhaftabgehängtwerden,dienichtkurzfristigzu vermittelnsind.negativwirktsichdarüberhinausdiebeabsichtigtedeckelung derträgerpauschalenamunterstenrandaus.damitwirdeine Bestenauslese befördert.dabeibietetdiederzeitigewirtschaftlichesituationbeirealistischer ZielsetzungundkonzentrierterFörderungeineguteChance,dieverfestigte Langzeitarbeitslosigkeitnachhaltigzureduzieren.DieserfordertjedochdieAbkehrvoneinerArbeitsmarktpolitik,fürdienurderschnellestatistischeErfolg zählt.einearbeitsmarktpolitik,dieaufnachhaltigenerfolg,teilhabeundintegrationallersetzt,erfordertauchangebotefürdiejenigen,derenwegeinden ersten Arbeitsmarkt komplexer und aufwändiger sind. Dasgiltauchfürdiejenigen,denenderersteArbeitsmarkttrotzderderzeitguten VerfassungabsehbarkeineChancebietet.FürsiemussübereinensozialenArbeitsmarktTeilhabeorganisiertwerden.DafürbedarfesverlässlicherStrukturen undeinergesichertenfinanzierung.dabeimussdieidentifizierungundorganisationvontätigkeitenderlokalenbzw.regionalenebeneübertragenwerden. ZurFinanzierungdieserBeschäftigungsverhältnisseistdieUmwandlungpassiverLeistungen (RegelsatzArbeitslosengeldII,KostenderUnterkunft,Sozial- versicherungsbeiträge,maßnahmekosten)mitdemsogenanntenpassiv-aktiv- TransferineinArbeitsentgeltzuermöglichen (vgl.auchantragderfraktion BÜNDNIS90/DIEGRÜNEN TeilhabeundPerspektivenfürLangzeitarbeitslosemiteinemverlässlichenSozialenArbeitsmarktschaffen,Bundestagsdrucksache 17/1205). DieVorschlägederBundesregierungerfüllendieseAnforderungennicht.Im Gegenteil:MitdenVorhabenderBundesregierungwerdendiewenigenpositivenAnsätzederletztenJahreindiesemSegmentzurückgedrängt.Notwendige Verbesserungenfehlenganz.SosorgtdiegesetzlicheFestschreibungderKriterien Zusätzlichkeit, öffentlichesinteresse und Wettbewerbsneutralität bei densog.ein-euro-jobsfürbesonderearbeitsmarktferne.siesindzudemkaum operationalisierbarundrechtssicherauszugestalten,wieauchderbundesrech-
Deutscher Bundestag 17. Wahlperiode 5 Drucksache 17/6319 nungshofunddiebundesagenturfürarbeitmonieren.dievorgesehenedeckelungderträgerpauschalewirdzurfolgehaben,dassbesondersbetreuungsintensivearbeitsloseunterdiesenbedingungenkaumeinechanceauf Förderunghabenwerden obwohlgeradesiedieadressatenvonein-euro-jobs wären. NegativwirktsichauchdieBudgetierungdesmodifiziertenBeschäftigungszuschussesaus.DurchdiebeabsichtigtenKürzungenkönnenwederderBedarf anöffentlichgeförderterbeschäftigungimsozialenarbeitsmarktgedecktnoch regionaleunterschiedeadäquatberücksichtigtwerden.durchdiezeitlichebegrenzungderinstrumentewerdenzudemkünstlicheförderlückengeschaffen, die einer sinnvollen Integrationsstrategie entgegenstehen.
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