Die Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens Zur Konkretisierung der hypothetischen Kausalität - A never ending story Professor Dr. Thomas M.J. Möllers Universität Augsburg
Wer eine vertragliche Aufklärungs- oder Beratungspflicht verletzt, den trifft die Beweislast dafür, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, weil sich der Geschädigte über jeden Rat oder Hinweis hinweggesetzt hätte. BGH (VII. Senat), Urt. v. 5.7.1973, BGHZ 61, 118 Bastelwettbewerb. Beweislastumkehr In Verträgen mit rechtlichen Beratern gilt die Vermutung, dass der Mandant beratungsgemäß gehandelt hätte, nur, wenn nach der Lebenserfahrung bei vertragsgemäßer Leistung des Beraters lediglich ein bestimmtes Verhalten nahegelegen hätte. Diese Vermutung bewirkt keine Beweislastumkehr, sondern bildet einen Anwendungsfall des Anscheinsbeweises ( ). BGH (IX. Senat), Urt. v. 30.9.1993, BGHZ 123, 311 Steuerlast bei Ausscheiden aus einer Gesellschaft. Anscheinsbeweis Steht eine Aufklärungspflichtverletzung fest, streitet für den Anleger die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens, das heißt, dass der Aufklärungspflichtige beweisen muss, dass der Anleger die Kapitalanlage auch bei richtiger Aufklärung erworben hätte ( ). BGH (XI. Senat), Urt. v. 12.5.2009, BKR 2009, 342 Kickback IV. Beweiserleichterung? 3
I. Einführung 1. Rechtsansichten des BGH und der Literatur Kläger / Anleger Beweislast beim Kläger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt XI./III./VI. Senat: Beweislastumkehr, aber Voraussetzung, dass kein Entscheidungskonflikt vorliegt BGHZ 124, 151 IX. Senat: Anscheinsbeweis: Lebenserfahrung BGHZ 123, 311 VII. Senat: Beweislastumkehr BGHZ 61, 118 - Erfolgsbezogene Pflichten Canaris/ Dieckmann - Aufklärungsfehler bezieht sich auf konkret zu treffende Entscheidung Stackmann/ Repgen/ BGH 4
2. Rechtsliteratur Kläger / Anleger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt Anspruch (+) Anspruch (-) (1) Erfolgsbezogene Pflichten (1) verhaltensbezogene/allgemeine Aufklärungsfehler bezieht sich auf konkret zu treffende Aufklärungspflicht Entscheidung (2) Anleger hätte aufklärungsgerecht gehandelt (2) Entscheidungskonflikt = kein Entscheidungskonflikt BGH und Rechtsliteratur Anleger hätte sich trotz sachgerechter Aufklärung genauso verhalten Auch bei Entscheidungskonflikt (str.) Canaris, in FS Hadding, 2004, S. 3 5
II. Grundlegende Interessen und Wertungen Kläger / Anleger Rekonstruktion einer inneren Tatsache hypothetischen Willenserklärung Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt 6
Zwischenergebnis Bisherige Ergebnisse unbefriedigend Zielvorgaben Suche nach einer «vermittelnden» Ansicht 1. Vermeidung des Alles-oder-Nichts-Prinzips Beweislastumkehr v. Entscheidungskonflikt; voller Schadensausgleich oder Klageabweisung 2. Sicherstellung angemessener Ergebnisse 3. Vermeidung rechtsdogmatischer Beliebigkeit und einer beliebigen Einzelfallrechtsprechung 7
III. Konkretisierung des Rechts 1. durch Fallgruppen 2. durch tatbestandsähnliche Voraussetzungen 3. durch angemessene Beweiswürdigung 8
III. Konkretisierung des Rechts 1. durch Fallgruppen Kläger / Anleger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt - Totalverlust (wertlose Optionen) - Kaum zu erzielende Gewinne - Schwerwiegender Interessenkonflikt - Finanztermingeschäfte, 37d WpHG a.f. (str.) - Steuersparmodelle - Kick-Back (str.) Arzthaftungsrecht - Down-Syndrom-Kind - Behindertes Kind, aber: Entscheidungskonflikt (Wahrscheinlichkeit) Anspruch (+) Anspruch (-) 9
III. Konkretisierung 2. durch einzelne Voraussetzungen Kläger / Anleger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt 1. Wesentliche Informationspflichtverletzung unwesentlich (objektiv) - bezogen auf konkreten Vertragsgegenstand allgemeine Aufklärung - Vertragsvereitelung (Äquivalenzstörung) - schwerwiegender Interessenskonflikt - einfacher Interessenkonflikt - zeitliche Nähe zur Anlageentscheidung - zeitlich lange zurückliegender Aufklärungsfehler 2. Subjektive Perspektive des Aufklärungsberechtigten schutzbedürftig nicht aufklärungsbedürftig - informiert, desinteressiert, risikobereit Anspruch (+) Anspruch (-) 10
III. Konkretisierung 2. durch einzelne Voraussetzungen Kläger / Anleger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt 1. Wesentliche Informationspflichtverletzung unwesentlich (objektiv) - bezogen auf konkreten Vertragsgegenstand allgemeine Aufklärung - Vertragsvereitelung (Äquivalenzstörung) (Steuersparmodelle) (wertlose Optionen; kaum Gewinnmöglichkeit, Finanztermingeschäfte, str.) - schwerwiegender Interessenskonflikt, Kick-back 15% - einfacher Interessenkonflikt (Kick-back, str.) - zeitliche Nähe zur Anlageentscheidung - zeitlich lange zurückliegender Aufklärungsfehler (Prospekthaftung; konkrete Anlagestimmung) 2. Subjektive Perspektive des Aufklärungsberechtigten schutzbedürftig nicht aufklärungsbedürftig - informiert, desinteressiert, risikobereit Anspruch (+) Anspruch (-) 11
IV. Beweislast und Beweiswürdigung Kläger / Anleger Beweislast beim Kläger Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt (1) Aufklärung bezieht sich auf konkretes Ziel (2) Es darf kein Entscheidungskonflikt vorliegen Anscheinsbeweis Beweislastumkehr 12
IV. Beweislast und Beweiswürdigung Beweislastumkehr Anscheinsbeweis Beweiswürdigung Vortrag des rechtmäßigen Alternativverhaltens 13
Beweiswürdigung nach Eintrittswahrscheinlichkeit Substantiierter Vortrag Plausibles Vortragen: (1) Wahrscheinlichkeit, dass Anlage nicht erworben = aufklärungsgerechtes Verhalten (OGH) nicht / sicherer/ mit geringerem Schaden Investiert = aufklärungsgerecht verhalten Substantiiertes Bestreiten (2) Hypothetisches Alternativverhalten: hypothetische Alternativanlage / andere Entscheidung hätte ebenfalls Schaden verursacht (str.) (3) Hypothetisches Alternativverhalten: Schaden wäre bei alternativer Anlage nicht eingetreten = alle Anlagen hätten bessere/ sichere Performance ausgewiesen Indizien: objektiv: wesentliche Pflichtverletzung, Vertragsvereitelung etc. subjektiv: Anlageverhalten (4) Kein Entscheidungskonflikt (BGH) = alle Alternativen kamen nicht in Betracht 14
Kläger / Anleger Eintrittswahrscheinlichkeit Beklagte Bank/ Arzt/ Rechtsanwalt (1) Plausibles Vortragen: Wahrscheinlichkeit, dass sich Kläger aufklärungsgerecht verhalten hätte; (2) Substantiiertes Bestreiten nicht / sicherer/ mit geringerem Schadeninvestiert hätte Hypothetisches Alternativverhalten: Alternativanlage / andere Entscheidung (3) Substantiierte Replik hätte ebenfalls Schaden verursacht (str.) Indizien/ Anknüpfungstatsachen: 1. Wesentliche Informationspflichtverletzung unwesentlich (objektiv) - bezogen auf konkreten Vertragsgegenstand allgemeine Aufklärung - Vertragsvereitelung (Äquivalenzstörung) (Steuersparmodelle) (wertlose Optionen; kaum Gewinnmöglichkeit, Finanztermingeschäfte - schwerwiegender Interessenskonflikt, Kick-back 15%) - einfacher Interessenkonflikt (Kick-back, str.) - zeitliche Nähe zur Anlageentscheidung - zeitlich lange zurückliegender Aufklärungsfehler (Prospekthaftung; konkrete Anlagestimmung) 2. Subjektive Perspektive des Aufklärungsberechtigten - schutzbedürftig nicht aufklärungsbedürftig - informiert, desinteressiert, risikobereit Anspruch (+) Anspruch (-) (4) Kein Entscheidungskonflikt (BGH) = alle Alternativen kamen nicht in Betracht 15
Zusammenfassung (1) Vortrag: plausibles Behaupten und substantiiertes Bestreiten 1. Versuch einer abschließenden Prüfungsfolge (2) Benennung von objektiven und subjektiven Anknüpfungstatsachen durch die Parteien (Fallgruppen und Voraussetzungen) (3) Beurteilung nach Wahrscheinlichkeiten (4) Anrechnung von Schadenspositionen 2. Abgrenzung zur bisherigen Rechtsprechung - Alles oder nichts: Beweislastumkehr v. Entscheidungskonflikt - Stattdessen: Beweiswürdigung nach Fallgruppen und Voraussetzungen - Schadensanrechnung möglich - Non-liquet kann letztlich vermieden werden auf Entscheidungskonflikt kommt es nicht an - Höhere rechtsdogmatische Präzisierung und damit höheres Maß an Rechtssicherheit 16
Die Vermutung aufklärungsgerechten Verhaltens 17