Analysis III Kurzskript

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Transkript:

Analysis III Kurzskript Prof. Dr. Wolfgang Reichel Institut für Analysis Karlsruher Institut für Technologie WS 2009/2010

Inhalt 1 Abstrakte Maß- und Integrationstheorie 3 1.1 R (erweitertes reelles Zahlensystem)............... 3 1.2 σ-algebren und Meßbarkeit................... 4 1.3 Positive Maße........................... 6 1.4 Elementarfunktionen....................... 7 1.5 Integration positiver Funktionen................. 8 1.6 Vertauschung von Integration und Grenzübergängen; Integration reell- bzw. komplexwertiger Funktionen.......... 9 1.7 Vollständige Maßräume...................... 11 2 Konstruktion des Lebesgueschen Maßes im R n 13 3 Das Lebesguesche Integral im R n 16 3.1 Zusammenhang mit dem Riemann-Integral........... 16 3.2 Prinzip von Cavalieri....................... 17 3.3 Satz von Fubini.......................... 18 3.4 Die Substitutionsregel...................... 19 3.5 Anwendungen der Substitutionsregel.............. 21 4 Integralsätze von Gauß, Stokes 33 4.1 Gaußscher Integralsatz in der Ebene.............. 33 4.2 Flächen im R 3 ; Vektorprodukt.................. 36 4.3 Gaußscher Integralsatz im R 3.................. 42 4.4 Integralsatz von Stokes...................... 49 4.5 m-dimensionale Flächen im R n, (m < n)............ 52 1

INHALT 2 5 L p -Räume und Fourier-Reihen 57 5.1 Konvexe Funktionen und Integralungleichungen........ 57 5.2 L p -Räume............................. 59 5.3 Dichte Teilmengen in L p (X)................... 62 5.4 Fourier-Reihen (Begriffe und Definitionen)........... 63 5.5 Punktweise Konvergenz der Fourier-Reihe........... 64 5.6 L 2 -Konvergenz der Fourier-Reihe................ 67

Kapitel 1 Abstrakte Maß- und Integrationstheorie 1.1 R (erweitertes reelles Zahlensystem) Definition 1.1. R = R {+, } heißt erweitertes reeles Zahlensystem. Wir benutzen folgende Schreibweisen: R = [, ] sowie [a, ] := [a, ) {+ }, [, a] := (, a] { } falls a R analog (a, ], [, a). a R definiert man a + = + a :=, a = + a := ist nicht definiert falls a > 0 a = a = falls a < 0 0 falls a = 0 a, b R sei [a, b] = {x R : a x b}, analog [a, b), (a, b], (a, b). Definition 1.2. Auf R werden folgende Mengen als offen erklärt ( ) [, a), (b, ], (a, b) a, b R, sowie deren beliebige Vereinigungen. Übung: U offen in R U ist höchstens abzählbare Vereinigung von Mengen der Form ( ). Definition 1.3. Eine Funktion f : D R n R heißt stetig, falls für jede offene Menge V R gilt: f 1 (V ) D ist relativ offen in D, d.h. es existiert eine offene Menge U R n mit f 1 (V ) = U D. 3

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 4 Beispiel (Übung): R R (a) f : 1 x, x 0 x, x = 0 R \ {0} R (b) g : x 1 x 0 x ist stetig auf R. hat keine stetige Fortsetzung auf R. Hinweis zu (a): Es genügt zu zeigen: f 1 (I) offen für offene Mengen der Form I = (a, b), (a, ], (, b), denn f 1 ( I α ) = f 1 (I α ). Benutze das Resultat der Übung nach Definition 1.2 α A α A 1.2 σ-algebren und Meßbarkeit Gegeben: Grundmenge X. P(X) = Menge aller Teilmengen von X. Definition 1.4. Ein Mengensystem M P(X) heißt σ-algebra über X falls gilt (a) X M, (b) aus A M folgt A c = X \ A M, (c) falls A i M i N dann ist A i M. i=1 Die Elemente von M heißen meßbare Mengen. meßbarer Raum. Das Paar (X, M) heißt Definition 1.5. Sei M σ-algebra über X. Eine Funktion f : X Y mit Y = R, C oder R p, p 1, heißt meßbar, falls für jede offene Menge V Y gilt: f 1 (V ) M. Korollar 1.6 (Eigenschaften meßbarer Mengen). (i) M (ii) A 1,..., A n M n A i M i=1 ( (iii) A i M falls A i M i N, denn c A i = Ai) c. i=1 i=1 i=1

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 5 Korollar 1.7 (Eigenschaften meßbarer Funktionen). (i) f : X R p meßbar, g : R p R q stetig g f : X R q meßbar. Gleiches gilt, wenn R p bzw. R q durch R/C ersetzt wird. (ii) u, v : X R meßbar, φ : R 2 R 2 stetig die Funktion h : X R 2 definiert durch h(x) = φ(u(x), v(x)), x X ist meßbar. (iii) u, v : X R meßbar u + iv : X C meßbar. (iv) w : X C meßbar Rew, Imw, w : X R meßbar. (v) w 1, w 2 : X C meßbar w 1 + w 2, w 1 w 2 : X C meßbar. 0 x / E (vi) Sei E X und χ E (x) = die charakteristische Funktion 1 x E der Menge E. Dann gilt: χ E meßbar E M. Satz 1.8. Sei (X, M) ein meßbarer Raum und f : X R. Dann gilt f meßbar α R ist f 1 ((α, ]) M. Erinnerung: Für Folgen (a n ) n N in R gilt lim inf n N a n = sup{inf a k}, i 1 k i lim sup a n = inf {sup a k }. n N i 1 k i Gleiches gilt für Zahlenfolgen in R. Für Funktionenfolgen f n : X R setzt man x X x X ( ) lim inf f n (x) := lim inf f n(x), n N n N ( lim sup n N ) f n (x) := lim sup f n (x). n N Satz 1.9. Sei (X, M) meßbarer Raum und f n : X R meßbar n N. Dann gilt: die Funktionen sind meßbar. G = sup f n, n N g = inf n N f n, H = lim sup f n n N h = lim inf n N f n

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 6 Korollar 1.10. (X, M) sei ein meßbarer Raum. (a) Falls f n : X R meßbar ist n N und f(x) = lim n f n (x) für alle x X existiert, dann ist f meßbar. (b) f : X R meßbar f + = max{f, 0}, f = min{f, 0}, f meßbar. 1.3 Positive Maße Definition 1.11. Sei (X, M) ein meßbarer Raum. Eine Funktion µ : M [0, ] heißt positives Maß, falls gilt: (a) es gibt eine Menge A M mit µ(a) < +, ( ) (b) A i M i N und A i A j = für i j µ A i = µ(a i ). i=1 i=1 (X, M, µ) heißt Maßraum. Beispiele: 1) (Dirac-Maß) Sei X, M = P(X) und x 0 X fest gewählt. Für A M sei 0, x 0 / A µ x0 (A) = 1, x 0 A. 2) (Zählmaß) Sei X, M = P(X). Für A M sei (A) falls A nur endlich viele Elemente enthält µ(a) = sonst. (A) =Anzahl der Elemente von A. 3) X = {1, 2, 3, 4, 5, 6}, µ = 1 6 Zählmaß. A = {1, 3, 5} =Ereignis, daß 1,3 oder 5 gewürfelt wird. µ(a) = 1, µ( ) = 0, µ(x) = 1. µ ist ein 2 Wahrscheinlichkeitsmaß.

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 7 Satz 1.12 (Eigenschaften von Maßen). Sei (X, M, µ) Maßraum. (1) µ( ) = 0 ( n ) (2) A 1,..., A n paarweise disjunkt µ A i = n µ(a i ) i=1 i=1 (3) A B µ(a) µ(b) ( ) (4) i N sei A i M, A 1 A 2 A 3 µ A i = lim µ(a i ) i=1 i (5) i ( N sei A i M, A 1 A 2 A 3 und µ(a 1 ) < ) µ A i = lim µ(a i ) i=1 i Achtung: X = N, µ =Zählmaß, A i = {i, i + 1, i + 2,...}, A = A i =, 0 = µ(a) lim i µ(a i ) =, d.h. die Voraussetzung µ(a 1 ) < ist wichtig in Satz 1.12 (5). i=1 1.4 Elementarfunktionen Definition 1.13. Eine reellwertige Funktion s : X R heißt Elementarfunktion, falls s nur endlich viele Werte annimmt. Falls s(x) = {α 1,..., α k }, definiere A i = s 1 ({α i }), i = 1,..., k. Damit besitzt s die Darstellung s = k α i χ Ai. i=1 Lemma 1.14. Sei (X, M) meßbarer Raum, s = k i=1 α iχ Ai eine Elementarfunktion. Dann gilt: s meßbar A 1,..., A k meßbar. Aufgabe: R sei gegeben durch Seien a, b, x 0 R mit a < b, x 0 > 0. Die Funktion ϕ : [0, ] a, 0 x < x 0, ϕ(x) = b, x x 0. Sei f : X [0, ] messbar. Dann ist ϕ f : X R messbar. Lösung: h = ϕ f, h 1 ((α, ]) = f 1 (ϕ 1 ((α, ])) und b α ϕ 1 ((α, + ]) = [x 0, ] a α < b [0, ] α < a.

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 8 In jedem Fall ist das Urbild ϕ 1 ((α, + ]) eine abgeschlossene Menge. Da für abgeschlossene Mengen A [0, ] gilt, daß f 1 (A) M, folgt die Meßbarkeit von h. Satz 1.15. Sei (X, M) meßbarer Raum und f : X [0, ] meßbar. Dann existieren meßbare Elementarfunktionen s n : X [0, ], n N mit den Eigenschaften: (a) 0 s 1 s 2... f (b) x X gilt lim n s n (x) = f(x). 1.5 Integration positiver Funktionen Sei (X, M, µ) ein Maßraum. Definition 1.16. (a) s : X [0, ) sei meßbare Elementarfunktion mit s = k i=1 α iχ Ai. Für A M definiere A s dµ := k α i µ(a i A). i=1 (b) Sei f : X [0, ] meßbar und S = {s : X [0, ), s meßbare Elementarfunktion, 0 s f auf X}. Für A M definiere A A f dµ := sup s dµ. s S A f dµ heißt Integral von f über A bezüglich µ. Satz 1.17 (Eigenschaften des Integrals). Sei (X, M, µ) ein Maßraum. f, g : X [0, ] seien meßbar und A, B M. Dann gilt: (a) f g A f dµ A g dµ (b) A B A f dµ B f dµ

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 9 (c) A f dµ = X f χ A dµ (d) c [0, ] A cf dµ = c A f dµ (e) f(x) = 0 x A f dµ = 0 (selbst wenn µ(a) = ) A (f) µ(a) = 0 f dµ = 0 (selbst wenn f + ). A Lemma 1.18. Sei (X, M, µ) ein Maßraum. (a) Ist s : X [0, ) messbare Elementarfunktion, dann wird für A M durch ν(a) := s dµ ein Maß ν auf M erklärt. A (b) Sind s, t : X [0, ) messbare Elementarfunktionen, dann gilt ( ) (s + t) dµ = s dµ + t dµ A M. A A 1.6 Vertauschung von Integration und Grenzübergängen; Integration reell- bzw. komplexwertiger Funktionen Es sei stets (X, M, µ) Maßraum. Satz 1.19 (Satz über monotone Konvergenz). Falls gilt: (i) n N ist f n : X [0, ] meßbar (ii) n N ist f n (x) f n+1 (x) x X dann ist die Funktion f(x) := lim n f n (x), f : X [0, ] meßbar und lim n X f n dµ = X A f dµ. Korollar 1.20. Sei f n : X [0, ] meßbar n N. Dann ist die Funtion f : X [0, ] definiert durch f(x) := f n (x) meßbar und es gilt X f dµ = n=1 n=1 X f n dµ.

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 10 Satz 1.21 (Lemma von Fatou). Sei f n : X [0, ] meßbar n N. Dann gilt X Gleichheit gilt i.a. nicht. (lim inf n N f n) dµ lim inf n N X f n dµ. Satz 1.22 (Verbesserung von Lemma 1.18). Sei f : X [0, ] meßbar. Dann wird für A M durch ν(a) = f dµ ein Maß ν auf M erklärt und A es gilt ( ) X g dν = X Schreibweise: dν = f dµ. gf dµ meßbaren Funktionen g : X [0, ]. Definition 1.23 (Integral für reell-/komplexwertige Funktionen.). Sei L 1 (X; µ) = {f : X C meßbar mit f dµ < } = Menge der integrierbaren Funktionen. Sei f L 1 (X; µ), u = Re f, v = Im f. Für A M definiere ( ) f dµ = u + dµ u dµ + i v + dµ v dµ. A A A Bemerkung: A A Wegen Korollar 1.7, Korollar 1.10 sind u, v, u +, u, v +, v messbar. Wegen u + u f, u u f etc. sind alle vier Integrale in der obigen Definition endlich, d.h. die Subtraktion ist möglich ( wurde vermieden). Satz 1.24 (Linearität des Integrals). Seien f, g L 1 (X; µ) und α, β C. Dann ist αf + βg L 1 (X; µ) und es gilt (αf + βg) dµ = α f dµ + β X X X X g dµ. Satz 1.25 (Dreiecksungleichung.). Für f L 1 (X; µ) gilt f dµ f dµ. X Satz 1.26 (Satz über dominierte Konvergenz.). Sei f n : X C meßbar n N und es gelte f n (x) n f(x) x X. Falls eine Funktion g L 1 (X; µ) existiert mit f n (x) g(x) x X, dann ist f L 1 (X; µ) und es gilt lim f n f dµ = 0; lim f n dµ = f dµ. n X n X X X

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 11 1.7 Vollständige Maßräume Sei (X, M, µ) ein Maßraum. Eine Menge N M mit µ(n) = 0 heißt Nullmenge. Falls N N und N M so wäre auch µ(n ) = 0. Allerdings ist die Bedingung N M i.a. nicht garantiert. Definition 1.27. Ein Maßraum (X, M, µ) heißt vollständig, falls jede Teilmenge einer Nullmenge N M ebenfalls zu M gehört. Satz 1.28 (Vervollständigung eines Maßraums). Sei (X, M, µ) ein Maßraum. Dann existiert eine σ-algebra M M und ein Maß µ auf M so dass gilt (a) (X, M, µ ) ist vollständig (b) A M gilt µ(a) = µ (A). Fazit: vollständig sind. Wir können o.b.d.a. stets annehmen, daß alle auftretenden Maßräume Definition 1.29 (Bedeutung der Nullmengen). Sei (X, M, µ) ein vollständiger Maßraum, f, g, f n : X R, C seien meßbare Funktionen und A M. Man sagt: (a) f g fast überall (f.ü.) auf A, falls eine Nullmenge N M existiert mit f(x) g(x) x A \ N. (b) f = g f.ü. auf A, falls eine Nullmenge A M existiert mit f(x) = g(x) x A \ N. n (c) f n f f.ü. auf A, falls eine Nullmenge N M existiert mit f n (x) n f(x) x A \ N. Eigenschaften der fast überall Schreibweise: (1) f, g : X R bzw. C, f meßbar und f = g f.ü. auf X g messbar. (2) f, g : X R bzw. C, f L 1 (X; µ), f = g f.ü. auf X g L 1 (X; µ) und X f dµ = X g dµ.

KAPITEL 1. ABSTRAKTE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE 12 (3) Die Sätze 1.19, 1.26 gelten unter schwächeren Voraussetzungen. Monotone Konvergenz: 0 f n f n+1 f.ü. auf X lim n f n (x) = f(x) existiert f.ü. auf X und es gilt X f n dµ n X f dµ. Dominierte Konvergenz: f n (x) g(x) f.ü. auf X, g L 1 (X; µ) X f n dµ n X f dµ.

Kapitel 2 Konstruktion des Lebesgueschen Maßes im R n J R heißt beschränktes Intervall, falls J die Form (a, b), (a, b], [a, b) oder [a, b] mit a b, a, b R hat. Die Länge von J wird definiert durch J := (b a). Auch die leere Menge ist ein beschränktes Intervall mit = 0. Definition 2.1. I R n heißt beschränktes Intervall, falls beschränkte Intervalle J 1,..., J n R existieren mit I = J 1... J n. I = n J i heißt n-dimensionaler Inhalt von I. i=1 Definition 2.2 (Äußeres Lebesguesches Maß.). Sei A Rn beliebig. Dann heißt { } λ(a) := inf I i, mit A I i, I i R n beschränktes Intervall i N i=1 i=1 äußeres Lebesguesches Maß von A. Achtung: λ : P(R n ) [0, ] ist kein Maß (vgl. ( Satz 2.4): es existieren ) paarweise disjunkte Mengen A i R n, i N, mit λ A i λ(a i ). i=1 i=1 Satz 2.3 (Eigenschaften des äußeren Maßes). (a) A B λ(a) λ(b) ( ) (b) λ A i λ(a i ) (hier wird die paarweise Disjunktheit nicht gefordert) i=1 i=1 13

KAPITEL 2. KONSTRUKTION DES LEBESGUESCHEN MASSES IM R N 14 (c) A = i=1 λ(a) = I i I i, I i R n beschränkte Intervalle mit I i I j i=1 (d) λ ist invariant unter Verschiebungen. für i j Satz 2.4. λ ist kein Maß auf P(R n ). Im Beweis wird das Auswahlaxiom benutzt: Sei C eine Menge von nichtleeren Mengen. Dann existiert eine Funktion F definiert auf C mit F (Y ) Y Y C. Die Funktion F heißt Auswahlfunktion. Definition 2.5 (Lebesguesche σ-algebra). Eine Menge A R n heißt Lebesguemeßbar, falls gilt λ(e) = λ(e A) + λ(e A c ) E R n. L(R n ) = {A R n, A Lebesgue-meßbar}. Bemerkung: (1) Die obige Definition geht auf Constantin Carathéodory 1873-1950 zurück. (2) Beachte: es gilt immer λ(e) λ(e A) + λ(e A c ) nach Satz 2.3 (b). Definition 2.6 (Borelsche σ-algebra). B = {M : M ist σ-algebra auf R n, die alle offenen Mengen enthält} B heißt Borel sche σ-algebra. Sie ist die kleinste σ-algebra auf R n, die alle offenen Mengen enthält. Bemerkung: Aus T 1.1 folgt, daß B eine σ-algebra ist. Satz 2.7 (Hauptsatz zum Lebesgue-Maß). (1) (R n, L, λ) ist ein vollständiger Maßraum. (2) L B (3) λ ist ein Maß auf L, welches invariant unter Bewegungen des R n ist. Definition 2.8. Sei a = (a 1,..., a n ) R n, δ > 0. Dann heißt {x = (x 1,..., x n ) R n : a i x i < a i + δ : i = 1,..., n} halboffener Würfel mit der Seitenlänge δ und Ecke a.

KAPITEL 2. KONSTRUKTION DES LEBESGUESCHEN MASSES IM R N 15 Lemma 2.9. Sei k N 0 und P k = 2 k Z n und Ω k = Menge aller halboffenen Würfel der Seitenlänge 2 k mit Ecke in P k. Ist O R n offen und nichtleer, dann existieren höchstens abzählbar viele, paarweise disjunkte Würfel W i Ω k mit W i = O. k=0 Bemerkung: Ist W Ω k und W Ω k mit k < k, dann folgt entweder W W = oder W W. Abschließende Bemerkungen; G δ -Mengen Definition 2.10. Eine Menge H R n heißt G δ -Menge, falls offene Mengen G k R n, k = 1, 2,..., existieren mit H = G k. k=1 Bemerkung: G δ -Mengen sind Lebesgue-messbar. Satz 2.11. (a) Für A R n ist λ(a) = inf{λ(g), G A offen }. (b) A R n ist Lebesgue-messbar ε > 0 offene Menge G A mit λ(g \ A) < ε. (c) Zu A R n existiert eine G δ -Menge H A mit λ(h) = λ(a). (d) A R n ist Lebesgue-messbar G δ -Menge H A mit λ(h \A) = 0. Bemerkung: Die Aussagen (a), (c) gelten für beliebige Teilmengen A des R n.

Kapitel 3 Das Lebesguesche Integral im R n Sei (R n, L(R n ), λ) der Lebesguesche Maßraum. Für A L(R n ) sei die Funktion f : A R meßbar sowie f L 1 (A), d.h. f dλ <. Das A Lebesguesches Integral bezeichnen wir mit f dλ. Weitere Notationen sind: A f dx, f(x) dx, f(x A A A 1,..., x n ) d(x 1,..., x n ). 3.1 Zusammenhang mit dem Riemann-Integral Sei I = [a, b] R, f : I R Riemann-integrierbar. Wir schreiben zur besseren Unterscheidung der beiden Integrale R b f dx für das Riemanna Integral. Satz 3.1. Sei f : I = [a, b] R Riemann-integrierbar. Dann ist f Lebesgueintegrierbar und es gilt R b a f dx = b a f dλ. Bemerkung: R 1 sin x x Riemann-Integral, aber R 1 d.h. sin x x sin x dx = lim dx existiert als uneigentliches 1 x dx existiert nicht, da K R 1 / L 1 ([1, ]), d.h. 1 R K K sin x x sin x x sin x x dx K, dλ existiert nicht im Lebesgueschen Sinn. 16

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 17 3.2 Prinzip von Cavalieri Idee: Wir beschreiben zunächst ohne Beweis die Idee des Prinzips von Cavalieri am Beispiel des Kugelabschnitts M = {(x, y, z) R 3 : x 2 + y 2 + z 2 R, z h}, wobei h (0, R) fest gewählt wurde. Um das Volumen von M zu bestimmen geht man wie folgt vor: (Cavalieri) λ 3 (M) = R h λ 2 (M ϱ ) dϱ, wobei M ϱ = {(x, y) R 2 : x 2 +y 2 R 2 ϱ 2 } der 2-dimensionale Schnitt von M mit der Hyperebene z = ϱ ist. Hierbei bezeichnet λ n das Lebesgue-Maß im R n. Das 2-dimesionalen Maß des Kreises M ϱ mit Radius R 2 ρ 2 ist gegeben durch λ 2 (M ϱ ) = π(r 2 ϱ 2 ) (Begründung folgt später). Folglich ist nach dem Cavalierischen Prinzip R λ 3 (M) = π(r 2 ϱ 2 ) dϱ = h ) π (R 2 (R h) R3 h 3 3 = 1 3 (3R2 Rh h 2 )(R h). Nun entwickeln wir das Cavalierische Prinzip im Detail. Im folgenden sei stets z = (x, y) R n, x R p, y R q, p + q = n.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 18 Definition 3.2. Sei A R n und y R q. Dann heißt A y = {x R p : z = (x, y) A} der Schnitt von A mit dem affinen Unterraum {(x, y) : x R p }. Lemma 3.3. (a) Sind B R p, C R q offen (G δ -Mengen) so ist B C R n offen (G δ -Menge). (b) Ist A R n offen (G δ -Menge) so ist jeder Schnitt A y R p offen (G δ - Menge). Satz 3.4 (Prinzip von Cavalieri). Sei A R n Lebesgue-meßbar. Dann ist für fast alle y R q die Menge A y R p Lebesgue-meßbar. Die fast überall auf R q definierte Funktion y λ p (A y ) ist Lebesgue-meßbar und es gilt ( ) λ n (A) = λ p (A y ) dy. R q 3.3 Satz von Fubini Satz 3.5 (Satz von Fubini für nichtnegative Funktionen). Sei f : R n [0, ] Lebesgue-meßbar. Dann gelten folgende Aussagen: (a) Für fast alle y R q ist die Funktion R p [0, ] f(, y) : x f(x, y) Lebesgue-meßbar. (b) Für fast alle y R q ist F (y) := R p f(x, y) dx definiert und die Funktion F : R q [0, ] ist Lebesgue-meßbar. (c) Es gilt f(z) dz = R n F (y) dy = R q R q ( ) f(x, y) dx R p dy.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 19 Bemerkung: In (b) muß F auf ganz R q z.b. durch F (y) = 0 fortgesetzt werden. Satz 3.6 (Satz von Fubini, 2. Form). Sei f : R n R messbar und es gelte ( ) f(z) dz = f(x, y) dx dy <. R n R q R p Dann gelten die Aussagen (a) (c) von Satz 3.5, wobei meßbar durch integrierbar zu ersetzen ist. Bemerkung: (1) Man beachte, daß die Gleichheit der beiden Integrale in der Voraussetzung von Satz 3.6 bereits aus Satz 3.5 folgt. Entscheidend ist hier die Bedingung der Endlichkeit der beiden Integrale. (2) Ist f L 1 (A) und A L(R n ), so folgt ( ) f dz = fχ A dz = f(x, y)χ Ay (x) dx dy A R n R q R ( ) p = f(x, y) dx dy. R q A y 3.4 Die Substitutionsregel Ziel: Formulierung von Bedingungen an φ : H G, H offen und f : G R so dass gilt f(x) dx = f(φ(y)) det Dφ(y) dy. G H Dazun benötigen wir als Vorbereitung die nächsten vier Sätze: Satz 3.7. Ist G R n offen und ist φ : G R n eine C 1 -Abbildung mit det Dφ(x) 0 x G so bildet φ offene Mengen auf offene Mengen ab. Satz 3.8 (Lemma von Sard). Ist G R n offen und φ : G R n eine C 1 -Abbildung, dann gilt λ(φ(a)) det Dφ(x) dx A für jede Menge A G, A L(R n ), wobei λ das äußere Maß im R n bezeichnet. Der Beweis findet sich im Anhang zu diesem Kapitel.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 20 Satz 3.9. Ist G R n offen und φ : G R n eine injektive C 1 -Abbildung mit det Dφ(x) 0 x G, dann gilt die Aussage: aus A G, A L(R n ) folgt φ(a) L(R n ). Satz 3.10. Ist M R n n Matrix, dann gilt λ(ma) = det M λ(a) A R n, wobei λ das äußere Maß ist. Beachte: Im allgemeinen gelten die Regeln f( A i ) f(a i ), f( A i ) = f(a i ). Ist jedoch f injektiv, so gilt sogar: f( A i ) = f(a i ), f( A i ) = f(a i ), f(a \ B) = f(a) \ f(b). Bemerkung: Für A L(R n ) folgt die Aussage von Satz 3.10 mit auch aus dem Lemma von Sard. Die Verbesserung zu = ist dann leicht zu zeigen. Satz 3.11 (Die Substitutionsregel). Sei H R n offen und φ : H R n eine injektive C 1 -Abbildung mit det Dφ 0 in H sowie G := φ(h). Dann gilt: (a) f : G [0, ] meßbar F = (f φ) det Dφ : H [0, ] meßbar. Ist dies der Fall, so gilt f(x) dx = f(φ(y)) det Dφ(y) dy. G H (b) Für f : G R gilt die Aussage in (a), falls man meßbar durch integrierbar ersetzt. Heuristische Beschreibung der Substitutionsregel im Fall f 1. Warum gilt λ(g) = det Dφ(y) dy? H

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 21 Sei W H ein Würfel mit Mittelpunkt x. ergibt sich für y W Aus der Taylor-Formel für φ φ(y) φ(x) + Dφ(x)(y x). Damit ist λ(φ(w )) λ(dφ(x)w ) = det Dφ(x) λ(w ). Die Substitutionsregel folgt durch Aufsummieren über viele kleine Würfel. 3.5 Anwendungen der Substitutionsregel (a) Ebene Polarkoordinaten Sei (x, y) R 2. Dann existieren r 0 und ϕ [0, 2π) mit (x, y) = (r cos ϕ, r sin ϕ) = φ(r, ϕ). Man sieht leicht, daß r = x 2 + y 2 gelten muß. Etwas schwieriger ist die Definition von ϕ: Nachträglich muß die Definition von φ = arctan y im ersten Bild auf den x ersten Quadaranten {(x, y) R 2 : x > 0, y 0} eingeschränkt werden. Wir betrachten nun die Abbildung Q R 2 \ P φ : (r, ϕ) (r cos ϕ, r sin ϕ)

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 22 sowie die Mengen Q = {(r, ϕ) R 2 : r > 0, 0 < ϕ < 2π} P = {(x, 0) : x 0}. Dann bildet φ die Menge Q bijektiv auf R 2 \ P ab. Für die Jacobimatrix von φ gilt Dφ(r, ϕ) = cos ϕ sin ϕ r sin ϕ r cos ϕ, det Dφ(r, ϕ) = r > 0 auf Q. Als Beispiel sei B R (0) = {(x, y) : x 2 +y 2 < R 2 }. Dann ist B R (0) = B R (0)\P offen und mit Q R = {(r, ϕ) : 0 < r < R, 0 < ϕ < 2π} ist dann die Abbildung ϕ : Q R B R (0) bijektiv. Für Funktionen f L 1 (B R (0)) erhält man λ(p )=0 f(x, y) d(x, y) = f(r cos ϕ, r sin ϕ)r d(r, ϕ) B R (0) Fubini = gb R (0) R ( 2π 0 0 ) f(r cos ϕ, r sin ϕ)rdϕ dr Als Anwendung berechnen wir das Integral A = e x2 dx (es ist keine explizite Stammfunktion von e x2 bekannt). Der Trick ist zuerst A 2 anstatt A zu berechnen: A 2 = = Polarkoordinaten = Folglich ist A = π. e x2 dx ( 2π 0 0 = 2π e r2 2 (b) Zylinderkoordinaten in R 3 Sei (x, y, z) R 3. bleibt unverändert: e y2 dy ) e (x2 +y 2) dy e r2 r dr dϕ = 2π = π. 0 dx Fubini = 0 R 2 e (x2 +y2) d(x, y) e r2 r dr Wir führen in der x, y-ebene Polarkoordinaten ein, z (x, y, z) = (r cos ϕ, r sin ϕ, z) = φ(r, ϕ, z).

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 23 Dann ist die Abbildung Q R 3 \ P φ z : (r, ϕ, z) (r cos ϕ, r sin ϕ, z) eine Bijektion, wobei Q = {(r, ϕ, z) R 3 : r > 0, 0 < ϕ < 2π, z R}, P = {(x, 0, z) R 3 : x 0, z R} = P R. Für die Jacobimatrix folgt cos ϕ r sin ϕ 0 Dφ z (r, ϕ, z) = sin ϕ r cos ϕ 0, det Dφ z(r, ϕ, z) = r > 0 auf Q. 0 0 1 Als Beispiel betrachten wir das Paraboloid B = {x 2 + y 2 z, 0 z 1} und berechnen das Integral B x2 + y 2 d(x, y, z). Mit den Mengen Q = {(r, ϕ, z), 0 < r < z, 0 < z < 1, 0 < ϕ < 2π} B = {(x, y, z) : 0 x 2 + y 2 < z, 0 < z < 1} \P }{{} offen ist φ z : Q B bijektiv. Damit erhalten wir x2 + y 2 d(x, y, z) = x2 + y 2 d(x, y, z) = B = eb 2π 1 z 0 = 2π 3 0 1 0 0 eq r 2 dr dz dϕ = 2π z 3/2 dz = 4 15 π r 2 d(r, ϕ, z) 1 0 r 3 3 z 0 dz

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 24 (c) Kugelkoordinaten in R 3 R 3 (x, y, z) = (r cos ϕ sin θ, r sin ϕ sin θ, r cos θ) =: φ 3 (r, ϕ, θ), mit r 0, ϕ [0, 2π), θ [0, π]. Die Abbildung Q R 3 \ P φ 3 : (r, ϕ, θ) (r cos ϕ sin θ, r sin ϕ sin θ, r cos θ) ist eine Bijektion, wobei Q = {(r, ϕ, θ) : r > 0, 0 < ϕ < 2π, 0 < θ < π} P = {(x, y, z) R 3 : x 0, y = 0}. Dφ 3 (r, ϕ, θ) = Für die Jacobideterminante gilt cos ϕ sin θ r sin ϕ sin θ r cos ϕ cos θ sin ϕ sin θ r cos ϕ sin θ r sin ϕ cos θ cos θ 0 r sin θ det Dφ 3 (r, ϕ, θ) = cos θ ( r 2 sin θ cos θ) r sin θ r sin 2 θ = r 2 sin θ 0 auf Q. Als Beispiel betrachten wir die Kugelschale: K = {(x, y, z) : ϱ 2 x 2 + y 2 + z 2 R 2 )} K = {(x, y, z) : ϱ 2 < x 2 + y 2 + z 2 < R 2 )} \ P offen Q = {(r, ϕ, θ) : ϱ < r < R, 0 < ϕ < 2π, 0 < θ < π}

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 25 Dann gilt f d(x, y, z) = K ek f d(x, y, z) = R 2π π ϱ 0 0 (f φ 3 )r 2 sin θ dθ dϕ dr Beachte: Die Abbildung φ 3 läßt sich auch wie folgt darstellen: wir wählen zunächst Zylinderkoordinaten (x, y, z) = φ z (ϱ, φ, z) = (ϱ cos ϕ, ϱ sin ϕ, z). In der (z, ϱ)-ebene führen wir nun Polarkoordinaten (r, θ) ein (z, ϱ) = (r cos θ, r sin θ), r 0, 0 θ π (da ϱ 0). Damit ist (ϱ, ϕ, z) = (r sin θ, ϕ, r cos θ) = ψ(r, ϕ, θ). Das bedeutet φ 3 = φ z ψ. (d) n-dim Polarkoordinaten (n 3) Sei x = (x 1, x 2..., x n ) R n. x 1 = r cos ϕ sin θ 1 sin θ 2 sin θ 3... sin θ n 2 x 2 = r sin ϕ sin θ 1 sin θ 2 sin θ 3... sin θ n 2 x 3 = r cos θ 1 sin θ 2 sin θ 3... sin θ n 2 x 4 = r cos θ 2 sin θ 3... sin θ n 2. x n 1 = r cos θ n 3 sin θ n 2 x n = r cos θ n 2 mit r 0, 0 ϕ < 2π, 0 θ i π für i = 1,..., n 2. Dann ist x = φ n (r, ϕ, θ 1,..., θ n 2 ), wobei die Abbildung φ n wie folgt definiert ist: Q R n \ P φ n : (r, ϕ, θ 1,..., θ n 2 ) φ n (r, ϕ, θ 1,..., θ n 2 ) mit Q = {(r, ϕ, θ 1,..., θ n 2 ) : r > 0, 0 < ϕ < 2π, 0 < θ i < π, i = 1,..., n 2} P = {x R n : x 1 0, x 2 = 0} Darstellung: x = φ z ( ϱ, ϕ, θ 1,..., θ }{{ n 3, x } n ) := (φ n 1(ϱ, ϕ, θ 1,..., θ n 3), x n ). Polarkoordinaten in R n 1 Führe in der (x n, ϱ)-ebene 2-dimensionale Polarkoordinaten ein ϱ = r sin θ n 2 x n = r cos θ n 2

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 26 Dann gilt (ϱ, ϕ, θ 1,..., θ n 3, x n ) =(r sin θ n 2, ϕ, θ 1,..., θ n 3, r cos θ n 2 ) = : ψ(r, ϕ, θ 1,..., θ n 2 ) und wir erhalten φ n = φ z ψ. Nun bestimmen wir die Jacobideterminante von φ n. Behauptung: det Dφ n = r n 1 sin θ 1 (sin θ 2 ) 2... (sin θ n 2 ) n 2 Induktion: det Dφ z = ϱ n 2 sin θ 1 (sin θ 2 ) 2 (sin θ n 3 ) n 3 (Induktions-Voraussetzung) det Dψ = r, ϱ = r sin θ n 2 Damit erhalten det Dφ n = r n 1 sin θ 1 (sin θ 2 ) 2 (sin θ n 3 ) n 3 (sin θ n 2 ) n 2. Nun können wir das Volumen der n-dimensionalen Einheitskugel berechnen: 1 dx B 1 (0) = 1 2π π 0 0 0 π 0 = 1 n 2π π r n 1 sin θ 1 sin 2 θ 2 (sin θ n 3 ) n 3 (sin θ n 2 ) n 2 dθ 1... dθ n 2 dϕdr π sin θ 1 (sin θ 2 ) 2 (sin θ n 3 ) n 3 (sin θ n 2 ) n 2 dθ 1... dθ n 2 } 0 0 {{ } =:ω n Es gilt ω 2 = 2π, ω 3 = 4π, ω 4 = 2π 2, ω 5 = 8 3 π2. Im Allgemeinen erhalten wir für ω n die folgende Darstellung. Satz 3.12 (Bestimmung von ω n ). ω n = 2πn/2 Γ( n 2 ), wobei Γ(x) := 0 e t t x 1 (x > 0) die Eulersche Gammafunktion ist. Zur Vorbereitung des Beweises von Satz 3.12 benötigen wir die beiden folgenden Resultate:

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 27 Lemma 3.13. (a) Für x > 0 gilt Γ(x + 1) = xγ(x) (b) Γ(n + 1) = n!, n N 0 (c) Γ( 1 2 ) = 0 e t t dt = π Lemma 3.14. Sei m N 0 bzw. m N. Dann gilt Beispiel: π 0 π 0 sin 2m+1 θ dθ = sin 2m θ dθ = 2m (2m 2)... 4 2 (2m + 1)(2m 1)... 5 3 2 (2m 1)(2m 3)... 3 1 2m (2m 2)... 4 2 π Wir berechnen das Gravitationspotential einer homogenen Kugel. Gegeben seine zuerst zwei Massen: eine Masse m im Punkt x und eine Masse M im Punkt y. Beiden Massen ziehen sich an. Die Anziehungskraft, die die Masse M aus m ausübt ist gegeben durch das Newtonsche-Gravitationsgesetz: F = γmm y x y x = γmm y x 3 y x 2 y x = mγm 1 x y x. Die skalare Funktion γm 1 heißt Gravitationspotential des punktförmigen y x Körpers der Masse M im Punkt y. Etwas allgemeiner gilt für das Gravitationspotential eines ausgedehnten Körpers Ω R 3 mit Massendichte ϱ: Z(x) := 1 ϱ(x) 4π x y dy. Ω Dabei ist der Faktor 1 eine (mathematische, keine physikalische) Normierung. 4π Beispiel: Ω = B R (0), ϱ(y) = ϱ =const. Z(x) = ϱ 4π 1 B R (0) x y dy. }{{} U(x)

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 28 Es gilt U(x) = U(Ax), A O(n). Zum Nachweis betrachte man 1 y=az 1 U(Ax) = dy = det A dz = U(x). Ax y Ax Az B R (0) B R (0) Aufgrund der Rotationssymmetrie von U(x) genügt es, U(x) für die speziellen Punkte x = (0, 0, x 3 ), x 3 > 0 zu berechnen. Dazu führen wir Kugelkoordinaten ein: U(0, 0, x 3 ) = (y 1, y 2, y 3 ) = (r cos ϕ sin θ, r sin ϕ sin θ, r cos θ) = 2π = 2π x 3 = 2π x 3 R 2π π 0 0 R 0 R 0 R 0 0 r x 3 r 2 sin θ r2 + x 2 3 2x 3 r cos θ π r 2 + x 2 3 2x 3 r cos θ 0 dθ dφ dr dr r( r 2 + x 2 + 2rx 3 r 2 + x 2 2rx 3 ) dr r(r + x 3 r x 3 ) dr. 1.Fall: x 3 R. Dann ist U(0, 0, x 3 ) = 2π R x 3 0 2r2 dr = 4π R3 3 x 3 2.Fall: 0 < R < x 3. In diesem Fall gilt U(0, 0, x 3 ) = 2π x 3 = 2π ( x3 0 2r 2 dr + R x 3 ( 2x 3 3 x 3 3 + x 3(R 2 x 2 3) ( = 2π R 2 1 ) 3 x2 3 ) 2rx 3 dr ) Aufgrund der Rotationsinvarianz von U und damit von Z erhalten wir das Ergebnis: Z(x) = ϱ ( R3, x R 3 x ) R ϱ 2 1 2 6 x 2, x < R. Außerhalb der Kugel stimmt Z(x) überein mit dem Potential einer Punktmasse in 0 mit M = 4 3 πr3 ϱ. Newton erhielt dieses Ergebnis ca. 1680. Als Konsequenz konnte er große Himmelskörper als Punktmassen auffassen. Er konnte damit aus seinem Gravitationsgesetz heraus beweisen, daß die Bahnen der Planeten um die Sonne die Form von Ellipsen haben (diesen Schluß hatte bereits Kepler aufgrund zahlreichen Beobachtungen gezogen).

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 29 Anhang (Lemma von Sard) Folgende Konstruktionen sind als Hilfsmittel für das Lemma von Sard erforderlich: (i) Zu A R n und ε > 0 sei die ε-umgebung A ε von A erklärt als A ɛ := {x R n : dist(x, A) < ε}, wobei dist(x, A) = inf{ x a, a A}. (ii) Für A R n gilt A ε = A. ε>0 (iii) Gilt für A R n stets lim ε 0 λ(a ε ) = λ(a)? Die Antwort ist nein, wie folgendes Beispiel zeigt: A = Q R, λ(q) = 0, λ(q ε ) = λ(r) =. Aber: ist A R n beschränkt und abgeschlossen so gilt tatsächlich: A ε = A = A εk, ε k 0. ε>0 k=1 Da nämlich λ(a ε1 ) < folgt λ(a) = lim k λ(a εk ), woraus sich die Behauptung ergibt. (iv) Ist (A k ) k N eine Folge abgeschlossener, nichtleerer Mengen im R n mit A 1 A 2..., und diama k 0 für k (dabei ist diama k der Durchmesser von A k definiert durch diama k = sup{ x y, x, y A k }) so gilt: es existiert genau ein ξ R n mit A k = {ξ}. (v) Sei (A k ) k N eine Folge abgeschlossener Mengen wie in (iv) und f : A 1 R stetig. Dann gilt: k=1 1 f(x) dx k f(ξ). λ(a k ) A k Zum Beweis sei ε > 0. Dann δ > 0 : f(x) f(ξ) < ε falls x ξ < δ. Für k k 0 : x ξ < δ x A k, d.h. 1 ( ) λ(a k ) f(x) f(ξ) dx 1 f(x) f(ξ) dx < ε. λ(a k ) A k A k Lemma 1. Sei W R n ein abgeschlossener Würfel und f C 1 (W ; R n ). Dann gilt λ(f(w )) W det Df(x) dx, wobei λ das äußere Maß im R n bezeichnet. Die gleiche Aussage gilt, wenn W ein beliebiger (offener, halboffener) Würfel ist.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 30 Bemerkung: Es sei erwähnt, wie die Aussage für offene Würfel aus der für abgeschlossene folgt (für halboffene gilt eine ähnliche Argumentationskette). Ist W ein offener Würfel, so gibt es abgeschlossene Würfel W 1 W 2... W mit W = k=1 W k. Es folgt λ(f(w )) = lim λ(f(w k )) lim det Df(x) dx k k W k = lim χ Wk (x) det Df(x) dx = det Df(x) dx, k W W wobei zuletzt der Satz über monotone Konvergenz benutzt wurde. Aus diesem Lemma folgt Satz 2 (Sardsches Lemma). Sei G R n offen und f C 1 (G; R n ). Ist A G Lebesgue-meßbar, dann gilt ( ) λ(f(a)) wobei λ das äußere Maß im R n bezeichnet. A det Df(x) dx, Beweis: 1. Sei A G offen. Nach Lemma 2.9 existieren höchstens abzählbar viele, halboffene, paarweise disjunkte Würfel W k mit A = k W k. Dann folgt λ(f(a)) λ(f(w k )) det Df(x) dx k k W k = χ Wk (x) det Df(x) dx = det Df(x) dx. k A A Im letzten Schritt ist (im Fall unendlicher Summe) Summation und Integration aufgrund des Satzes über monotone Konvergenz vertauschbar. 2. Sei H G eine beschränkte G δ -Menge mit H G. Da H kompakt ist, ist det Df(x) eine beschänkte, stetige Funktion auf H. Als G δ -Menge ist H darstellbar als H = k=1 G k mit offenen, beschränkten Mengen G 1 G 2... und G G 1 H. Damit folgt wegen f(h) k=1 f(g k) und der Beschränktheit von f(g 1 ) λ(f(h)) lim λ(f(g k )) lim det Df(x) dx k k G k = lim k G 1 χ Gk (x) det Df(x) dx.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 31 Im letzten Integral ist der Integrand beschränkt und damit det Df(x) eine obere Schranke in L 1 (G 1 ). Mit dem Satz von der majorisierten Konvergenz folgt λ(f(h)) lim χ Gk (x) det Df(x) dx G k 1 = χ H (x) det Df(x) dx = det Df(x) dx. G 1 H 3. Sei H G eine beschränkte G δ -Menge. Dann ist H = k=1 H B k mit B k = 1 {x G : k + 1 dist(x, G) < 1 } für k 2, k (3.1) B 1 = {x G : 1 dist(x, G)}. (3.2) Man beachte, daß die Mengen B k selbst G δ -Mengen sind. Auf der Menge H k := H B k gilt nach 2. die Abschätzung ( ). Da H k paarweise disjunkt sind folgt wie unter 1. λ(f(h)) λ(f(h k )) k=1 det Df(x) dx = H k k=1 H det Df(x) dx. 4. Sei H G eine beliebige G δ -Menge. Dann ist H = k=1 H A k mit G δ - Mengen A k = {x R n : (k 1) x < k}. Für die beschränkte G δ -Menge H A k gilt ( ) wegen 3. Mit ähnlicher Argumentation wie unter 3. folgt ( ) für H. 5. Sei A G eine meßbare Menge. Dann existiert nach Satz 2.11 eine G δ -Menge H mit G H A und λ(h \ A) = 0. Es folgt λ(f(a)) λ(f(h)) det Df(x) dx H = det Df(x) dx + det Df(x) dx, A H\A } {{ } =0 da H \ A Maß Null hat. Damit ist ( ) für alle meßbaren Teilmengen von G vollständig bewiesen. Folgerung: Es sei K = {x G : det Df(x) = 0} die Menge der kritischen Punkte der Funktion f in der Menge G. Dann gilt für die Menge f(k) der kritischen Werte von f die Beziehung λ(f(k)) = 0.

KAPITEL 3. DAS LEBESGUESCHE INTEGRAL IM R N 32 Allgemeiner Satz von Morse-Sard: Sei G R n offen und f : G R m eine C k -Abbildung. Ist K = {x G : rangdf(x) < m} wiederum die Menge der kritischen Punkte von f und k max{n m+1, 1} so gilt λ m (f(k)) = 0. Beispiel: Sei G R n offen und f : G R eine C n -Funktion. Nun ist die Menge der kritischen Punkte von f gegeben durch K = {x G : f(x) = 0} und es gilt λ(f(k)) = 0. Bezeichnen wir mit N c := {x G : f(x) = c} die Niveaumenge von f zum Niveau c, so gilt die Aussage: für fast alle Niveaus c f(g) gilt: f(x) 0 x N c. Folgerung: Mit dem Satz über implizit definierte Funktionen ergibt sich eine wichtige Folgerung. Für fast alle Niveaus c f(g) gilt: ist x ein Punkt der Niveaumenge N c so kann man lokal um x die Niveaumenge als Funktionsgraphen dartstellen, d.h. in einer Umgebung von x gilt: falls z.b. f x n (x) 0. f(x) = c x n = g(x 1,..., x n 1 ) Man betrachte als Beispiel die Niveaumengen der Funktion f : R 2 R, f(x, y) = x 2 y 2. Lediglich die Nullniveaumenge läßt sich in der Nähe des Punktes (0, 0) nicht als Funktionsgraph beschreiben. Für alle anderen Niveaumengen ist dies lokal immer möglich.

Kapitel 4 Integralsätze von Gauß, Stokes 4.1 Gaußscher Integralsatz in der Ebene Definition 4.1. Es sei I = [a, b] und h 1, h 2 C(I) mit h 1 (x) < h 2 (x) x (a, b). Dann heißt A = {(x, y) R 2 : a x b, h 1 (x) y h 2 (x)} abgeschlossenes Normalgebiet bzgl. der y-achse und B = {(x, y) R 2 : a y b, h 1 (y) x h 2 (y)} heißt abgeschlossenes Normalgebiet bzgl. der x-achse [vgl. Analysis II, Definition 9.1]. Definition 4.2. Sei C R 2 eine stückweise glatte Jordankurve mit Parametrisierung ψ : [a, b] C auf Bogenlänge mit ψ(t) = (ξ(t), η(t)). Dann heißt τ ± = ±(ξ (t), η (t)) Tangente an C im Punkt ψ(t) und ν ± = ±(η (t), ξ (t)) Normale an C im Punkt ψ(t). Beide Vektoren haben die Länge 1, da ψ aus Bogenlänge parametrisiert ist.. 33

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 34 Bemerkung Eine Menge C R 2 heißt stückweise glatte Jordankurve, falls eine stetige Parametrisierung ψ : [a, b] C existiert, die auf [a, b) injektiv ist und es Punkte t 0 = a < t 1 < t 2 <... < t p < b = t p+1 gibt, so daß ψ [ti 1,t i ] C 1 ([t i 1, t i ]), i = 1,..., p + 1, ψ 0 auf [t i 1, t i ]. Jordanscher Kurvensatz: Zu jeder ebenen geschlossenen Jordankurve C gehören zwei Gebiete: ein beschränktes Innengebiet G i und ein unbeschränktes Außengebiet G a mit C = G i = G a, R 2 = C G i G a, wobei die drei Punktmengen disjunkt sind. Erinnerung: Ist G R n offen, dann heißen x, y äquivalent (x y), falls ein ganz in G verlaufender Streckenzug von x nach y führt. Die Äquivalenzklassen heißen Zusammenhangskomponenten. G heißt zusammenhängend (Gebiet), falls G nur eine Zusammenhangskomponente besitzt. Definition 4.3. Sei C R 2 eine ebene, geschlossene stückweise glatte Jordankurve. Ein Normalenvektor ν im Punkt p C heißt äußere Normale, falls ein t 0 > 0 existiert mit p + tν G a für t (0, t 0 ). Satz 4.4 (Gaußscher Integralsatz in der Ebene). Sei B R 2 ein abgeschlossenes Normalgebiet bzgl. der x- und y-achse mit stückweise glatter Randkurve. Ist f : B R 2 ein stetig differenzierbares Vektorfeld, dann gilt div f d(x, y) = B f ν ds, B wobei ν(p) die äußere Normale an B im Punkt p B ist.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 35 Bemerkung: Die Voraussetzungen an B in Satz 4.4 sind z.b. erfüllt, falls B eine konvexe Menge mit stückweise glatter Randkurve ist (z.b. Dreiecke, Rechtecke, Kreise). Allgemeine Bereiche: Satz 4.4 gilt auch dann, wenn sich B durch endlich viele glatte Jordankurven C k, k = 1,..., p in endlich viele Teilbereiche zerlegen läßt, die den Voraussetzungen von Satz 4.4 genügen. Z.B.: Beim Zusammensetzen der Kurvenintegrale wird entlang derselben Kurve einmal mit f ν und einmal f ν integriert, d.h. die Kurvenintegrale über C k fallen heraus. Bemerkung zu Satz 4.4: Ist φ : [a, b] B eine stückweise C 1 -Parametrisierung von B mit φ(t) = (ξ(t), η(t)), so dass gilt: ( ) ν(φ(t)) = (η (t), ξ (t)) }{{} η 2 (t) + ξ 2 (t) äußere Normale

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 36 dann heißt φ positiv orientiert. In diesem Fall gilt (f = (f 1, f 2 )) div f d(x, y) = B f ν ds = φ (f 1 dy f 2 dx). B }{{} Kurvenintegral } {{ } Wegintegral Man beachte, daß bei stückweiser C 1 -Parametrisierung die Beziehung ( ) nur mit Ausnahme von endliche vielen t-werten gilt. Berechnung von Flächeninhalten: Setze in Satz 4.4 f(x, y) = (x, 0) bzw. f(x, y) = (0, y). Dann folgt λ(b) = B xν 1 ds = B yν 2 ds = 1 2 B (xν 1 + yν 2 ) ds = 1 2 φ x dy y dx, falls φ = (ξ, η) : [a, b] B eine stückweise glatte, positive orientierte Parametrisierung von B ist. Ist z.b. B = {(x, y) R 2 : x 2 a 2 + y2 b 2 Ellipse und wird B parametrisiert durch φ(t) = (a cos t, b sin t), so gilt x dy y dx = a(cos t) b(cos t) dt b(sin t) a( sin t) dt = ab dt, d.h. B = abπ. 1} eine 4.2 Flächen im R 3 ; Vektorprodukt (1) Wie beschreibt man Flächen im R 3? (2) Wie kann man den Inhalt von Flächen im R 3 messen? Beispiel: Zwei Vektoren a, b R 3 spannen ein Parallelogramm P (a, b) = {λa + µb : 0 λ 1, 0 µ 1} R 3 auf. Welchen Flächeninhalt P hat die Menge P?

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 37 Vorläufige Antwort, falls P in der x 1, x 2 -Ebene liegt: P = b l = (b a) sin θ (0 θ π). Konvention: Ist B = B {0} R 3 komplett in der x, y-ebene enthalten, dann sei B = λ 2 (B ), falls B R 2 Lebesgue-messbar ist. Falls C = MB + C 0, M O(n) eine orthogonale Matrix, C 0 R n ein Verschiebungsvektor, dann gelte C := B. Definition 4.5. Seien a = (a 1, a 2, a 3 ), b = (b 1, b 2, b 3 ) R 3. Dann heißt a b := (a 2 b 3 a 3 b 2, a 3 b 1 a 1 b 3, a 1 b 2 a 2 b 1 ) Vektorprodukt (Kreuzprodukt) der Vektoren a, b. Lemma 4.6 (Eigenschaften des Vektorprodukts). Seien a, b, c R 3. a 1 b 1 c 1 (a) (a b) c = a 2 b 2 c 2 = det(a, b, c), a 3 b 3 c 3 wobei hier a, b, c als Spaltenvektoren ausgefasst werden. (b) Für orthogonale Matrizen S O(n) gilt Sa Sb = (det S)S(a b). Insbesondere gilt Sa Sb = a b. (c) a b 2 = a 2 b 2 (a b) 2 Korollar 4.7 (Flächeninhalt von Parallelogrammen). P (a, b) = a b. Definition 4.8 (Flächen). Sei G R 2 offen. Die Abbildung φ : G R 3 besitze folgende Eigenschaften: (i) φ sei injektiv, stetig differenzierbar in G,

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 38 (ii) φ sei Lipschitzstetig auf G, (iii) RangDφ = 2 in G, (iv) φ(g), φ( G) seien disjunkt. Dann heißt F = φ(g) offene Fläche und φ eine Parameterdarstellung (Parametrisierung) von F. φ(g) heißt abgeschlossene Fläche, φ( G) heißt Rand der Fläche, φ(g) heißt Inneres der Fläche. Beispiel: Zylinderfläche G := (0, 2π) R G R 3 φ : (ϕ, h) (cos ϕ, sin ϕ, h) Dφ = Alle Eigenschaften von Definition 4.8 sind erfüllt. φ(g) = Z = {(x, y, z) R 3 : x 2 + y 2 = 1}, φ(g) = Z \ {(1, 0, h) : h R}, φ( G) = {(1, 0, h) : h R} sin ϕ 0 cos ϕ 0 0 1 hat Rang 2 Definition 4.9. Sei F = φ(g) Fläche mit Parametrisierung φ = φ(u, v) für (u, v) G. Im Flächenpunkt x 0 = φ(u 0, v 0 ) heißt die affine Ebene [ φ x 0 + u (u 0, v 0 ), φ ] v (u 0, v 0 ) Tangentialebene, die Vektoren des Untervektorraumes [ φ u (u 0, v 0 ), φ ] v (u 0, v 0 ) R 3

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 39 heißen Tangentialvektoren und ν = φ (u u 0, v 0 ) φ (u v 0, v 0 ) φ (u u 0, v 0 ) φ (u v 0, v 0 ) heißt Normaleneinheitsvektor. Die für (u, v) G gebildete Matrix (g ij ) 2 i,j=1 = g 11 g 12 = φ 2 φ φ u u v g 21 g 22 φ 2 heißt metrischer Tensor. Bemerkung: φ φ u v (i) ν steht senkrecht auf der Tangentialebene, denn a b a und a b b. (ii) φ φ u v = det(gij ) Beispiel: Kugeloberfläche B ϱ (0) G = {(ϕ, θ) R 2 : 0 < ϕ < 2π, 0 < θ < π} G B ϱ (0) φ : (ϕ, θ) (ϱ cos ϕ sin θ, ϱ sin ϕ sin θ, ϱ cos θ) φ : G B ϱ (0)\Halbkreis über Nord,Südpol v φ ϕ = ( ϱ sin ϕ sin θ, ϱ cos ϕ sin θ, 0), φ φ φ = ϕ θ ϱ2 ( cos ϕ sin 2 θ, sin ϕ sin 2 θ, sin θ cos θ), φ φ = ϕ θ ϱ2 sin θ, d.h. ν = φ/ρ. θ = (ϱ cos ϕ cos θ, ϱ sin ϕ cos θ, ϱ sin θ) Parametrisierung von Flächen durch Funktionsgraphen: G R 3 φ : falls f : G R Lipschitzstetig und in (x, y) (x, y, f(x, y)) C 1 (G) liegt.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 40 Tangentialvektoren: (1, 0, f f ), (0, 1, x Normale: ν = ( f x, f y, 1) 1 + ( f x )2 + ( f y )2 y ) Satz 4.10. Seien φ : G R 3, ψ : H R 3 zwei Parametrisierungen derselben Fläche. Dann existiert eine bijektive C 1 -Abbildung h : H G so, daß h 1 : G H ebenfalls eine C 1 -Abbildung ist und ψ = φ h. Bemerkung: Eine bijektive C 1 -Abbildung h : H G zwischen offenen Mengen heißt Diffeomorphismus, falls h 1 auch C 1 ist. Wegen h 1 h = Id folgt det Dh = (det Dh 1 ) 1 0. Bemerkung: Man schreibt φ G ψ H, und führt auf der Menge aller Parameterdarstellungen aller offenen Flächen eine Äquivalenzrelation ein. Jede Äquivalenzklasse entspricht genau einer offenen Fläche und umgekehrt. Definition 4.11 (Inhalt einer Fläche). Sei F R 3 eine offene Fläche mit Parameterdarstellung φ : G F = φ(g). Dann heißt F = φ u φ v d(u, v) Flächeninhalt von F. G Bemerkung: Wegen φ φ d(u, v) = φ φ d(u, v) setzt man G u v G u v F = F und hat somit auch den Inhalt abgeschlossener Flächen definiert.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 41 Proposition 4.12. Sei F R 3 eine Fläche. Dann gilt: (a) F ist invariant unter Bewegungen. (b) Ist F in einer Ebene enthalten, dann gilt F = λ 2 (F ), falls λ 2 (F ) als 2-dim Lebesguemaß in dieser Ebene aufgefaßt wird. Satz 4.13. Der Flächeninhalt einer Fläche F R 3 ist unabhängig von der Parametrisierung. a 1 b 1 Übung: Ist A = a 2 b 2 a 3 b 3 a 1 b 1 2 2-Matrix mit AC = a 2 b 2 eine 3 2-Matrix und C = a 3 b 3 Beispiel (Flächeninhalt von B ρ (0) R 3 ): vgl. c 11 c 12 c 21 c 22, dann gilt a b = (a b) det C. Definition 4.9. F = B ϱ (0), G = (0, 2π) (0, π). π F = ϱ 2 sin θ d(ϕ, θ) = 2πϱ 2 sin θ = 4πϱ 2. G 0 eine auch Beispiel nach Definition 4.14 (Oberflächenintegral). Sei F R 3 eine Fläche mit Parametrisierung φ : G F und f : F R eine gegebene Funktion. Dann heißt F f do := G f(φ(u, v)) φ u φ v d(u, v) Oberflächenintegral von f über F, falls das rechte Integral im Lebesgueschen Sinn existiert (d.h. f φ messbar auf G und entweder f 0 oder f φ L 1 (G)). Man definiert F f do := F f do. Satz 4.15. Das Oberflächenintegral F f do ist unabhängig von der Parametrisierung der Fläche F.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 42 Beispiele: G R 3 (1) Sei φ : die Parametrisierung eines Funktionsgraphen. Dann ist (x, y) (x, y, α(x, y)) ( ) 2 ( ) 2 F α α f do = f(x, y, α(x, y)) 1 + + d(x, y). x y G (2) B r = {(x, y, z) R 3 : x 2 + y 2 + z 2 = r 2 }. B r Einfacher: x 2 do = B r (0,2π) (0,π) π r 2 cos 2 ϕ sin 2 θ r 2 sin θ d(ϕ, θ) = r 4 π sin 3 θ dθ 0 π = πr 4 sin θ(1 cos 2 θ) dθ = πr 4 (2 2 3 ) = 4 3 πr4. 0 x 2 do = Br y 2 do = Br z 2 do = 1 3 B r r 2 do = r2 3 B r = r2 3 4πr2. 4.3 Gaußscher Integralsatz im R 3 Ziel: Finde Bedingungen an V R 3, f : V R 3 so dass gilt div f d(x, y, z) = V f ν do. V Definition 4.16. Sei G R 2 offen, beschränkt und α, β C(G) mit α(x, y) < β(x, y) (x, y) G. Dann heißt die Menge M(α, β) = {(x, y, z) R 3 : (x, y) G und α(x, y) < z < β(x, y)}. (offenes) Normalgebiet bzgl. der z-achse, falls gilt: (a) F = graph(α), F + = graph(β) sind Flächen, (b) G besteht aus endlich vielen glatten Jordankurven, die höchstens Randpunkte gemeinsam haben.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 43 Bemerkung: Ein Normalenvektor ν = (ν 1, ν 2, ν 3 ) auf F + mit ν 3 > 0 heißt äußere Normale zu M(α, β). Analog heißt ein Normalenvektor ν auf F mit ν 3 < 0 äußere Normale. Lemma 4.17. Sei M(α, β) offenes Normalgebiet bzgl. der z-achse und g : F ± R. Dann gilt F + gν 3 do = G g(x, y, β(x, y)) d(x, y) F gν 3 do = g(x, y, α(x, y)) d(x, y), G wobei ν = (ν 1, ν 2, ν 3 ) stets die äußere Normale bezeichnet. (Die Existenz der Oberflächenintegrale wird vorausgesetzt). Satz 4.18 (Gaußscher Integralsatz). (a) Sei V R 3 offenes Normalgebiet bzgl. der z-achse und g : V R stetig, g z : V R existiere und sei stetig und beschränkt. Dann gilt V gν 3 do = V g z d(x, y, z). (b) Sei V R 3 offenes Normalgebiet bzgl. aller drei Achsen und f : V R 3 stetig, f 1, f 2, f 3 x y z : V R existieren und seien stetig und

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 44 beschränkt. Dann gilt V f ν do = V div f d(x, y, z). Beispiele für Normalgebiete: (1) Zylinder V = {(x, y, z) : a < z < b, x 2 + y 2 < ϱ} Normalgebiet bzgl. z-achse: α(x, y) = a, β(x, y) = b, G = B ϱ (0) R 2 V = {(x, y, z) : α(x, y) < z < β(x, y) : (x, y) G}. graph(α) = F +, graph(β) = F sind Flächen. Normalgebiet bzgl. x-achse: V = {(x, y, z) : ϱ 2 y }{{} 2 < x < ϱ 2 y 2, (y, z) ( ϱ, ϱ) (a, b) }. }{{}}{{} α(y,z) β(y,z) G α, β stetig auf G. Sind graph(α), graph(β) abgeschlossene Flächen? F + = {(ϱ cos ϕ, ϱ sin ϕ, z), (ϕ, z) ( π 2, π 2 ) (a, b)}, F + = graph(α) F = {(ϱ cos ϕ, ϱ sin ϕ, z), (ϕ, z) ( π 2, 3π 2 ) (a, b)}, F = graph(β)

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 45 Normalgebiet bzgl. y-achse: V = {(x, y, z) : ϱ 2 x 2 < y < ϱ 2 x 2, (x, z) ( ϱ, ϱ) (a, b)}. F + = {(ϱ cos ϕ, ϱ sin ϕ, z), (ϕ, z) (0, π) (a, b)} F = {(ϱ cos ϕ, ϱ sin ϕ, z), (ϕ, z) (π, 2π) (a, b)}. (2) Rotationsparaboloid V = {(x, y, z) : x 2 +y 2 < 1, 1 < z < (x 2 +y 2 )} Normalbereich bzgl. z-achse: α(x, y) = 1, β(x, y) = (x 2 + y 2 ) Sind graph(α), graph(β) abgeschlossene Flächen? Parametrisierung F + = {(x, y, z) = (x, y, (x 2 + y 2 )), (x, y) B 1 (0) R 2 }. Analog F. Normalbereich bzgl. x-achse: V = {(x, y, z) : z y 2 < x < z y 2, mit (y, z) G} wobei G = {(y, z) : 1 < z < y 2, 1 < y < 1}. Parametrisierung: F + = {(x, y, z) = (r cos ϕ, r sin ϕ, r 2 ), 0 < r < 1, ϕ ( π 2, π 2 ) },

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 46 graph(α) = F +. Analog F. In ähnlicher Weise erkennt man, daß V ein Normalbereich bzgl. der y-achse ist. (3) Kegelstumpf: V = {(x, y, z) : 0 < z < 1, x 2 + y 2 < 2 z} Idee: V = 4 i=1 V i Z, Z =Zylinder mit Radius 1, Höhe 1 V 1 = {(x, y, z) : 0 < z < 1, x, y 0, 1 < x 2 + y 2 < 2 z} = {(x, y, z) : 0 < z < 2 x 2 + y 2, 1 < x 2 + y 2 < 2, x, y > 0} In ähnlicher Weise werden V 2, V 3 und V 4 definiert. V 1 = Normalbereich bzgl. z-achse F + = {(r cos ϕ, r sin ϕ, 2 r), ϕ (0, π ), 1 < r < 2)} 2 F = {(r cos ϕ, r sin ϕ, 0), ϕ (0, π ), 1 < r < 2)} 2 V 1 = Normalbereich bzgl. x-achse V 1 = {(x, y, z) : 0 < z < 1, x, y > 0, 1 < x 2 + y 2 < 2 z} = {(x, y, z) : (1 y2 ) }{{ + < x < (2 z) } 2 y 2, 0 < y < 2 z, 0 < z < 1} = max{0,1 y 2 }

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 47 F = graphα, α(y, z) := (1 y 2 ) + F = F 1 F 2, mit F 1 F 2 = {(cos ϕ, sin ϕ, z), 0 < z < 1, 0 < ϕ < π 2 } und = {(0, ϕ, z) : 0 < z < 1, 0 < ϕ < 2 z}. Eine Parametrisierung von F1 F2 findet man wie folgt: (cos ϕ, sin ϕ, z), 0 < z < 1, 0 < ϕ < π 2 φ(ϕ, z) = (0, ϕ 2, z), 0 < z < 1, 2 < ϕ < 4 z Damit ist graphα = F 1 F 2 eine abgeschlossene Fläche. Auch F + is eine Fläche, wie man unschwer sieht: F + = {((2 z) cos ϕ, (2 z) sin ϕ, z), 0 < z < 1, 0 < ϕ < π 2 } In ähnlicher Weise stellt man fest, daß V 1 = Normalbereich bzgl. der y-achse ist. Insgesamt: V ist Vereinigung von 5 Normalbereichen V 1 ; V 2, V 3, V 4 und Z bzgl. aller 3 Achsen. 4 div f dx = V i=1 V i f ν do + Z f ν do. Nun beachte man, daß die äußeren Normalen an den benachbarten Oberflächenstücken gerade entgegengesetzt orientiert sind. Folglich gilt: div f dx = V f ν do. V

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 48 Exkurs: Gaußscher Integralsatz und Wärmeleitung Sei Ω R 3 eine Menge im R 3, die nach außen wärmeisoliert ist und aus einem wärmeleitfähigem Material besteht. Sei u(x, t) =Wärmemenge zum Zeitpunkt t am Ort x Ω. Ziel: Herleitung einer Differentialgleichung für u(x, t). Sei V Ω ein Normalgebiet bzgl. aller drei Achsen. Dann betrachten wir folgendes physikalisches Modell der Wärmeleitung: d u(x, t) dx dt V }{{} zeitliche Änderung der Wärmemenge in V F =Wärmefluß durch V = V F (x, t) ν(x) do } {{ } Zufuhr/Abfluß durch V + f(x, t) dx V } {{ } Quellterm f = Quellterm f(x, t) 0 bedeutet: am Ort x wird zur Zeit t Wärme erzeugt/vernichtet. Mit dem Gaußschen Integralsatz: d u u(x, t) dx = (x, t) dx = dt t V V V ( div ) F (x, t) + f(x, t) Da V Ω ein beliebiges Normalgebiet ist, gilt folgende Gleichung: u t (x, t) = div F (x, t) + f(x, t) x Ω, t > 0. dx.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 49 In unserem Modell der Wärmediffusion wird postuliert, daß F proportional zu u ist, d.h. F (x, t) = D u(x, t), D = Diffusionskonstante > 0. Somit erhalten wir die inhomogene Wärmeleitungsgleichung: u (x, t) = D u(x, t) + f(x, t) x Ω, t > 0. t Falls kein Quellterm vorhanden ist, so gilt die homogene Wärmeleitungsgleichung: Bemerkungen: u (x, t) = D u(x, t) x Ω, t > 0. t (1) u(x, t) = n 2 u i=1 (x, t) = div( u(x, t)), wobei x 2 i u(x, t) = ( u (x, t),..., u ) T (x, t). x 1 x n (2) T4.1: Falls f L 1 (R n ) und A f dx = 0 A L(Rn ) so folgt f 0. Hier wurde etwas ähnliches verwendet: f : Ω R stetig, f dx = 0 Normalgebiete V R n f 0. V 4.4 Integralsatz von Stokes Definition 4.19. Sei G R 3 offen und f : G R 3 ein C 1 -Vektorfeld. ( f3 rot f = f 2, f 1 f 3, f 2 f ) 1 x 2 x 3 x 3 x 1 x 1 x 2 heißt Rotation des Vektorfelds f. Schreibweisen: rot f, f. Bemerkung: ( (1) Schreibt man = x 1, x 2, x 3 ) und bildet man formal das Vektorprodukt f, so gilt f = rot f. (2) In ähnlicher Weise gilt: bildet man formal das Skalarprdukt f, so gilt f = div f.

KAPITEL 4. INTEGRALSÄTZE VON GAUSS, STOKES 50 Ziel: Finde Bedingungen an die Fläche F und das Vektorfeld f, so daß gilt: F rot f ν do = γ f dx. Erinnerung: Ist γ : [a, b] R 3 ein (stückweiser) C 1 -Weg und f ein Vektorfeld, so berechnet man das Wegintegral γ f dx in folgender Weise: b γ f dx = f(γ(t)) γ (t) dt. a Formulierung der Voraussetzungen für den Stokeschen Satz: (V1) Sei G R 2 ein offenes Normalgebiet bzgl. der u- und v-achse, welches durch eine stückweise glatte Jordankurve K berandet ist. κ : [0, L] G sei eine positiv orientierte Parametrisierung von G mit Bogenlänge als Parameter. (V2) Sei U G offen und φ : U R 3 injektiv und φ C 2 (U) mit RangDφ = 2 auf U. Dann ist F = φ(g) eine abgeschlossene Fläche, welche durch die stückweise glatte Jordankurve C mit Parametrisierung γ = φ X berandet wird.