Dr. Siegfried Broß Richter des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau Beitrag für den 3. Juni 2004 in Skopje/Mazedonien Zur Stellung eines Verfassungsgerichts im modernen Rechtsstaat - dargestellt am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland - I. In einem modernen Rechtsstaat gibt es im Grundsatz für die Einrichtung eines Verfassungsgerichts zwei Möglichkeiten: Man kann es für die Entscheidung über Individualverfassungsbeschwerden natürlicher und/oder juristischer Personen für zuständig erklären und es damit gleichsam wie ein herkömmliches Gericht behandeln. Es besteht aber auch die Möglichkeit, und diese wurde in Deutschland ergriffen, dem Bundesverfassungsgericht zwei Zuständigkeitsbereiche zuzuweisen. Das Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 des Grundgesetzes zum einen Staatsgerichtshof und zum anderen gleichsam Revisionsgericht für Verfassungsrecht. In der letzten Funktion wird der Instanzenzug der in Deutschland bestehenden Gerichtsbarkeiten (es sind deren fünf)
- 2 - gleichsam um eine besondere verfassungsrechtliche Prüfung einer Gerichtsentscheidung verlängert. Als Staatsgerichtshof obliegt dem Bundesverfassungsgericht, und zwar ausschließlich, die Entscheidung etwa über Meinungsverschiedenheiten zwischen den obersten Bundesorganen, Entscheidung über Normenkontrollen wie auch die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen dem Bund und einem Land oder dem Bund und mehreren Ländern. Für die Behandlung solcher Rechtsstreitigkeiten kommen die Fachgerichte von vornherein nicht in Betracht. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht das Entscheidungsmonopol für das Verbot einer politischen Partei gemäß Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG. Vor dem Hintergrund der Zuständigkeit eines Verfassungsgerichts stellt sich nahe liegend und nicht unwichtig die Frage, welchen Status ein Verfassungsgericht erhalten soll. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die Stellung eines obersten Verfassungsorgans des Bundes. Diese Stellung erschließt sich nicht unmittelbar aus dem Grundgesetz. Im Gegenteil - Art. 92 GG fasst das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Gerichte für die Wahrnehmung der rechtsprechenden Gewalt zusammen. Von daher könnte man eher daran denken, dass das Bundesverfassungsgericht im Instanzenzug der Gerichte eben die oberste Instanz ist, mehr aber auch nicht.
- 3 - Demgegenüber bezeichnet 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht dieses als ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständigen und unabhängigen Gerichtshof des Bundes. Damit hat der Gesetzgeber die Rangfrage eindeutig entschieden. Selbst ohne eine solche gesetzliche Definition oder auch eine verfassungsrechtliche Definition ist die Einordnung eines Verfassungsgerichts im modernen Rechtsstaat als oberstes Verfassungsorgan nahe liegend, wenn es auch als Staatsgerichtshof fungiert und nicht auf Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden beschränkt ist. Wenn man sich die Frage stellt, ob man ein Verfassungsgericht mit beiden Zuständigkeitsbereichen ausstatten soll, muss man erwägen, dass gerade die Funktion als Staatsgerichtshof im modernen Rechtsstaat eine sehr wichtige ist. Die Entscheidung über Verfassungsbeschwerden könnte man nämlich einem obersten Bundesgericht zuweisen, wenn es nur einen Gerichtszweig gibt oder aber wenn man für mehrere bestehende Gerichtszweige ein verbindendes oberstes Gericht vorsieht. Aus Gründen der Rechtssicherheit ist es unumgänglich, ein einziges Gericht mit dem Entscheidungsmonopol auszustatten, damit nicht Auslegung und Handhabung der Verfassung konturenlos werden und letztlich verschwimmen. Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit gibt aber auch Anlass, über die Einrichtung und den Zuständigkeitsbereich als Staatsgerichtshof
- 4 - nachzudenken. Auslegung und Handhabung der Verfassung dürfen nicht den mehr oder weniger zufälligen politischen Verhältnissen, vor allem wechselnden Mehrheitsverhältnissen - in einem föderalistischen Staatswesen wie der Bundesrepublik Deutschland auf Bundes- oder Länderebene (dort über den Bundesrat) - anheim gegeben werden. Die Verfassung als Rückgrat der Rechtsordnung eines Staatswesens verträgt "keine Politik der leichten Hand". II. Die herausragende Stellung des Bundesverfassungsgerichts als oberstes Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland bedeutet, dass es auf derselben Ebene mit Bundespräsident, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat angesiedelt ist, auch wenn es außerhalb der zuvor genannten übrigen Staatsgewalten steht. Der Umstand hat allerdings für die Kreation ausschlaggebende Bedeutung. In einem föderalistischen Staatswesen kann es nicht dabei sein Bewenden haben, dass nur ein oder mehrere Bundesorgane bei der Kreation zusammenwirken. Vielmehr ist es unabdingbar, auch die Länderseite angemessen zu beteiligen. In Wahl und Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland spiegelt sich die föderalistische Struktur unseres Staatswesens wider. Die Hälfte der Mitglieder des Gerichts werden jeweils von Bundestag und Bundesrat gewählt, wobei für den Bun-
- 5 - destag wegen seiner Größe ein verkleinertes Gremium in Aktion tritt. Allerdings werden an dem Wahlverfahren noch weitere sehr wesentliche Bedingungen für ein modernes rechtsstaatliches Rechtsprechungsorgan augenfällig. Die Exekutive ist auf der Bundesseite formell nicht und auf der Länderseite nur gefiltert über den Bundesrat, einem Gesetzgebungsorgan des Bundes, beteiligt. Die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts ist sonach ganz deutlich dort angesiedelt, wo in obersten Staatsorganen das demokratische Element im Sinne einer Unmittelbarkeit am stärksten zum Tragen kommt. Das ist das Parlament. Der Bundespräsident ist auf den Formalakt der Ernennung und Aushändigung der dementsprechenden Urkunde beschränkt. Das föderalistische Prinzip wird noch einmal dadurch betont, dass Bundestag und Bundesrat Präsident und Vizepräsident im Wechsel wählen. Des Weiteren müssen wir in diesem Zusammenhang noch das Vorschlagsrecht und die Wahlvoraussetzungen näher betrachten. Ihnen kommt wegen der beschriebenen Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts eine sehr wesentliche Bedeutung zu. Von Anbeginn an haben die beiden in Deutschland bestehenden großen Volksparteien SPD und CDU/CSU das Vorschlagsrecht für das Bundesverfassungsgericht unter sich hälftig aufgeteilt, wobei es üblich ist, im Falle einer Koalitionsregierung einen Platz an den Juniorpartner in der Koalition abzugeben. Das Mindestalter ist mit 40 Jahren im mittleren
- 6 - Bereich angesetzt. Die Amtsdauer beträgt zwölf Jahre, wobei eine Wiederwahl ausgeschlossen ist. Das sichert die Unabhängigkeit eines Mitglieds des Bundesverfassungsgerichts. Die Wahl muss in beiden Gremien mit jeweils zwei Drittel der Stimmen erfolgen. Das setzt voraus, dass sich die politisch Maßgeblichen einigen. Zudem werden überflüssige und dem Ansehen des Gerichts wie auch der obersten Staatsorgane abträgliche Diskussionen in der Öffentlichkeit und in den Wahlgremien vermieden. Ein Sondervotum war in der Ausgangsfassung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht nicht vorgesehen. Es ist im Zuge der Entwicklung seit geraumer Zeit in 30 Abs. 2 BVerfGG eingeführt. Ich halte ein solches nicht für erforderlich. Es bindet viel Arbeitskraft und kann die gedeihliche Zusammenarbeit in einem Spruchkörper durchaus stören. Allerdings muss man darauf Bedacht nehmen, eine Wiederwahl von Mitgliedern eines Verfassungsgerichts dann auszuschließen, wenn man ein Sondervotum für zulässig erklärt. Beides, also Wiederwahl und Sondervotum, vertragen sich bei sachgerechtem Verständnis der Unabhängigkeit von Richtern nicht. Die innere Unabhängigkeit leidet schon deshalb, weil man sich über die Abfassung eines Sondervotums im Falle des Unterliegens für eine Wiederwahl empfehlen könnte. Dadurch würde auch die Versuchung geweckt, steuernd Einfluss auf die Zusammenset-
- 7 - zung eines Verfassungsgerichts zu nehmen, wenn gerade in Staatsprozessen Anträge in zeitlichem Abstand wiederholt gestellt werden, so wie in Deutschland etwa zum Länderfinanzausgleich, aber auch zum Abbruch von Schwangerschaften. III. Vor dem Hintergrund der Europäischen Entwicklung, einer fortschreitenden Integration und einer damit einhergehenden Übertragung nationaler Zuständigkeiten auf die europäische Ebene, muss man sehen, dass die Bedeutung eines nationalen Verfassungsgerichts abnimmt. Das hängt zuvörderst damit zusammen, dass ein nationales Verfassungsgericht nicht die Gemeinschaftsverträge oder in der Zukunft etwa die europäische Verfassung auslegen darf. Der Maßstab eines nationalen Verfassungsgerichts hat ausschließlich die eigene Landesverfassung zu sein. Das gebietet schon allein der Gedanke der Rechtssicherheit. Die Auslegung von Verfassungen und damit auch der europäischen muss bei einer Institution monopolisiert sein und es muss verhindert werden, dass zahlreiche Institutionen eine Entscheidungsbefugnis in Anspruch nehmen. Das hat zur Folge, dass die Bedeutung der nationalen Verfassungsgerichte in der Zukunft eher im Bereich der Zuständigkeit als Staatsgerichtshof und weniger im Bereich der Zuständigkeit für die Entscheidung
- 8 - über Verfassungsbeschwerden liegen wird. Je mehr Rechtsmaterien unmittelbar dem Gemeinschaftsrecht angehören (Primärrecht wie Rechtsverordnungen), stellt sich die Übereinstimmung einer Gerichtsentscheidung mit nationalem Verfassungsrecht, vor allem den nationalen Grundrechten nicht mehr. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung insoweit sind die europäischen Gerichte in Luxemburg zuständig. Selbst bei vom Gemeinschaftsrecht abgeleitetem (umgesetzten) Gemeinschaftsrecht wird die Stellung der nationalen Verfassungsgerichte künftig schwächer; denn mit dem Erstarken und dem Verdichten der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben wird der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers immer enger, so dass es sehr schwierig sein wird, ihm in dem ihm verbleibenden originären Zuständigkeitsbereich Verstöße gegen nationale Grundrechte anzulasten. Wird aber ein Grundrechtsverstoß schon wegen der gemeinschaftsrechtlichen Inplikationen behauptet, führt das zwangsläufig wieder zum Verweis nach Luxemburg. Andernfalls würde ein nationales Verfassungsgericht in den gemeinschaftsrechtlichen Raum übergreifen. IV. Zu einer modernen rechtsstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit gehört auch, dass seine Entscheidungen alle Verfassungsorgane eines Landes (gegebenenfalls also Bundes- oder Länderebene) sowie alle Ge-
- 9 - richte und Behörden binden und weitere Entscheidungsfälle, wie beispielsweise die Entscheidung über die Nichtigerklärung eines Gesetzes mit Gesetzeskraft versehen wird.