Sachverhalt Fall 7 Sachverhalt Der 15. Bundestag beschließt nach bis dahin fehlerfreiem Verfahren mehrheitlich ein Gesetz zur Änderung des ursprünglich zustimmungspflichtigen Atomgesetzes. Danach wird in 7 AtomGein Abs.2a eingefügt, der den Vorsorgegrundsatz gegenüber Strahlenunfällen erweitert. Kernkraftwerke dürfen nur noch genehmigt werden, wenn aufgrund der Beschaffenheit der Anlage auch atypische gesundheitsgefährdende Ereignisse ausgeschlossen werden können. Welche Ereignisse das sind, ist nach Abs.2a in Leitlinien näher zu bestimmen, die das für kerntechnische Sicherheit und Strahlenschutz zuständige Bundesministerium mit Zustimmung des Bundesrates im Bundesanzeiger als Verwaltungsvorschriften veröffentlicht. Sachverhalt Fall 7 Der Bundesrat diskutiert das Änderungsgesetz, das am 1.April 2004 in Kraft treten soll, kontrovers. Ein Antrag, den Vermittlungsausschuss anzurufen, findet jedoch keine Mehrheit. Daraufhin fertigt der Bundespräsident das Gesetz aus, das am 2. Oktober 2003 im Bundesgesetzblatt verkündet wird. Die angekündigten Leitlinien sind noch nicht erarbeitet worden. Die Landesregierung von L meint, das Gesetz habe der Zustimmung des Bundesrates bedurft. Da diese fehle, sei es verfassungswidrig. Aufgabe: Hat ein Normenkontrollantrag der Landesregierung des Landes L am 27. Oktober 2003 Aussicht auf Erfolg? Beachte: Im Hinblick auf die Frage der Bundeszuständigkeit bezieht sich der Sachverhalt auf die Fassung des Grundgesetzes vor (!) der Föderalismusreform. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG ist zwischenzeitlich aufgehoben worden. Das Atomrecht gehört jetzt zur ausschließlichen Kompetenz des Bundes (Art. 73 Nr. 14 GG). 1
In Betracht kommt Verfahren der abstrakten Normenkontrolle. A. Zulässigkeit I. Zuständigkeit des BVerfG (+), vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.v.m. 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG II. Antragsberechtigung (+), jede Landesregierung III. Antragsgegenstand Vorliegen einer existierenden Rechtsnorm (+), da Norm nicht erst mit In-Kraft-Treten existent wird, sondern bereits mit Verkündung im Bundesgesetzblatt IV. Antragsgrund 76 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG: Antragsteller muss Gesetz für nichtig halten hier (+), daher unerheblich, ob bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit ausreichen (Standardproblem im Rahmen der Zulässigkeit einer abstrakten Normenkontrolle) 2
V. Zwischenergebnis: Antrag der Landesregierung ist zulässig B. Begründetheit dann (+), wenn Änderungsgesetz mit dem GG unvereinbar; BVerfG prüft dabei Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes umfassend I. Formelle Verfassungsmäßigkeit 1. Zuständigkeit a) Rechtsfragen bei der Errichtung von Anlagen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie waren gemäß Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG a.f. Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit b) Problem: Ist bundeseinheitliche Regelung erforderlich, vgl. Art. 72 Abs. 2 GG? (1) zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse? dann (+), wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine solche Entwicklung konkret abzeichnet (vgl. BVerfGE 106, 62 ff.). hierfür ist vorliegend nichts erkennbar 3
(2) zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit? vorliegende Regelung sorgt für die Geltung der gleichen Genehmigungsvoraussetzungen für Kernkraftwerke im gesamten Bundesgebiet und dient daher der Rechtseinheit aber: im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich? dann (+), wenn sich die Auswirkung eines Gesetzes nicht nur auf einzelne Länder beschränkt oder dem Schutz der Grundrechte dient, die sich überregional verwirklichen hier (+), weil das AtomG dem Schutz der Gesundheit dient und gerade bei nuklearen Störfällen die schädlichen Auswirkungen auch Bürger in benachbarten Ländern treffen können, sodass dortige Landesregelung den Schutz nicht sicherstellen können 2. Verfahren Problem: Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungsgesetzen a) Zustimmungsbedürftigkeit der Änderungsvorschriften? im AtomG wurde geregelt, dass die Länder das Gesetz im Auftrag des Bundes ausführen (vgl. Art. 87c GG) Zustimmungsbedürftigkeit aus Art. 85 Abs. 2 Satz 1 oder Art. 85 Abs. 1 GG? nach Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG sind nur die Verwaltungsvorschriften als solche zustimmungsbedürftig, nicht die zu ihrem Erlass ermächtigenden Rechtsgrundlagen 4
nach Art.85 Abs.1 GG darf der Bund durch zustimmungspflichtiges Gesetz die Einrichtung der Behörden und zumindest nach überwiegender Auffassung (vgl. Dittmann, in: Sachs, Art. 85 Rn. 10) nach einem Erst-recht- Schluss zu Art. 84 Abs. 1 GG das Verwaltungsverfahren regeln der in das AtomG neu eingeführte Abs.2a richtet jedoch nicht Behörden ein und enthält selbständig keine Verfahrensregelung, sondern normiert lediglich eine materielle Genehmigungsvoraussetzung daher ( ) b) Zustimmungsbedürftigkeit wg. der Zustimmungsbedürftigkeit des zu ändernden Gesetzes insgesamt? Mitverantwortungstheorie (+): jede Änderung eines ursprünglich zustimmungsbedürftigen Gesetzes bedürfe der Zustimmung des Bundesrates, weil dieser seine Entscheidung über die Zustimmung im Hinblick auf den gesamten Inhalt des Gesetzes getroffen hat und auch eine Änderung der nicht die Zustimmungsbedürftigkeit auslösenden Teile den Inhalt seiner Zustimmung verändern würde (vgl. Herzog,in: HdbStR II, 45 Rn.15) aber: Forderung widerspricht dem Enumerativprinzip auch sachlich wäre eine generelle Ausweitung der Zustimmungsbedürftigkeit nicht gerechtfertigt 5
Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen ist im GG materiell an eine Betroffenheit der Länder geknüpft; inwieweit der Bundesrat seine Zustimmung zum ursprünglichen Gesetz an sein Einverständnis mit den an sich nicht zustimmungsbedürftigen Vorschriften gebunden hat, ist daher für die hier in Rede stehende Frage unerheblich BVerfG: Änderungsgesetz sei ausnahmsweise dann zustimmungsbedürftig, wenn es dem ursprünglichen Gesetz inhaltlich eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite verleihe und somit eine Systemverschiebung bewirke, die von der ursprünglichen Zustimmung des Bundesrates nicht mehr als gedeckt angesehen werden könne (BVerfGE 48, 127 [180 f.]) hier: für eine solche Systemverschiebung ist nichts erkennbar; der neue Abs.2a erweitert die Genehmigungsvoraussetzungen um einen Tatbestand im Bereich der Vorsorge; Aspekte der Vorsorge waren jedoch schon bisher Voraussetzung, um ein Kernkraftwerk zu genehmigen c) Zwischenergebnis: Gesetz bedurfte nicht der Zustimmung des Bundesrates und ist damit formell verfassungsmäßig 3. Form (+) II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Verstoß gegen Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG? vor dem Hintergrund von Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG nimmt die Norm auf die Bundesregierung als Kollegialorgan Bezug 6
Folge: sofern Art.85 Abs.2 Satz1 GG allein die Bundesregierung als Ermächtigungsadressaten erlaubt, darf anders als bei Art.85 Abs.3 GG auch durch Bundesgesetz nur das Kollegium ermächtigt werden, nicht aber ein einzelner Minister oder ein einzelnes Ministerium dafür spricht auch, dass Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG Bundesregelungen des Verwaltungsverfahrens nur als Ausnahme von der grundsätzlichen Länderzuständigkeit erlaubt III. Zwischenergebnis: Änderungsgesetz ist materiell verfassungswidrig C. Ergebnis: Abstrakte Normenkontrolle ist zulässig und begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg Folge: sofern Art.85 Abs.2 Satz1 GG allein die Bundesregierung als Ermächtigungsadressaten erlaubt, darf anders als bei Art.85 Abs.3 GG auch durch Bundesgesetz nur das Kollegium ermächtigt werden, nicht aber ein einzelner Minister oder ein einzelnes Ministerium dafür spricht auch, dass Art. 85 Abs. 2 Satz 1 GG Bundesregelungen des Verwaltungsverfahrens nur als Ausnahme von der grundsätzlichen Länderzuständigkeit erlaubt III. Zwischenergebnis: Änderungsgesetz ist materiell verfassungswidrig C. Ergebnis: Abstrakte Normenkontrolle ist zulässig und begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg 7