Sachverhalt Der Bundestag verabschiedet gegen die Stimmen der Opposition ein Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz, durch das 12 BWahlG um einen Absatz 2a erweitert wird, der wie folgt lautet: Wahlberechtigt sind auch Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes sind, sofern sie sich am Wahltage seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen und rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Der Bundespräsident verweigert die Ausfertigung mit der Begründung, das Änderungsgesetz sei erstens verfassungswidrig und zweitens politisch zu missbilligen, da es der Regierungsmehrheit im Bundestag dabei vor allem darauf ankomme, für die nächste Bundestagswahl neue Wählerschichten zu erschließen. Aufgaben: 1. Ist das Änderungsgesetz verfassungsgemäß? 2. Muss der Bundespräsident das Gesetz trotz seiner Bedenken ausfertigen? 3. In welchem gerichtlichen Verfahren könnte der Bundestag gegen die Verweigerung der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten vorgehen?
Aufgabe 1: beachte: Zulässigkeit nach Fallfrage nicht zu prüfen! I. Formelle Verfassungsmäßigkeit 1. Zuständigkeit Gesetzgebungskompetenz des Bundes folgt aus Art. 38 III GG 2. Verfahren mangels anderweitiger Anhaltspunkte ordnungsgemäß
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit Verstoß gegen Art. 20 II 1 GG? Bezugspunkt des Begriffs Volk : nur Deutsche i.s.d. Art. 116 GG oder weiter? 1. Wortlaut Wortsinn nicht eindeutig, entweder nur Deutsche oder alle Bewohner ( Betroffenheit als maßgebliches Kriterium) 2. Geschichte keine genauen Anhaltspunkte (1949 wohl nur deutsche Staatsbürger, aber heute geänderte Bevölkerungsstruktur)
3. Systematik vgl. z.b. Art. 146, Art. 56, Präambel GG: deutsches Volk spricht eher für weites Verständnis in Art. 20 II 1 GG 4. Sinn und Zweck Art. 20 GG regelt Struktur des deutschen Staates ( Grundnorm der verfassungsrechtlichen Verpflichtung auf die Demokratie), Ausübung der Staatsgewalt daher nur von deutschen Staatsangehörigen auch wegen hohem Ausländerteil kein anderes Ergebnis (Regelung ist Aufgabe des Staatangehörigkeitsrechts) Zwischenergebnis: Volk in Art. 20 II 1 GG erfasst nur Deutsche (hm) Ergebnis: Verstoß gegen Art. 20 II 1 GG; Gesetz ist verfassungswidrig
Aufgabe 2: Entscheidende Frage ist, ob der Bundespräsident über ein Prüfungsrecht verfügt und also die Ausfertigung von Gesetzen verweigern kann Ausgangspunkt: Art. 82 I 1 GG I. Formelles Prüfungsrecht? Prüfung, ob Gesetzgebungskompetenz und -verfahren beachtet wurden unstreitig (+), hier aber nicht relevant
II. Materielles Prüfungsrecht Prüfung, ob Gesetz inhaltlich mit Verfassung in Einklang steht sehr streitig: Meinungen nein/ja/eingeschränkt ja Ergebnis ist durch Auslegung des Art. 82 I 1 GG zu ermitteln 1. Wortlaut nicht eindeutig: Verfahren oder auch Inhalt 2. Geschichte schwache Stellung des Bundespräsidenten, aber nur Indiz
3. Sinn und Zweck Ausfertigung soll Rechtswirksamkeit anzeigen; inwieweit aber Rechtswirksamkeit besteht, ist durch den Prüfungsumfang bestimmt 4. Systematik a) Stellung der Norm nahe bei Art. 76 bis 78 GG; aber zweifelhaft, ob dies relevant ist, da eigener Normgehalt b) Amtseid, vgl. Art. 56 GG unergiebig: Zirkelschluss
c) Präsidentenanklage, vgl. Art. 61 GG unergiebig: ohne Handlungsmöglichkeit; wenn kein Prüfungsrecht besteht, ist der Bundespräsident auch nicht verantwortlich d) Stellung des Bundespräsidenten eher schwache Stellung, vgl. Geschichte sowie Gegenzeichnungspflicht Art. 58 GG (Bundespräsident als Staatsnotar ); spricht aber nicht eindeutig gegen Prüfungsrecht aber: oberstes Bundesorgan (Indiz für eingeschränktes Prüfungsrecht)
e) Stellung des Bundestags primäres Gesetzgebungsorgan Einschätzungsprärogative aber: ausdrückliche Beteiligung des Bundespräsidenten ist vorgesehen (Indiz für eingeschränktes Prüfungsrecht) f) Stellung des BVerfG Normverwerfungskompetenz liegt zwar beim BVerfG, aber keine Konkurrenz, da ohne Ausfertigung (es liegt also noch kein prüfungsfähiges Gesetz vor) außerdem: Organstreit wahrscheinlich nicht eindeutig
g) Verknüpfung formelle/materielle Verfassungsmäßigkeit vgl. Art. 79 GG: materiell verfassungswidriges Gesetz weist zugleich förmlichen Mangel auf, weil es nicht als verfassungsänderndes Gesetz isv Art 79 I GG eingebracht wurde aber: verfassungswidriges Gesetz ist keine Verfassungsänderung (maßgeblich ist Wille der gesetzgeberischen Körperschaften) h) Art. 1 III und 20 III GG Grundgesetzbindung aller Verfassungsorgane hm daher: materielles Prüfungsrecht (+) hinsichtlich evidenter Verfassungsverstöße
Zwischenergebnis: Bundespräsident hat (eingeschränktes) materielles Prüfungsrecht (P) Liegt im Fall ein evidenter Verstoß gegen Art. 20 II 1 vor? wohl (-), daher Verweigerung der Ausfertigung aus Verfassungsgründen nicht möglich III. Politisches Prüfungsrecht unstreitig (-), vgl. Wortlaut des Art. 82 I 1 GG sowie Stellung des Bundespräsidenten (Art. 58 GG)
Ergebnis: Bundespräsident durfte Ausfertigung des Gesetzes mangels evidenter Verfassungswidrigkeit nicht verweigern
Aufgabe 3: Organstreitverfahren I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Art. 93 I Nr. 1 GG, 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG 2. Antragsberechtigung und Antragsgegner Bundestag und Bundespräsident sind in 63 BVerfGG genannt
3. Streitgegenstand vgl. 64 I BVerfGG, hier: Unterlassen der Ausfertigung (Rechtserheblichkeit [+], da Gesetz ohne Ausfertigung und Verkündung nicht in Kraft treten kann) 4. Antragsbefugnis vgl. 64 I BVerfGG hier: Möglichkeit, dass Bundestag in seinem Recht auf Gesetzgebung aus den Art. 76 ff. GG verletzt wurde, ist nicht offensichtlich ausgeschlossen
5. Frist 64 III BVerfGG 6. Form 23 I, 64 II BVerfGG Ergebnis: Organstreit zulässig
Vertiefungshinweise: BVerfGE 83, 37 <51 f.> (Begriff des Volkes in Art. 20 II GG) Maurer, Staatsrecht I, 7 Rn. 21 ff. Ipsen, Staatsrecht I, Rn. 487 ff. (Prüfungsrecht des Bundespräsidenten)