Universität Würzburg Wintersemester 2007/08 Konversatorium Grundkurs Öffentliches Recht I -Staatsorganisationsrecht- Fall 4: Verlängerung der Legislaturperiode In Betracht kommt eine abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 I Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG. Diese hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit Der Normenkontrollantrag müsste zulässig sein. I. Zuständigkeit des BVerfG Gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, 13 Nr. 6 BVerfGG ist das BVerfG für das abstrakte Normenkontrollverfahren zuständig. II. Antragsberechtigung Fraglich ist, ob die 205 Abgeordneten antragsberechtigt sind. Gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 I BVerfGG haben die Antragsberechtigung inne: Die Bundesregierung Eine Landesregierung Ein Drittel der Mitglieder des Bundestages Derzeit gehören dem Bundestag 613 Abgeordnete an (598 Abgeordnete gem. 1 I 1 BWahlG zuzüglich 16 Überhangmandate gem. 6 V 2 BWahlG; allerdings ist ein Abgeordneter mit einem Direktmandat ausgeschieden). Die 205 Abgeordneten bilden daher ein Drittel der Mitglieder des Bundestages und sind damit antragsberechtigt. III. Prüfungsgegenstand Das Gesetz zur Verlängerung der Legislaturperiode müsste einen tauglichen Prüfungsgegenstand darstellen. Gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 I BVerfGG kommen insofern Bundesoder Landesrecht in Betracht. Zum Prüfungsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle kann daher jede generelle Rechtsnorm jeder Stufe gemacht werden, d. h. vor- und nachkonstitutionelle Bundes- und Landesgesetze im
2 formellen und materiellen Sinne. Beim Gesetz zur Verlängerung der Legislaturperiode handelt es sich um ein nachkonstitutionelles Bundesgesetz und damit um einen tauglichen Prüfungsgegenstand. IV. Antragsgrund Die Abgeordneten müssten einen zulässigen Antragsgrund geltend machen können. Art. 93 I Nr. 2 GG lässt Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem GG ausreichen. 76 I Nr. 1 BVerfGG verlangt darüber hinausgehend, dass der Antragsteller die betreffende Norm für nichtig hält. Laut Sachverhalt haben die Abgeordneten lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes; ein (restriktiveres) Für-Nichtig-Halten liegt gerade nicht vor. Daher ist das Verhältnis von Art. 93 I Nr. 2 GG zu 76 I BVerfGG zu klären. Nach einer Ansicht stellt 76 I BVerfGG eine zulässige Konkretisierung des Art. 93 I Nr. 2 GG dar (vgl. BVerfGE 96, 133 [137]). Nach anderer Ansicht vermag 76 I BVerfGG als einfachgesetzliche Norm den Art. 93 I Nr. 2 GG nicht einzuschränken. Folglich ist 76 I BVerfGG dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass bereits bloße Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel i.s.d. Art. 93 I Nr. 2 GG ausreichen. Zum selben Ergebnis gelangt die Lehre von der Teilnichtigkeit des 76 I BVerfGG (vgl. etwa Jarass/Pieroth, GG, Art. 93 Rn. 24). Mit der h.m. in der Literatur ist davon auszugehen, das bereits die vorliegend bestehenden Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes einen tauglichen Antragsgrund darstellen (a. A. gut vertretbar). Fraglich ist jedoch, wie es sich auswirkt, dass ein Teil der 205 Abgeordneten im Gesetzgebungsverfahren dem Gesetz bereits zugestimmt hatte. Man könnte insofern die Ansicht vertreten, dass eine derartiges widersprüchliches Verhalten ( Wankelmütigkeit ) eine Klage unzulässig macht. Bei der abstrakten Normenkontrolle handelt es sich jedoch um ein objektives Verfahren (keine Antragsbefugnis, nur Antragsgrund); ein Rechtsschutzbedürfnis wird gerade nicht vorausgesetzt (Maurer, Staatsrecht I, 20 Rn. 82). Die Wankelmütigkeit der Abgeordneten ist daher unerheblich. V. Form Es müsste das Formerfordernis des 23 I BVerfGG eingehalten werden. Der Antrag der Abgeordneten müsste also schriftlich mit Begründung eingereicht werden [Beachten: Der Antrag ist nicht fristgebunden].
3 VI. Zwischenergebnis Die abstrakte Normenkontrolle ist zulässig. B. Begründetheit Der Normenkontrollantrag der Abgeordneten müsste begründet sein. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz zur Verlängerung der Legislaturperiode formell oder materiell nicht mit dem GG vereinbar, also verfassungswidrig ist (Art. 93 I Nr. 2 GG, 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG). I. Prüfungsmaßstab Da es sich um ein verfassungsänderndes Gesetz handelt, kann Prüfungsmaßstab nicht das gesamte Grundgesetz sein, sondern nur Art. 79 GG sein. II. Formelle Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes Zu prüfen ist die formelle Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes. 1. Zuständigkeit Die Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 79 I, II GG. 2. Verfahren Das Verfahrenserfordernis der Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Art. 79 II GG) ist laut Sachverhalt gegeben. 3. Form Das Erfordernis der Wortlautänderung nach Art. 79 I 1 GG ist ebenfalls gewahrt ( vier auf acht ). Das Gesetz wurde auch ordnungsgemäß ausgefertigt und verkündet, Art. 82 I 1 GG. Die formellen Anforderungen des Art. 79 I, II, GG sind daher gewahrt. Das Änderungsgesetz ist damit formell verfassungsgemäß. III. Materielle Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes Zu prüfen ist die materielle Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes. Bei verfassungsändernden Gesetzen beschränkt sich die Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit auf die Kontrolle von Verstößen gegen Art. 79 III GG.
4 1. Verletzung des Demokratieprinzips, Art. 79 III GG, Art. 20 I GG Durch die Verlängerung der Legislaturperiode könnte das Demokratieprinzip unzulässig berührt sein. a) Verlängerung der zukünftigen Legislaturperioden Die Herrschaft auf Zeit ist einer der Kerninhalte demokratischer Strukturen. Es muss daher die Möglichkeit der Veränderung getroffener Entscheidungen bestehen. Die unterlegene Minderheit muss daher die Chance auf Mehrheitserlangung haben. Insofern ist zu fragen, ob mit der Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf acht Jahre eine zeitliche Höchstgrenze überschritten ist. Eine solche Grenze ist nicht ausdrücklich im GG geregelt. Aus oben genannten Gründen ergibt sich aber, dass eine beliebige Verlängerung nicht möglich ist. aa) Gegen die Überschreitung einer Höchstgrenze im vorliegenden Fall spricht das Erfordernis dauerhafter und kontinuierlicher Parlamentsarbeit. Der Gefahr dauerhaft unpopulärer Entscheidungen steht die wachsende Bedeutung des Bundesrates entgegen: Landtagswahlen üben zusätzlichen Druck auf die Regierung aus, entspr. Entscheidungen nicht zu treffen. Die achtjährige (lange) Dauer einer Legislaturperiode dient also letztlich der Stabilisierung und Erhöhung der Durchsetzungsfähigkeit der Regierung. bb) Für die Überschreitung einer Höchstgrenze spricht ein Vergleich mit anderen parlamentarischen Demokratien. Ein solcher zeigt, dass acht Jahre äußerst lang sind: Es besteht in diesem Falle nur eine stark eingeschränkte Möglichkeit der Kontrolle durch die Wähler. Die Stabilität einer Regierung ist auch herstellbar, wenn Entscheidungen richtig vermittelt werden; gerade dies ist Aufgabe der Politik in einer Demokratie. Das Volk ist mithin unmittelbare Quelle der Legitimation des Parlaments, nicht nur störender Faktor bei Wahlen. Im Ergebnis ist damit die Überschreitung einer Höchstgrenze zu bejahen. Daher verstößt das Gesetz insofern gegen das Demokratieprinzip gem. Art. 20 I GG. b) Verlängerung der laufenden Legislaturperiode Zu prüfen ist, ob die Verlängerung der bereits laufenden Legislaturperiode dem Demokratieprinzip widerspricht.
5 Die Herrschaft in unserer Demokratie beinhaltet zwingend eine zeitliche Beschränkung (s.o.). Bereits die Wahl der Volksvertreter erfolgt somit auch im Hinblick auf eine zeitliche Beschränkung (hier 4 Jahre); die Legitimation der Abgeordneten leitet sich aus dem Wahlakt ab. Insofern fehlt den Abgeordneten die Legitimation ihr eigenes Mandat zu verlängern. Damit widerspricht auch die Verlängerung der laufenden Legislaturperiode dem Demokratieprinzip gem. Art. 20 I GG. 2. Zwischenergebnis Das Änderungsgesetz verletzt das Demokratieprinzip, also einen in Art. 20 GG niedergelegten Grundsatz. Gem. Art. 79 III GG ist es materiell verfassungswidrig. IV. Gesamtergebnis Die abstrakte Normenkontrolle ist zulässig und begründet und hat damit Aussicht auf Erfolg. C. Entscheidung des BVerfG Das Bundesverfassungsgericht wird das Gesetz gem. 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklären. Dieser Entscheidung kommt gem. 31 II 1 BVerfGG Gesetzeskraft zu.