Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund

Ähnliche Dokumente
Seelische Gesundheit von Menschen mit Migrationshintergrund Prof. Wolfgang Maier

Migranten in der Psychiatrie

Stand der psychotherapeutischen Versorgung von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund in Deutschland

Stand der Interkulturellen Öffnung in der psychosozialen Versorgung

Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund

Laura Frank, Abteilung Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring Leipzig,

Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit - 10 Folien zum 10. Geburtstag am

9. Fachtagung des Interdisziplinären Arbeitskreises Bewegungstherapie Psychiatrie, Psychosomatik und Sucht Weinsberg,

Der Gastarbeiter braucht Pflege

BASS. Gesundheitsmonitoring der Migrationsbevölkerung in der Schweiz (GMM II) Einleitung Der Gesundheitszustand

Die Koordinationsstelle Migration und Gesundheit am Gesundheitsamt der Stadt Nürnberg

Migration und psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Depression, Burnout. und stationäre ärztliche Versorgung von Erkrankten. Burnout I Depression Volkskrankheit Nr. 1? 1. Oktober 2014, Braunschweig

Angehörige von suchtkranken Menschen Abhängigkeitserkrankungen aus einer anderen Perspektive

Umgang mit traumatisierten Flüchtlingskindern. Carina Teusch, Kristina Hansmann

Fachkräftemangel in psychiatrischen Einrichtungen Zahlen, Daten und Fakten

Demografischer Wandel: Die Situation in Witten insbesondere in Bezug zur Migration Bevölkerungprognose Witten 06 Migrationshintergrund in NRW und Witt

Online-Kompetenz für Migrantinnen und Migranten in Deutschland. 1. Statistisches Bundesamt definiert eine neue Bevölkerungsgruppe

Migrantinnen und Migranten in der Altenhilfe zum Umgang mit Vielfalt und Differenz

Prävention und Gesundheitsförderung bei älteren Menschen mit Migrationshintergrund

Kultursensible Umgang im Kontext von Migration und Behinderung. Vorstellung eines praxisorientierten Modelprojektes

Posttraumatische Störungen bei Migrantinnen und Migranten

Wanderer, kommst du nach D

Bipolare Störung und Migration

Kultursensibel pflegen

Fertilität, Morbidität und Mortalität von Migrantinnen und Migranten in Deutschland

Vorstellung des Gesundheitsprojektes Mit Migranten für Migranten (MiMi)

Migration in Ingolstadt

Psychiatrische Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge

IGlo Interkulturelle Gesundheitslotsinnen und Lotsen sind richtungsweisend

Migration und Integration im demographischen Wandel

Chancen und Risiken Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Gönüllü. Besuche, Begleitung und Betreuung von Menschen mit Demenz

Aspekte der Seiteneinsteiger-Untersuchungen im Rhein-Sieg-Kreis

Vom Gastarbeiter zum Bettnachbar im Pflegeheim Kultursensible Pflegekonzepte - (k)eine Frage Meltem Başkaya

Gelsenkirchen, den 14.November 2013 BAGSO - Fachtagung Reinhard Streibel AWO Bezirk Westliches Westfalen, Dortmund

Traumatische Erfahrungen und soziale Kompetenz: Herausforderungen und Chancen

Fluchtwege, individuelle Fluchterfahrung und Verarbeitung. Psychosoziale und therapeutische Betreuung. Nationale EMN Konferenz 2014

Zur interkulturellen Öffnung des psychosozialen Gesundheitssystems und der Versorgung von Migranten

Herzlich willkommen! Kultursensible Pflege und Betreuung. Mag. a Petra Dachs Integra, 2008

Gesundheit von Migrantinnen und Migranten Ausgangslage und Handlungsfelder

Interkulturelle Medizin

IBO Initiative Burnout Herzlich willkommen zum zweiten IBO Info-Treff Hotel Therme, Bad Teinach,

Menschen mit Migrationshintergrund in der Hospiz- und Palliativarbeit

Psychische Belastungen/ Störungsbilder bei migrantinnen

Aufstiege in der Arbeitswelt Bilanz, Potenziale und Chancen

Freiwilliges Engagement von Personen mit Migrationshintergrund Statement zu Befunden des Deutschen Freiwilligensurveys 2014

Workshop: Behandlungskonzepte bei traumatisierten Flüchtlingen

Gesundheit von Migranten Hintergründe

Migration und Sucht. Expertise im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Band 141/11 Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit

Wie steht es um die Gesundheit der Migrationsbevölkerung?

Eritreische Patienten eine interkulturelle und interdisziplinäre Herausforderung? Dr. med. Fana Asefaw, Oberärztin, KJPK

Sprachliche Initiativen Österreichs für r Zuwanderer und Personen mit Migrationshintergrund

Einleitung. Lebensqualität. Psychosomatik. Lebensqualität bei Contergangeschädigten Kruse et al. Abschlussbericht Bundesstudie 2012

Gesundheit von Mädchen M. und Jungen mit Migrationshintergrund: Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS)

Datenreport 2016 ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Statement von Dr. Mareike Bünning (WZB)

Nationale Fachtagung des Verbundes «Support for Torture Victims», , Bern

PORTA Ein internetbasiertes

Genderaspekte: Herausforderungen nach Erkenntnissen zur Depression

Gesundheitsnachteile von MigrantInnen: Evidenz und Wahrnehmung

Zahlen, Daten, Fakten zur gesundheitlichen Lage von Heranwachsenden

Zugänge zu Familien mit Migrationshintergrund

Forderungen der DGPPN zur Bundestagswahl 2017

Ursula Neuhauser-Onyejiaka

Psychosoziale Gesundheit

Bericht zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen in Bayern. Fachtag der LAG JSA am , Referentin: Franziska Poppe (MPH)

Erkennen und Behandeln psychischer Störungen in der Hausarztpraxis - Probleme im Alltag -

Überblick 1. Ausgangssituation 2. Empirische Befunde 3. Herausforderungen & Ausblick

Erwachsenenpsychiatrie

Erhebung zum Thema migrations- und kultursensible Pflege" in sächsischen Einrichtungen und ambulanten Diensten der Kranken- und Altenpflege

Interkulturelle Öffnung am Beispiel der

Psychisch kranke Migranten/innen und Implikationen für Sucht

Bedeutung psychischer Gesundheit im Arbeitsleben aus Sicht der Ersatzkassen

Unterversorgung psychischer kranker Menschen die Sicht des Bundes

PSYCHOTISCHE STÖRUNGEN FRÜH ERKENNEN. Prof. Dr. med. Anita Riecher-Rössler Zentrum für Gender Research und Früherkennung Kornhausgasse 7

Internationale Migration von und nach Deutschland: Die neue Einwanderungswelle aus Südeuropa in Globaler Perspektive

Titelzeile und deren Fortsetzung

INTERKULTURELLE AMBULANZ

Migranten und Ehrenamt

Transkulturalität in der psychiatrischen Pflege

Ein Pilotprojekt von pro familia NRW und der Beratungsstelle Bonn Gefördert von der UNO-Flüchtlingshilfe

I Rathaus Aalen I Fachgespräch Azubi statt ungelernt

Rehabilitation depressiver Störungen aus der Sicht der Versorgungsforschung

Psychische Gesundheit von älteren türkischen Migrantinnen und Migranten. Fidan Sahyazici Dr. Oliver Huxhold

Zukunft und Chancen der RPK s in Deutschland:

Frauen mit türkischem Migrationshintergrund. meryam.schouler

Medizin & Therapie Wie es sich gehört

Ergebnisse früherer Studien

Patienten-Universität Städtisches Klinikum Braunschweig 12. Juni 2012

ARBEITSMARKTINTEGRATION UND SOZIALE UNGLEICHHEIT VON MIGRANTINNEN UND MIGRANTEN IN DEUTSCHLAND. Jutta Höhne WSI Herbstforum 26. November 2015, Berlin

Regensburg, Stationäre Mutter/Eltern-Kind- Behandlung aus der Sicht der Erwachsenenpsychiatrie

Statement 2. Beratung, Betreuung und Versorgung von Kindern psychisch kranker Eltern durch Psychotherapeuten. Peter Lehndorfer

Interkulturelle Kommunikation: Wie funktioniert sie und wozu brauchen wir sie?

Psychische Gesundheit und Beschäftigung

NetzWerk psychische Gesundheit

Interkulturelle und binationale Ehepaare in Stuttgart

Interkulturelle Gesundheitslotsen in Schleswig-Holstein. Fachtagung Demenz und Migration am 23. November 2011 in Kiel

Interkulturelle Öffnungsprozesse in der Suchtberatung. Hindernisse und Ressourcen

Transkript:

Die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund 12. DGPPN Hauptstadtsymposium 12.09.2012 in Berlin Prof. Dr. med. Wolfgang Maier President Elect der DGPPN 1

Ergebnisse des Mikrozensus 2010 Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung Unter 5% 5% bis unter 10% 10% bis unter 15% 15% bis unter 20% 20% bis unter 25% 25% und mehr 2

Ergebnisse des Mikrozensus 2010 Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung 19,3 % der Bevölkerung in Deutschland (15,7 Mio. Menschen) haben einen Migrationshintergrund Unter 5% 8,7% (ca. 7,1 Mio.) von ihnen haben eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit 5% bis unter 10% Herkunftsregionen: Türkei (15,8%), Polen (8,3%), 10% Russische bis unter 15% Föderation (6,7%), Italien (4,7%) 15% bis unter 20% 20% bis unter 25% 25% und mehr 3

Ergebnisse des Mikrozensus 2010 Alterspyramide nach Migrationshintergrund Ausländer Deutsche mit Migrationshintergrund Deutsche ohne Migrationshintergrund 4

Beispiele migrationsspezifischer Risikofaktoren Belastende Lebensereignisse wie Flucht, Verfolgung, Trauma erhöhen das Risiko generell und v.a. für PTBS Entwurzelung, Verlust sozialer Bindungen, kulturelle Desorientierung Minority -Position erhöht das Risiko psychischer Störungen (Psychosen): mangelnde Anerkennung, erlebte Zurücksetzung, Frustration und andere aversive Stressoren, Verbitterung Lebenssituation in Deutschland teils gekennzeichnet durch strukturelle Benachteiligung (z.b. beengte Wohnverhältnisse, schlechte Arbeitsbedingungen, Rassismuserfahrung, fehlende Informationen über Gesundheits- und Sozialsystem etc.) 6

Beispiele gesundheitlicher Schutzfaktoren bei Migranten Hinweise auf geringeren Konsum von Alkohol und anderen Drogen bei muslimischen Jugendlichen Tabakkonsum ausgeprägte Geschlechterunterschiede: Frauen mit Migrationshintergrund rauchen weniger als Frauen ohne Migrationhinergrund, bei Männern ist das Verhältnis umgekehrt Geringeres Risiko für Krebserkrankungen (z.b. Brustkrebs) bei Spätaussiedlern und Migranten aus der Türkei, Angleichung an das hiesige Niveau mit der Dauer des Aufenthalts in Deutschland Niedrigere Suizidraten z.b. für Migranten aus der Türkei (mit Ausnahme junger Frauen) Quelle: RKI (2008) 7

Psychische Erkrankungen bei Migranten Reanalyse des Bundesgesundheitssurveys 1998/1999 (Bermejo et al 2010): Vergleich Migranten 1. Generation und Deutsche ohne Migrationshintergrund Signifikant höhere Erkrankungshäufigkeit psychischer Störungen (gesamt) insbesondere für Affektive Störungen OR 1.7 (12-Monatsprävalenz), Somatoforme Störungen OR 2.0 (12- Monatsprävalenz) 8

Psychische Erkrankungen bei Migranten Erhöhte Krankheitshäufigkeiten für Psychosen bei Migranten in der internationalen Literatur Migranten aus nicht-industrienationen in Nordeuropa Erhöhtes Psychosenrisiko unabhängig von Herkunftsland. In der 1. Generation (OR=2.3), 2. Generation (OR =2.1) (Bourque et al. 2011): Junge Erwachsene: je jünger das Alter bei Migration, je höher das Risiko (Veling 2011) 9

Umgebung Pränatal Postnatal Titel Empfängnis Geburt Pubertät Alter Prä-/perinatale Faktoren Gehirn: Graue Substanz Nervenzellwachstum Axonenwachstum Myelenisierung Synapsenwachstum Synaptische Verästelung Hormonelle Regulation Neurokognition: Daueraufmerksamkeit Selektive Aufmerksamkeit Arbeitsgedächtnis Sprache, rezeptiv Sprache, Produktion Private Speech Innere Sprechen Analoges Schließen Meta-Kognition Emotionen: Basisemotionen Komplexe Emotionen Emotionale Regulation Belohnungserfahung Aufwachsen in urbaner Umgebung Minority-Position Quelle: Os et al. 2010 Soziale Kognition: Erkennen von Emotionen Bindung Selbstkonzept und Identität Theory of Mind 10

Herausforderungen für die Versorgung Erschwerte sprachliche Verständigung und Unterschiede im kulturellen Hintergrund können zu Informationsdefiziten bei Vorsorge, Erkennung von Krankheiten, Diagnostik, Therapie, Pflege und Rehabilitation führen Erhöhtes Risiko für Fehl- oder Unterdiagnose (v.a. bei psychischen Störungen) Chronifizierung von Erkrankungen Non-Compliance mit Behandlungsanweisungen Vorenthalt von Leistungen (z.b. Psychotherapie) 11

Subjektiv erlebte Barrieren bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten Schriftliche Befragung unter N=435 älteren Personen (>45 Jahren) mit Migrationshintergrund Aufenthaltsdauer (Durchschnitt in Jahren) Deutschkenntnisse (subj. Einschätzung 1= sehr schlecht, 5 sehr gut Sprach- und Informationsbezogene Hindernisse Negative Erfahrungen und Einstellung zum Gesundheitssystem Aussiedler (Ehemalige Sowjetunion) Türkei Spanien Italien 6* 29 30 30 2,9* 3,3 3,9 3,7 37% 36% 12% 15% 11% 27% 7% 7% Quelle: Bermejo et al. 2012 12

Einflussfaktoren auf erlebte Barrieren zu Gesundheitsdiensten Kulturübergreifende Einflussfaktoren (Bermejo et al. 2012): selbst eingeschätzte Deutschkenntnisse das Sich-Wohlfühlen in Deutschland Kultursensible Krankheitskonzepte Kulturspezifische Barrieren Menschen mit türkischem Migrationshintergrund: Deutsche Fachkräfte wissen wenig über meine Kultur (59%), Fehlende eigene Informationen über das Gesundheitssystem (55%) Aussiedler: Sprachprobleme (61%), fehlende Kenntnis zu Angeboten (56%) Italien und Spanien: bevorzugte Suche nach Hilfe in der Familie (34% bzw. 37%) 13

Fazit Menschen mit Migrationshintergrund sind häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen als die angestammte Bevölkerung Es finden sich Hinweise auf Unterschiede in der Inanspruchnahme der Versorgungssektoren durch Migranten Weniger in Rehabilitationseinrichtungen Häufiger Frühberentung Häufiger in Notfallambulanzen Weniger bei einem Facharzt, seltener in Psychotherapie 14

Arbeit des Referats Migration der DGPPN Gegründet 1991 unter dem (heute eher kritisch zu bewertenden) Namen: Psychiatrie in der Dritten Welt Leitung heute durch PD Dr. Schouler-Ocak, PD Dr. Calliess (stellvertretende Leitung) Ca. 150 Mitglieder, interdisziplinäres Referat aus: Psychiatern, Psychologen, Soziologen, Ethnologen Regelmäßige Newsletter an die Mitglieder Vernetzung auf internationaler Ebene mit der Section of Cultural Psychiatry der European Psychiatric Association (EPA) Beteiligung des Referats an der Verfassung der Sonnenberger Leitlinien (2002), die bis heute die Grundlage für die Behandlung von Menschen aus andere Kulturen mit seelischen Störungen sind Materialien zur besseren interkulturellen Krankheitserkennung und Behandlung, sowie Fort- und Weiterbildung in Ausbildungsinstituten 15

Migration als Querschnittsthema S3-Leitlinie der DGPPN Psychosoziale Therapien bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen: Bedeutung von Migrationshintergrund für die Behandlung schwer psychisch kranker Menschen S2-Leitlinie Notfallpsychiatrie : Menschen mit Migrationshintergrund in der Notfallpsychiatrie An den S3-Leitlinien zu PTBS der DGPPN hat das Referat ein Kapitel zu Interkulturalität eingebracht. Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie - Migration und psychische Gesundheit (Machleidt und Heinz) 16

Aktionsbündnis Seelische Gesundheit Motto der vergangenen Berliner Woche der Seelischen Gesundheit 2011: "Wissen schafft Verständnis: Seelische Gesundheit in kultureller Vielfalt" auf Initiative von Herrn Heinrich Beuscher, Landesbeauftragte für Psychiatrie in Berlin und Frau PD Dr. Schouler-Ocak 17

www.dgppn.de18