Sachverhalt Fall 4. Sachverhalt Fall 4. Sachverhalt

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Transkript:

Sachverhalt Fall 4 Sachverhalt Während eines Besuchs des Papstes in der rheinland-pfälzischen Stadt T veranstaltet X, der sich selbst als Freidenker, Künstler und Kabarettist bezeichnet, auf dem zentral gelegenen Marktplatz in T eine Heiligsprechung eines Transvestiten durch eine Prostituierte, die als Gegenpäpstin Dominika vorgestellt wird und ein weißes, der päpstlichen Kleidung ähnliches Gewand trägt. In dieser Veranstaltung wird der Ritus einer Heiligsprechung der römisch-katholischen Kirche äußerlich nachgeahmt. Die Anwesenden begleiten das Geschehen mit Schmährufen und Spottgesängen. Der römisch-katholische Dechant D und der CDU-Bundestagsabgeordnete A erstatten eine Strafanzeige gegen X mit der Begründung, dieser habe sich gemäß 166 StGB der Beschimpfung eines religiösen Bekenntnisses und der römisch-katholischen Kirche schuldig gemacht. Als praktizierende Katholiken empfänden sie die Darbietung des X als übelste Verächtlichmachung und Brunnenvergiftung. Sie tragen des weiteren vor, dass sie seit der Veranstaltung des X sowie infolge der Verteidigung ihres Bekenntnisses und ihrer Kirche zynischen und aggressiven, oft anonymen Anfeindungen ausgesetzt seien, und legen hierfür Beweise vor. Sachverhalt Fall 4 Ausgangsfall: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen X. Dieser wird zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Das letztinstanzliche strafgerichtliche Urteil ist rechtskräftig. X erhebt gegen dieses Urteil Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Zur Begründung führt er an, das Urteil verletze seine Meinungs- und Kunstfreiheit. Seine Darbietung habe erkennbar kabarettistischen und satirischen Charakter gehabt und sich nicht mit der katholischen Kirche als solcher und ihren Glaubensinhalten auseinandergesetzt ; vielmehr habe er eine im Ansatz sachbezogene Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche geübt. Hat die Verfassungsbeschwerde des X Aussicht auf Erfolg? 1

Sachverhalt Fall 4 Zusatzfrage: Die Staatsanwaltschaft lehnt die Erhebung einer Anklage gegen X ab. D und A betreiben erfolglos das gesetzlich vorgesehene Klageerzwingungsverfahren ( 172 ff. StPO); das zuständige Oberlandesgericht verwirft abschließend ihren Antrag als unbegründet. D und A meinen, die staatliche Justiz habe ihnen den grundrechtlich gebotenen Schutz in verfassungswidriger Weise versagt. Können Sie mit Aussicht auf Erfolg Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erheben? Sachverhalt Fall 4 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) (1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften ( 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften ( 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. 2

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde 1. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts (+) gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG 2. Beschwerdefähigkeit grundsätzlich ist im Falle von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG jedermann grundrechtsfähig und damit auch beschwerdefähig (vgl. 90 Abs. 1 BVerfGG) als natürliche Person ist X ohne weiteres grundrechts- und damit beschwerdefähig 3. Beschwerdegegenstand gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 90 Abs. 1 BVerfGG kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein X wendet sich gegen das strafgerichtliche Urteil, mit dem er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, d.h. gegen einen Akt der Judikative es liegt ein zulässiger Beschwerdegegenstand vor 4. Beschwerdebefugnis Möglichkeit, dass X selbst, gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechten verletzt wurde (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, 90 Abs. 1 BVerfGG)? 3

Urteil sanktioniert ein Verhalten, das möglicherweise in den Schutzbereich der Kunst- und/oder Meinungsfreiheit fällt ( Heiligsprechung ) vorliegend jedenfalls möglich, dass im gegen X ergangenen strafgerichtlichen Urteil diese Grundrechte nicht gebührend in Rechnung gestellt wurde 5. Rechtswegerschöpfung bzw. Subsidiarität, vgl. 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bei dem Strafurteil handelt es sich ausweislich des Sachverhaltes um ein letztinstanzliches Urteil, daher (+) 6. Form und Frist von der Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen an Form und Frist ( 23 Abs.1 Satz 2, 93 Abs.1 Satz 1 BVerfGG) ist auszugehen 7. Zwischenergebnis: Verfassungsbeschwerde des X ist zulässig B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde Die Verfassungsbeschwerde des X ist begründet, wenn das strafgerichtliche Urteil in verfassungswidriger Weise in die Grundrechte des X eingreift. 4

1. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG (Kunstfreiheit) a) Schutzbereich der Kunstfreiheit betroffen? im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG ist zwischen dem Werkbereich, d.h. der künstlerischen Betätigung selbst, und dem Wirkbereich, also der Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks, zu unterscheiden für einen Eingriff in den Schutzbereich der Kunstfreiheit ist ausreichend, wenn entweder der Werkbereich oder der Wirkbereich tangiert ist (1) Werkbereich betroffen, wenn die Heiligsprechung Kunst i.s.v. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG darstellt was unter Kunst zu verstehen ist, ist umstritten nach Auffassung des BVerfG lässt sich Kunst nicht generell definieren (BVerfGE 67, 213 <224 ff.>); dies entbinde indessen nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht, die Freiheit des Lebensbereichs Kunst zu schützen, also bei der konkreten Rechtsanwendung zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorliegen (ebd., <225>) daher Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kunstbegriffen erforderlich nach dem materiellen Kunstbegriff ist wesentlich für die künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (Kunst als Ausdruck schöpferischen Gestaltens) 5

nach dem materiellen Kunstbegriff ist wesentlich für die künstlerische Betätigung die freie schöpferische Gestaltung als unmittelbarer Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers (Kunst als Ausdruck schöpferischen Gestaltens) hier: in der von X inszenierten Heiligsprechung kommt eine Kritik des X an der Sexualpolitik der katholischen Kirche zum Ausdruck; zudem verkörpert die Inszenierung, wie sich den Kostümen, den Gesängen und der Heiligsprechung selbst entnehmen lässt, ein schöpferisches Handeln des X insbesondere dadurch, dass der Ritus einer Heiligsprechung nachgeahmt und verändert wird nach dem formellen Kunstbegriffist Kunst, was sich herkömmlich anerkannten Gegenständen der Kunst zuordnen lässt hier: bei der Heiligsprechung handelt es sich um eine theaterähnliche Inszenierung, die einer anerkannten Kunstgattung nämlich Theater und Parodie zugeordnet werden kann nach dem offenen Kunstbegriff ist Kunst geprägt durch ihre vielfältige Interpretationsmöglichkeit und eine vielstufige Informationsvermittlung hier: die von X inszenierte Heiligsprechung verkörpert Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche 6

Zwischenergebnis: nach allen Kunstbegriffen ist von Kunst i.s.v. Art. 5 Abs. 3 GG auszugehen; der Werkbereich der Kunstfreiheit ist betroffen (2) Wirkbereich betroffen? Wirkbereich der Kunstfreiheit wäre betroffen, wenn das strafgerichtliche Urteil die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks tangieren würde hier ist allerdings zu beachten, dass die strafrechtliche Verurteilung des X keine Auswirkung auf die bereits stattgefundene Darbietung der Heiligsprechung hat; X kam es gerade darauf an, diese während des Papst-Besuchs zu inszenieren, was ihm vorliegend auch gelungen ist Verurteilung des X hat also wenn überhaupt nur Folgen für etwaige zukünftige Inszenierungen seines Kunstwerks Folge: Wirkbereich nicht betroffen (3) Problem: Politische Aussage trotz Betroffenheit des Werkbereichs der Kunstfreiheit könnte eine Eröffnung des Schutzbereichs dennoch dahinstehen, weil X mit seiner Aufführung eine im Ansatz sachbezogene Kritik an der Sexualpolitik der katholischen Kirche üben wollte; insofern könnte die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG dem Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG als lex specialis vorgehen BVerfG: Kunstfreiheit ist gegenüber der Meinungsfreiheit lex specialis (vgl. nur BVerfGE 30, 173 <200<; 67, 213 <222>) 7

in der künstlerischen Betätigung kämen nicht nur künstlerische Elemente, sondern auch die persönliche Stellungnahme und Meinung des Künstlers zum Ausdruck; diese Elemente ließen sich nicht voneinander trennen. Teile der Lit.: Vorrang der Meinungsfreiheit Streitentscheidung: prima facie besteht die Gefahr, dass bei Annahme des Vorrangs der Kunstfreiheit derjenige, der sich der Kunst zur Meinungskundgabe bedient, in ungerechtfertigter Weise privilegiert wird aber: in die Meinungsfreiheit kann der Staat nur auf der Grundlage eines allgemeinen Gesetzes eingreifen, vgl. Art. 5 Abs. 2 GG; mit Blick auf die an die Eingriffsgrundlage zu stellenden Anforderungen sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben für Eingriffe in die Meinungsfreiheit insofern höher als für Eingriffe in die Kunstfreiheit Annahme von Idealkonkurrenz vorzugswürdig b) Eingriff in Schutzbereich strafgerichtliche Urteil verbietet nicht die Inszenierung, sondern führt nur zur Verurteilung des X nach 166 StGB mittelbarer Eingriff in die Kunstfreiheit 8

c) Verfassungsmäßige Eingriffsgrundlage Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG ist nach seinem Wortlaut vorbehaltslos gewährleistet Rückgriff auf die Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG scheidet aufgrund der Systematik des Art. 5 GG aus unzulässig ist ferner eine Ausdehnung der sog. Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG auf die Kunstfreiheit das bedeutet freilich nicht, dass die Kunstfreiheit uneinschränkbar wäre als schrankenlos gewährleistetes Grundrecht unterliegt sie sog. verfassungsimmanenten Schranken, Schranken also, die sich in den Grundrechten Dritter und anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang manifestieren vorliegend kommen als immanente Schranken in Betracht (1) die Religionsfreiheit Dritter z.b. von D und A nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, die in ihrer objektiv-rechtlichen Ausprägung als staatliche Schutzpflicht vor Beeinträchtigungen seitens anderer Bürger schützt, (2) die gemäß Art. 140 GG i.v.m. Art. 137 WRV verfassungsrechtlich geschützte Stellung der römisch-katholischen Kirche, und (3) der religiöse Friede als Unterfall des öffentlichen Friedens diese Schranken werden von 166 StGB konkretisiert 166 StGB genügt dem ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt und stellt eine verfassungsmäßige Eingriffsgrundlage dar 9

d) Eingriff gerechtfertigt? verfassungsrechtliche Rechtfertigung gegeben, wenn das zuvor benannte kollidierende Verfassungsrecht im Rahmen einer Abwägung der widerstreitenden Interessen unter dem Leitbild der praktischen Konkordanz höher wiegt als die Kunstfreiheit des X strafgerichtliche Urteil müsste also eine verfassungsgemäße Konkretisierung der verfassungsimmanenten Schranken von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Alt. GG darstellen zu untersuchen ist, ob die durch das Urteil betroffene Kunstfreiheit des X im Hinblick auf die Religionsfreiheit Dritter, auf die verfassungsrechtlich geschützte Stellung der römisch-katholischen Kirche sowie auf den religiösen Frieden vom Strafgericht zu gering gewichtet wurde dafür: Karikaturen und entsprechend inszenierte Aufführungen zeichnen sich i.d.r. durch eine besonders drastisch formulierte Kritik auszeichnen; sie betrifft vorliegend mit der Sexualpolitik der katholischen Kirche zudem einen Sachverhalt, der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird; zudem satirisches Gepräge der Heiligsprechung dagegen: Aufführung betrifft in ganz besonderem Maße die Religionsfreiheit Dritter sowie die Stellung der katholischen Kirche, weil sie sich an einer Symbolfigur des Christentums, dem Papst, vergreift, zumal Aufführung anlässlich des Papstbesuchs erfolgte; mit der Heiligsprechung wird für bekennende Katholiken zutiefst bedeutungsvoller Akt verspottet, der zur Sexualpolitik der katholischen Kirchen letztlich in keinerlei Zusammenhang steht 10

Zwischenergebnis: Kunstfreiheit des X wurde im Hinblick auf ihre verfassungsimmanenten Schranken durch das Strafurteil nicht zu gering gewichtet (a.a. bei vernünftiger Begründung vertretbar) 2. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. GG (Meinungsfreiheit) a) Schutzbereich der Meinungsfreiheit betroffen? von X inszenierte Heiligsprechung als Meinung i.s.v. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG? es reicht aus, wenn sich die Meinung nur aus den Umständen ergibt vorliegend verkörpert die Heiligsprechung eine kritische Auffassung des X gegenüber der Sexualpolitik der katholischen Kirche angesichts der überaus kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit handelt es sich bei dieser Auffassung um ein Werturteil X hat eine Meinung geäußert; Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG ist berührt b) Eingriff (+) c) Verfassungsmäßige Eingriffsgrundlage vgl. Art. 5 Abs. 2 GG: 166 StGB müsste ein allgemeines Gesetz sein Schutzgut des 166 StGB ist jedenfalls auch der öffentliche Friede 11

166 StGB schützt nur vor Beschimpfungen, die in einer Weise kommuniziert werden, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören damit stellt die Norm nicht nur eine ganz bestimmte Beschimpfung, sondern alle Beschimpfungen des Inhalts des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses unter Strafe, soweit diese geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören Vorschrift richtet sich mithin nicht gegen eine Meinung als solche, sondern gegen ihre Kundgabe in einer bestimmten Art und Weise 166 StGB ist deshalb ein allgemeines Gesetz i.s.v. Art. 5 Abs. 2 GG (a.a. vertretbar) d) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung im Rahmen der Meinungsfreiheit sind die allgemeinen Gesetze dabei ihrerseits im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit für das freiheitlich demokratische Gemeinwesen auszulegen ( Wechselwirkungslehre ) (1) Mittel und Zweck Zweck der strafrechtlichen Belangung von X ist die Erhaltung des öffentlichen Friedens, die Gewährleistung der geschützten Stellung der römisch-katholischen Kirche sowie der Schutz der Religionsfreiheit Dritter durch den Staat; Mittel zu diesem Zweck ist die Bestrafung des X im Wege eines Strafurteils 12

(2) Geeignetheit durch die Verurteilung wird verhindert, dass praktizierende Katholiken auf Dauer dem auf der Inszenierung basierenden Spott ausgesetzt sind (3) Erforderlichkeit Staat hat mit Schaffung von 166 StGB seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht entsprochen soweit denkbar gewesen wäre, X mit einer Geldstrafe zu belegen, ist der Sachverhalt nicht hinreichend ergiebig (4) Angemessenheit die in der Inszenierung enthaltene Kritik des X an der Sexualpolitik der katholischen Kirche betrifft ein allgemein kontrovers diskutiertes Thema, das seine Aktualität aus dem Papstbesuch schöpft es ist Ausdruck einer freiheitlichen Rechtsordnung, auch durch mitunter drastische Anprangerung Missstände benennen zu können aber: Inszenierung des X ist derart radikal, dass sie die Grenze der Sachlichkeit überschreitet und dadurch in besonderer Weise eine Gefahr für den religiösen Frieden begründet 13

räumte man der Meinungsfreiheit Vorrang ein, könnte der Staat seiner aus Art. 4 GG folgenden Schutzpflicht letztlich nicht gerecht werden Zwischenergebnis: Eingriff ist verhältnismäßig (a.a. vertretbar) 3. Zwischenergebnis: Verfassungsbeschwerde des X ist nicht begründet C. Ergebnis: Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg Zusatzfrage: Verfassungsbeschwerden von D und A A. Zulässigkeit [ ] 4. Beschwerdebefugnis es müsste die Möglichkeit bestehen, dass D und A in Grundrechten verletzt wurden, indem das Oberlandesgericht ihren Antrag verworfen hat dann (+), wenn D und A aus ihren Grundrechten einen Anspruch auf schützendes Tätigwerden des Staates (Schutzpflichten) herleiten könnten 14

Schutzpflichten mögen sie rechtspolitisch auch fragwürdig sein (Gefahr von staatlicher Bevormundung und Unterlaufen der Gewaltenteilung) wurden vom BVerfG jedenfalls mit Blick auf die Legislative grundsätzlich anerkannt (BVerfGE 39, 1 <41 f.>) dabei geht es um allgemeine Schutzpflichten, die eine objektivrechtliche Ausprägung aller Grundrechte, gewissermaßen als Kehrseite ihres vornehmlich einschlägigen Abwehrcharakters, verkörpern obwohl sich Art. 4 GG kein ausdrücklicher Schutzauftrag entnehmen lässt, traf die staatlichen Organe daher die generelle Pflicht, die Religionsfreiheit von D und A zu schützen hier aber Problem: können objektive Schutzpflichten i.s. eines Anspruchs versubjektiviert werden und also im Wege der Verfassungsbeschwerde unmittelbar vor dem BVerfG geltend gemacht werden? für die Subjektivierbarkeit von Schutzpflichten spricht, dass das BVerfG die Anwendung des einfachen Rechts nicht überprüft und die staatlichen Schutzpflichten auf verfassungsrechtlicher Ebene damit ohne Durchsetzungsmechanismus zugunsten des Einzelnen blieben Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf staatliche Schutzpflichten kann aber nur dann zulässig sein, wenn die staatlichen Organe gänzlich untätig geblieben sind oder bisher getroffene Maßnahmen evident unzureichend waren (Gewaltenteilung!) 15

das ist vorliegend nicht der Fall, weil der Gesetzgeber mit Schaffung des 166 StGB ausreichend tätig wurde würde man diese strafrechtliche Sanktionierung nicht als ausreichend erachten, drohte letztlich eine Gewichtsverschiebung zugunsten von Art. 4 GG deshalb traf den Staat vorliegend keine über 166 StGB hinausgehende Schutzpflicht Zwischenergebnis: D und A können schon keine Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung geltend machen; sie sind nicht beschwerdebefugt 5. Ergebnis: Mangels Beschwerdebefugnis ist die Verfassungsbeschwerde von D und A unzulässig (a.a. vertretbar). 16