Fall 19: "Briefmarkenkauf" Voraussetzungen des Vertragsschluss zwischen Minderjährigen; Wirksamwerden von Willenserklärungen, die gegenüber Minderjährigen abgegeben werden; Verhältnis von 131 II zu 108 BGB; Einschränkung der Saldotheorie Fall 19: "Briefmarkenkauf" Der 12jährige B erwirbt von A eine Briefmarkensammlung für DM 150,-. Das Geld hatte ihm seine Großmutter zum Geburtstag für den Erwerb eines Fahrrades geschenkt, für das B sparen wollte; die Eltern des B hatten von der Schenkung durch die Großmutter nichts bemerkt. Da in der erworbenen Sammlung mehrere Marken doppelt sind, bietet B sie in einer Briefmarkenzeitschrift für DM 30,- an. Der 13jährige X meldet sich telefonisch bei B. X erklärt, er möchte die acht Briefmarken haben, den Preis von DM 30,- könne er problemlos von seinem monatlichen Taschengeld i.h.v. DM 80,- zahlen. B erklärt sich einverstanden. Hat B gegen X einen Zahlungsanspruch, wenn die Eltern des X mittlerweile gegenüber den Eltern des B erklärt haben, sie seien mit dem Rechtsgeschäft nicht einverstanden? 1. Abwandlung: Die Eltern von X und B stimmen jeweils nachträglich den Geschäften ihren Kinder zu. Als X von B Lieferung Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises verlangt, hat B es sich noch einmal anders überlegt; er möchte die Marken lieber seinem Großvater schenken. X verlangt Lieferung. Zu Recht? 2. Abwandlung: Kurz nach Erwerb der Briefmarken bei A hat B diese wieder verloren. Daraufhin verlangen die Eltern des B von A Rückzahlung von DM 150,-. Zu Recht? Ausgangsfall Anspruch des B gegen X auf Kaufpreiszahlung aus 433 II BGB Voraussetzung: Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrags zwischen B und X I. Anzeigenschaltung durch B lediglich invitatio ad offerendum II. Telefonische Einigung zwischen B und X III. Wirksamkeit der Einigung 1. Erklärung des X: Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages F.: Ist dieses Angebot des X dem B wirksam zugegangen? Wo liegt ein kleines verstecktes Problem? A.: In 131 BGB, der das Wirksamwerden von Willenserklärungen gegenüber nicht voll Geschäftsfähigen regelt. Danach: Grundsatz gem. 131 II BGB wird eine gegenüber einem Minderjährigen abzugebenden WE erst wirksam mit Zugang an gesetzl. Vertreter 2. Wirksamwerden des Angebots gem. 131 BGB? (Hinweis: 131 BGB regelt Fälle, in denen Willenserklärungen nicht [voll] Geschäftsfähigen gegenüber abgegeben werden). Erklärungsempfänger B ist minderjährig, infolgedessen ist das Angebot des X dem B nur unter den Voraussetzungen des 131 II BGB wirksam geworden. Voraussetzung: Zugang des Angebotes an gesetzliche Vertreter des Minderjährigen ( 131 Abs. II S. 1 i.v.m. Abs. I BGB) oder Vorliegen der Voraussetzungen des 131 II S. 2 BGB Hier: Kein Zugang des Angebotes des X an die Eltern des B. Wirksamer Zugang der Erklärung des X bei B gem. 131 II S. 2 BGB? Angebot für sich schafft für den Empfänger keine Pflichten, sondern lediglich die Möglichkeit, den Vertrag zustande zu bringen (Palandt/Heinrichs, 131 Rn. 3). => Angebot des X bringt lediglich rechtlicher Vorteil zugunsten des B.
=> Wirksamer Zugang des Angebotes des X gem. 131 II S. 2 BGB. 3. Wirksamkeit des Angebotes gem. 106 ff. BGB (Hinweis: Im Gegensatz zu 131 BGB regeln 104 ff. BGB Fallgestaltungen, in denen der nicht [voll] Geschäftsfähige selbst eine Willenserklärung abgibt). X ist minderjährig gem. 106, 2 BGB => Wirksamkeit der Willenserklärung unter den Voraussetzungen der 107 ff. BGB a) Keine Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des X gem. 107 BGB b) Keine rechtlich vorteilhafte Erklärung für X gem. 107 BGB => Keine Wirksamkeit der Willenserklärung des X gem. 107 BGB c) Genehmigung des Vertrages gem. 108 BGB? Grundsatz: Vertrag ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ist schwebend unwirksam. Hier: keine Genehmigung der Eltern des X (im Gegenteil: ausdrückliche Verweigerung einer Genehmigung) d) Wirksamkeit des Vertrages gem. 110 BGB? Voraussetzung: Bewirkung der Leistung durch den Minderjährigen mit Mitteln, die ihm zu diesem Zweck oder zur freien Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind. Erforderlich: tatsächliche - d.h. vollständige - Erbringung der Leistung (Larenz/Wolf, BGB AT, 8. Aufl., 25 Rn. 35). Hier: Kein Bewirken der Leistung durch X. => Voraussetzungen des 110 BGB (auf Seiten des X): (-) => Kein Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrages zwischen B und X Frage: Hier wurde die Wirksamkeit der Willenserklärung des X abgelehnt und damit ein Vertragsschluss verneint. Wie ließe sich das Zustandekommen eines Vertrages gleichfalls ablehnen, wenn man an 131 BGB denkt und genau genommen wäre dies juristisch korrekter als bisherige Lösung (Hinweis auf mögliche andere Begründung dieses Ergebnisses: Voraussetzung für einen Vertragsschluss, dass die Willenserklärungen den Parteien wirksam zugegangen sind. Bedenken: Kein Wirksamwerden gem. 131 II BGB? Wirksamer Zugang des Angebotes des X gem. 131 II S. 2 BGB, da Willenserklärung des X dem B lediglich einen rechtl. Vorteil verschafft (s.o.) Wirksamer Zugang der Annahme des B ebenfalls gem. 131 II S. 2 BGB? Bedenken: Annahme vollendet den Vertragsschluss. => Annahmeerklärung des B verschafft dem X nicht nur rechtlichen Vorteil, sondern auch eine vertragliche Verpflichtung. => Kein wirksamer Zugang der Annahme des B gem. 130 II 2 BGB. => Kein Zustandekommen eines Kaufvertrages zwischen B und X) 1. Abwandlung Anspruch des B gegen X auf Übergabe und Übereignung der Briefmarken gem. 433 II BGB Voraussetzungen:
I. Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrages Telefonische Einigung zwischen B und X Wirksamkeit dieser Einigung? 1. Erklärung des X: Telefonisches Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages a) Wirksamwerden des Angebots gem. 131 BGB? Angebot des X bringt lediglich rechtlicher Vorteil zugunsten des B. => Wirksamer Zugang des Angebotes des X gem. 131 II S. 2 BGB. b) Wirksamkeit des Angebotes gem. 106 ff. BGB Wirksamkeit der Willenserklärung unter den Voraussetzungen der 107 ff. BGB aa) Keine Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des X gem. 107 BGB bb) Keine rechtlich vorteilhafte Erklärung für X gem. 107 BGB => Keine Wirksamkeit der Willenserklärung des X gem. 107 BGB cc) Genehmigung des Vertrages gem. 108 I BGB? Grundsatz: Vertrag ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ist schwebend unwirksam. Hier: Genehmigung des Geschäftsgeschäfts durch die Eltern des X => Wirksames Angebot durch X 2. Erklärung des B (Annahme) Telefonische Annahmeerklärung im Rahmen der Vereinbarung zwischen B und X a) Wirksamer Zugang gem. 131? aa) Kein Zugang der Annahmeerklärung an den gesetzlichen Vertreter gem. 130 II S. 1, I BGB bb) Zugang gem. 130 II S. 2 BGB? (1) Annahmeerklärung des B für X nur mit rechtlichem Vorteil verbunden? Annahme vollendet den Vertragsschluss => Erklärung des B verschafft dem X nicht nur rechtl. Vorteil, sondern auch Verpflichtung (2) Wirksamer Zugang aufgrund einer Einwilligung des gesetzlichen Vertreters gem. 131 II 2 BGB? => Kein Zustandekommen eines Kaufvertrages zwischen X und B? Grundsatz: nur Einwilligung, also vorherige Zustimmung, hilft im Rahmen des 131 II 2 BGB. Ausnahme: Geht einem beschränkt Geschäftsfähigen die Annahme eines Vertragsangebotes zu, so kann der gesetzliche Vertreter dem auch nachträglich zustimmen, weil sonst die Anwendbarkeit des 108 BGB ausgeschlossen würde (vgl. BGHZ 47, 352, 358; Palandt/Heinrichs, 131 Rn. 3; h.m.). Hier: Genehmigung der Eltern des X (s.o.) => wirksamer Zugang der Annahmeerklärung gem. 130 II BGB bb) Wirksamkeit der Annahmeerklärung gem. 106 ff. BGB Zumindest konkludente Genehmigung des Vertrages durch Eltern des B durch Aufforderung der Kaufpreiszahlung => Zustandekommen eines wirksamen Kaufvertrages zwischen B und X => Anspruch des X gegen B auf Übergabe und Übereignung der Briefmarken Zug um Zug gegen Bezahlung gem. 433 II, 320 BGB 2. Abwandlung
Anspruch des B - vertreten durch seine Eltern - gegen A auf Rückzahlung von DM 150,-- aus 812 I S. 1, 1. Alt. BGB 1. Etwas erlangt A hat etwas - jedenfalls Besitz an den DM 150,- - erlangt. 2. durch Leistung des B Problem: bedarf es für eine Leistung der Geschäftsfähigkeit? Def.: bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens setzt begrifflich keine Geschäftsfähigkeit voraus entscheidend: welche Rechtsnatur hat die Zweckbestimmung (ähnliches Problem wie die Zwecknatur der Erfüllung). h.l.: für Leistung keine Geschäftsfähigkeit notwendig (vgl. Erman/Westermann, 812 Rn. 13; str.): für gültige Zweckbestimmung reicht grds. ein nicht-rechtsgeschäftlicher tatsächlicher Akt aus Zweifel könnte man haben, wenn man sich BGHZ 111, 382, 386 anschaut, wo der BGH Geschäftsfähigkeit gefordert hatte, aber da ging es um einen anderen Fall: Da bestand die Vermehrung des fremden Vermögens (also die mögliche Leistung) in der Überweisung von Geld und in diesem Fall also wo Leistung und Rechtsgeschäft zusammenfallen hat der BGH gesagt, für die wirksame Überweisung (Rechtsgeschäft) und damit für die Leistung Geschäftsfähigkeit erforderlich gehalten. Hier: Besitzübertragung ein nicht rechtsgeschäftlicher Akt =>keine Geschäftsfähigkeit erforderlich A propos: Erfüllung F.: Kann gegenüber einem beschränkt Geschäftsfähigen erfüllt werden? A.: Nein, Erfüllung für Minderj. nicht lediglich rechtl. vorteilhaft, weil mit Erfüllung sein Anspruch erlischt Unabhängig von Rechtsnatur der Erfüllung? h.m.: Theorie der realen Leistungsbewirkung d. h. Erfüllung = allein in der Herbeiführung des Leistungserfolgs (zusätzl. subj. Merkmal, insbesondere rechtsgeschäftl. Vereinbarung der Zweckbestimmung nicht erforderlich) (andere Theorien: Zweckvereinbarungstheorie (neben obj. Bewirken auch vertragl. Willensübereinstimmung) oder Theorie der finalen Leistungsbestimmung (obj. Bewirken und Zweckbestimmung des Leistenden als geschäftsähnliche Handlung) 3. ohne Rechtsgrund Kaufvertrag zwischen A und B gem. 108 I BGB endgültig unwirksam, da ohne Einwilligung der Eltern geschlossen und keine Genehmigung erteilt. Kein Eingreifen des 110 BGB (Mittel waren dem B weder zu Zwecke des Erwerbs der Marken noch zur freien Verfügung überlassen worden). => A hat rechtsgrundlos den Besitz am Geld erhalten. 4. Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung gem. 818 BGB a) Gem. 818 II BGB hat A zumindest Wertersatz zu leisten. b) Berücksichtigung der von A erbrachten Gegenleistung? Hier: Bereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines gegenseitigen Vertrags
aa) Abwicklung nach der Saldotheorie H.M.: Berücksichtigung der Zweckverbindung der beiderseitigen Leistungen auch im Rahmen der Rückabwicklung des nichtigen Vertrages (Saldotheorie); heute herrschend (BGH NJW 1999, 1181; BGHZ 53, 144, 145; BGHZ 37, 147 ff.; BGH NJW 1981, 224, 226; Palandt/Thomas, 818 Rn. 48) Was besagt die Saldotheorie? Mit Rücksicht auf die von den Parteien gewollte synallagmatische Abhängigkeit von Leistung und Gegenleistung muss auch die Rückabwicklung des Vertrages einheitlich erfolgen. Berücksichtigung der Zweckverbindung der beiderseitigen Leistungen auch im Rahmen der Rückabwicklung des nichtigen Vertagtes Konsequenzen der Saldotheorie: (1) Durch Vergleich der durch den Bereicherungsvorgang hervorgerufenen Vor- und Nachteile wird ermittelt, für welchen Beteiligten sich ein Überschuss (Saldo) ergibt. Dieser Beteiligte ist Gläubiger eines einheitlichen, von vornherein durch Abzug der ihm zugeflossenen Vorteile beschränkten einheitlichen Bereicherungs-anspruchs (zuletzt BGH NJW 1999,1181) (2) Ist eine Saldierung wegen Ungleichartigkeit nicht möglich, hat der Bereicherungsgläubiger die ungleichartige Gegenleistung schon durch Anbieten einer Rückgewährung Zug um Zug zu berücksichtigen (BGH NJW 1995, 454; BGH NJW 1999, 1181) (2) Im Falle des (Teil-) Untergangs der Leistung muss sich der nach 818 III BGB Entreicherte den Wert der Entreicherung von seinem eigenen Bereicherungsanspruch grundsätzlich abziehen lassen (BGHZ 53, 144, 145; BGH NJW 1981, 224, 226; Palandt/Thomas 818 Rn. 48). Im Gegensatz zur Zweikondiktionentheorie trägt damit der Leistungsempfänger hier der Käufer das Risiko der bei ihm eingetretenen Wertminderung, weil er die von ihm erbrachte Gegenleistung in diesem Falle nur unter Abzug des Wertes zurückerhält. Warum soll der Leistungsempfänger, den Käufer dieses Risiko treffen? Bei Wirksamkeit des Kaufvertrages hätte der Käufer dieses Risiko getragen. Deshalb soll der Käufer den Verlust oder die Beschädigung der Kaufsache, der ihn bei Wirksamkeit des Kaufs getroffen hätte, auch bei dessen Nichtigkeit tragen Unter Anwendung der herrschenden Saldotheorie könnte B nicht den vollen Kaufpreis zurückverlangen; vielmehr müsste er sich den mittlerweile eingetretenen Untergang der ihm von A übereigneten Briefmarken abziehen lassen. bb) Einschränkung der Saldotheorie Keine Anwendung der Saldotheorie, wenn der aus dem Abzug Benachteiligte besonders schutzwürdig oder der aus dem Abzug Begünstige nicht schutzwürdig ist: Aus 104 ff. BGB ist zu entnehmen, dass derjenige, der nicht (voll) geschäftsfähig ist, vor den Folgen seines rechtsgeschäftlichen Handelns geschützt werden soll. Dieser gesetzlichen Wertung würde es nicht entsprechen, wenn der Bereicherungsanspruch gekürzt würde (BGH ZIP 1994, 954! Beschränkung der Saldotheorie im Interesse des Minderjährigenschutzes (BGH ZIP 1994, 954) => selbständiger Anspruch auf Herausgabe des Empfangenen - unabhängig vom Schicksal des Bereicherungsanspruchs der Gegenseite => Anspruch des B gegen A auf Rückzahlung des gesamten Kaufpreises i.h.v. DM 150,- aus 812 I 1, 1. Alt. BGB