Verwaltungsrecht I Wintersemester 2015/16 16. Vorlesung Polizei- und Ordnungsrecht (4) Priv.-Doz. Dr. Ulrich Jan Schröder
Programm für heute Gefahrenbegriffe 2
Fall: Die Polizei wird mi.en in der Nacht von einem anonymen Anrufer darüber informiert, dass in der Diskothek La Boum eine Bombe deponiert sein soll, die in zwei Stunden hochgehen wird. Die Polizei kennt diese Anrufe. Sie haben sich jedes Mal, nachdem die Polizei zur Bombensuche ausgerückt war, als Falschalarm herausgestellt. Auch dieses Mal sind die Indizien zu spärlich, von mehr auszugehen. Da es der Polizei zu heikel ist, nicht zu reagieren, erlässt sie folgende Verfügungen gegenüber dem Diskothekenbesitzer: 1. Dulden Sie die sofornge Schließung der Diskothek zur Durchsuchung und ggf. Sicherstellung einer Bombe. 2. BeauQragen Sie unverzüglich einen professionellen Bombenentschärfer, der sich für den Fall eines Bombenfunds bereithält. Die Polizei findet wie erwartet vor Ort keine Bombe. Sind die Verfügungen rechtmäßig? 3
Rechtmäßigkeit der Verfügungen I. Ermächtigungsgrundlage 1. Verfügung (Schließungsanordnung) 38 II Nr. 2 HSOG (Betreten/Durchsuchung einer Wohnung) Diskothek = Wohnung? EGL nur für Vollstreckung (ggf. Sofortvollzug)? oder (auch) für Gebote/Verbote? Schließungsverfügung miterfasst? (zw.) 11 HSOG 4
Rechtmäßigkeit der Verfügungen I. Ermächtigungsgrundlage 2. Verfügung (Beauftragungspflicht) aufschiebend bedingte Feststellung einer Pflicht zur Vollziehung einer noch nicht ausgesprochenen Verfügung? dafür fehlt eine EGL Gefahrenabwehrverfügung aufgrund von 11 HSOG 5
Rechtmäßigkeit der Verfügungen I. Ermächtigungsgrundlage 11 HSOG Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die folgenden Vorschriften die Befugnisse der Gefahrenabwehr- und der Polizeibehörden besonders regeln. 6
Rechtmäßigkeit der Verfügungen I. Ermächtigungsgrundlage II. Formelle Rechtmäßigkeit 1. Zuständigkeit 2. Verfahren 3. Form III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Liegt der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage vor? 2. Wurde eine richtige Rechtsfolge gewählt? 7
Rechtmäßigkeit der Verfügungen 1. Liegt der Tatbestand der Ermäch@gungsgrundlage vor? 11 HSOG eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) Gefahr? eine Sachlage, bei der im Einzelfall hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird 8
Defini@on von Gefahr: eine Sachlage, bei der im Einzelfall hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit eine Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird à öffentliche Sicherheit oder Ordnung: Schutzgüter (s. die beiden letzten Vorlesungen) à hinreichende Wahrscheinlichkeit Abgrenzung zur bloßen Möglichkeit Eingriffsschwelle rech`erngt (u.a.) Grundrechtseingriff fließender Übergang zwischen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit auch BeseiNgung einer Störung (= Schaden) erfasst, wenn damit Gefahr verbunden ist überwiegende Wahrscheinlichkeit wird nicht verlangt, nur hinreichende Je gewichnger das bedrohte Schutzgut bzw. je gravierender der zu erwartende Schaden ist, desto geringer sind die Anforderungen an die hinreichende Wahrscheinlichkeit str., ob auch die Schwere des Grundrechtseingriffs einbezogen werden kann/muss 9
Defini@on von Gefahr: eine Sachlage, bei der im Einzelfall hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit bei ungehindertem Fortgang eine Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird à hinreichende Wahrscheinlichkeit unvollständiges Wissen Prognose eines zukünqigen Schadens auf der Basis von Wahrnehmung der Tatsachen im Einzelfall Erfahrungssätzen, wissenschaqlichen Erkenntnissen etc. notwendig mit Wertungen verbunden bezogen auf den Einzelfall: konkrete, nicht abstrakte Gefahr abstrakt gefährlich: typischerweise gefährlich (Grundlage für VOen, vgl. 71 HSOG) Verursachung durch Menschen (Störer/Verantwortlichen) für Gefahr nicht begriffsimmanent 10
Anwendung auf den Fall Liegt eine Gefahr vor? hinreichende Wahrscheinlichkeit eines zukünqigen Schadenseintri.s Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung? o öffentliche Sicherheit Ø Unverletzlichkeit der Rechtsordnung (StraQatbestände, 211, 212, 223 etc. StGB) Ø Individualrechtsgüter hinreichende Wahrscheinlichkeit? o bloße Möglichkeit oder mehr? o frühere Fehlalarme o auch diesmal ein Fehlalarm, wie sich im Nachhinein herausstellt daher keine Gefahr? 11
hinreichende Wahrscheinlichkeit eines zukünqigen Schadenseintri.s o entscheidend ist nicht das nachträgliche Wissen ( ex post- Sicht ) oder die Wahrheit (objeknve Gefahr) o entscheidend ist das Wissen/Wissenmüssen im Zeitpunkt der Gefahrenabwehrmaßnahme ( ex ante- Sicht, subjeknve Gefahr) o aber: objek@vierende ex ante- Sicht/Bewertung der Umstände Ø Daher kann eine Gefahr i.s.d. POR vorliegen, wenn tatsächlich gar keine Gefahr besteht. Ø In diesem Fall spricht man auch von einer Anscheinsgefahr str. ist, ob dieser Begriff sinnvoll ist, da es sich um eine Gefahr im Sinne der Generalklauseln handelt (wichng für Entschädigung...) Anscheinsgefahr: die Sachlage muss bei objeknver Betrachtung als Gefahr erschienen sei, obwohl tatsächlich keine Gefahr vorlag Ø Gegenbegriff: Puta@vgefahr ein objeknver Betrachter hä.e keine Gefahr angenommen, der handelnde Beamte erliegt einem subjeknven Irrtum (= keine Gefahr) 12
Im Fall: nachträgliche Erkenntnis, dass keine Bombe vorhanden war, ist irrelevant à warum diese Auslegung von Gefahr (Anscheinsgefahr = Gefahr)? - - EffekNvität der Gefahrenabwehr - typischerweise Handeln unter Zeitdruck - Unvollständigkeit des Wissens Möglichkeit zur Korrektur auf Sekundärebene (Kostentragung, Entschädigung), arg.: dann hat man Zeit 13
Korrektur der Anscheinsgefahr auf der Sekundärebene Grundsatz: Kostentragung des Verantwortlichen (vgl. 8 II, 43 III, 49 HSOG) Anscheinsgefahr: Trennung von Primär- und Sekundärebene à d.h., was eine Gefahr im Sinne der Generalklausel ist, ist nicht Gefahr isd Kostenrechts, also: keine Kostentragung des Eingriffsadressaten à sogar Entschädigungsansprüche (Behandlung als Nicht- Verantwortlicher, analog oder unmi.elbar 64 I 1 HSOG) Entschädigungsanspruch kann die Kosten der Selbstvornahme eines polizei- und ordnungsrechtlichen Gebots umfassen Ausnahme: der Eingriffsadressat hat den Anschein der Gefahr zurechenbar verursacht (Maßstäbe unklar à wie Verantwortlicher... übernächste Vorlesung) 14
Anwendung auf den Fall Liegt eine Gefahr vor? hinreichende Wahrscheinlichkeit eines zukünqigen Schadenseintri.s Anscheinsgefahr? Polizei geht selbst nicht von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit aus à ist für Vorliegen einer Gefahr auch nicht nöng Polizei geht (wohl) nicht einmal von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit aus andere Ansicht vertretbar? gravierende Schäden drohen, geringere Anforderungen an hinreichende Wahrscheinlichkeit aber : es geht der Polizei um weitere Auvlärung, nicht um Abwehr der Gefahr als solche (Unterscheidung kann schwierig sein) 15
Liegt eine Gefahr vor? hinreichende Wahrscheinlichkeit eines zukünqigen Schadenseintri.s Wenn Behörde selbst noch Auvlärungsbedarf sieht = sogen. Gefahrenverdacht à liegt dann eine Gefahr isd Generalklauseln vor? arg. contra: - das Vorliegen der Sachlage, bei deren ungehinderter Fortentwicklung bald ein Schaden eintri., ist Diagnose, nicht Teil der Prognose bzw. des Beurteilungsspielraums à Indizien müssen vorliegen - Gesetzesvorbehalt: Gefahr muss ein besnmmter Begriff sein arg. pro: - zumindest Gefahrerforschungsmaßnahmen müssen gedeckt sein - teleologische Auslegung des Begriffs Gefahr - EffekNvität der Gefahrenabwehr - das Maß des Eingriffs kann dann über die Verhältnismäßigkeit moderiert werden - Standardbefugnisse setzen oq nur Gefahrenverdacht voraus ( tatsächliche Anhaltspunkte, die die Annahme rech`erngen, vgl. 12 HSOG), erst recht die (Auffang- )Generalklauseln - Möglichkeit der Korrektur auf der Kosten- bzw. Entschädigungsebene (wie bei Anscheinsgefahr) 16
Liegt eine Gefahr vor? hinreichende Wahrscheinlichkeit eines zukünqigen Schadenseintri.s Wenn Behörde selbst noch Auvlärungsbedarf sieht = sogen. Gefahrenverdacht à liegt dann eine Gefahr isd Generalklauseln vor? ie (+) à Wie muss der Gefahrenverdacht beschaffen sein, damit Gefahr vorliegt? Grds. großzügige Auslegung (Tatsachen, die eine Gefahr nahelegen) dafür bei der Prüfung der richngen Rechtsfolge strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung der an einen Verantwortlichen gerichteten Maßnahme Hier im Fall: Gefahrenverdacht = Gefahr (+) damit Ergebnis zu III. 1 (Tatbestand gegeben?): (+) 17
III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand gegeben? (+) 2. Rich@ge Rechtsfolge gewählt? a) Vorgaben in der EGL ( 11 HSOG): die notwendigen Maßnahmen, um eine Gefahr abzuwehren 1. Verfügung: Duldung von Betreten und Durchsuchen durch Polizei 2. Verfügung: Bombenentschärfer auf Abruf beauqragen à jedenfalls erste Maßnahme ist nur Gefahrerforschung/Gefahrermi.lung dennoch Gefahrenabwehr? ja, wenn Gefahrerforschung = Gefahr à Gebot, einen Bombenentschärfer auf Abruf zu beauqragen, ist vorsorgliche Maßnahme für den Fall der Gefahrenabwehr = Gefahrenvorsorge muss erst recht Gefahrenabwehr isd Generalklauseln sein notwendig zur Gefahrenabwehr à in der Verhältnismäßigkeit zu prüfen 18
III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand gegeben? (+) 2. Rich@ge Rechtsfolge gewählt? b) Vorgaben außerhalb der EGL ( 11 HSOG): v.a. Gebot der Verhältnismäßigkeit à normanve Grundlage: einfachrechtlich ( 4 HSOG), verfassungsrechtlich (Rechtsstaatsprinzip, Grundrechte) à Prüfungsstandort: Ermessensgrenze (Ermessenmissbrauch) à Str., ob nur Gefahrerforschungsmaßnahmen zulässig sind jdf. auch Anordnungen zur Schadensbegrenzung 1. Verfügung ist Gefahrerforschungsmaßnahme 2. Verfügung ist vorsorgliche Gefahrenabwehr/Gefahrenvorsorge Problem: Polizei hat nicht den Sachverhalt aufgeklärt, geht aber schon von Gefahr aus: Vorfinanzierung durch Diskothekenbesitzer nicht gerech`erngt, wenn Besitzer der (vermeintlichen) Gefahr nicht besonders nahe steht (also kein Verantwortlicher für Verdacht der Gefahr ist) 19
III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand gegeben? (+) 2. Rich@ge Rechtsfolge gewählt? b) Vorgaben außerhalb der EGL ( 11 HSOG): v.a. Gebot der Verhältnismäßigkeit 2. Verfügung ist nicht gerech`erngt, wenn Besitzer der (vermeintlichen) Gefahr nicht besonders nahe steht (also kein Verantwortlicher für Verdacht der Gefahr ist) à Zurechnung des Gefahrenverdachts? Wie bei Verantwortlichen für Gefahr (übernächste Vorlesung) à hier: Zweckveranlasser? ie wohl (- ) Ergebnis: 2. Verfügung ist unangemessen und daher unverhältnismäßig 20
III. Materielle Rechtmäßigkeit 1. Tatbestand gegeben? (+) 2. Rich@ge Rechtsfolge gewählt? b) Vorgaben außerhalb der EGL ( 11 HSOG): v.a. Gebot der Verhältnismäßigkeit 1. Verfügung: Str., welchen Inhalt Gefahrerforschungsmaßnahmen haben dürfen à immer nur Duldung, Behörde muss selbst auvlären ( 24 VwVfG) à auch Verpflichtung der vermeintlich Verantwortlichen zur Sachverhaltsermi.lung à wohl Abwägung im Einzelfall geboten! à Streitentscheid kann hier offenbleiben, da nur Duldung geboten wird In der Angemessenheit zu berücksichngen: Eingriff in den Gewerbebetrieb (Art. 12 GG), Einnahmeausfälle etc. einerseits, Lebens- und Gesundheitsschutz andererseits Ergebnis: 1. Verfügung ist verhältnismäßig und insgesamt rechtmäßig (nicht behandelt: ist der Diskothekenbetreiber verantwortlich, dazu 6. Vorlesung 21
Gefahrenbegriffe Stufen der Gefahr bzw. qualifizierte Gefahrbegriffe à konkrete und abstrakte Gefahr: im Einzelfall oder typischerweise in einer Vielzahl von Fällen à Unterscheidung nach Intensität dringende Gefahr ( 38 VI HSOG) unmi.elbare Gefährdung (vgl. 15 I VersG) gegenwärnge Gefahr (vgl. 31 II, 40 Nr. 1, 45 II, 61 I Nr. 1 HSOG) jeweils: Schaden zeitlich nah, hohe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintri.s Gefahr im Verzug (vgl. Art. 13 II GG, 30 IV, 36 V HSOG): Schaden träte ein, wenn das Eingreifen der eigentlich zuständigen Behörde bzw. eine richterliche Entscheidung abgewartet würden bzw. wenn allgemeine Form- oder VerfahrensvorschriQen eingehalten werden müssten 22
Literaturhinweise 1. Lehrbücher a) Schoch, in: ders. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 186-192 b) Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 51-66 c) Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, S. 40-51 2. Rechtsprechung a) OLG Stu.gart, NJW 1992, 1396 (Entschädigung des Diskothekenbetreibers) b) BGH, NJW 1992, 2639 (Entschädigung bei Inanspruchnahme aufgrund Gefahrenverdacht oder Anscheinsgefahr) 3. Aufsätze Poscher, NVwZ 2001, 141: Der Gefahrverdacht 23