Vorlesung im Bachelorstudiengang Frühjahrsemester 2017, 19. April 2017

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Transkript:

Aspekte der Versicherungspsychiatrischen Begutachtung Forensisch Psychiatrische Klinik Basel Forensische Psychiatrie für Juristen und Psychologinnen Versicherungsmedizin und versicherungsmedizinische Gutachten Vorlesung im Bachelorstudiengang Frühjahrsemester 2017, 19. April 2017 lic. iur. Yvonne Bollag, Leitung asimbegutachtung, Versicherungsmedizin, Unispital Basel Prof. Ralph Mager, Leiter Versicherungsmedizin, Forensisch Psychiatrische Klinik Basel 1

Gliederung I Relevanz psychischer Störungen II Ziele der psychiatrischen Begutachtung III Rahmen und Erschwernisse der psychiatrischen Begutachtung IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen V Problematik anhand eines Fallbeispieles/ Diskussion

I Relevanz psychischer Störungen

I Relevanz psychischer Störungen Kosten Disorders of the brain 2010 (Europa): ca. 800 Milliarden Euro (davon 40% indirekte Kosten durch Produktionsausfall) - Sucht: 65, 7 Milliarden - Angststörungen: 74,4 Milliarden - Demenz: 105,2 Milliarden - Somatoforme Störungen: 21,2 Milliarden - Affektive Störungen: 113,4 Milliarden - Psychotische Störungen: 93,9 Milliarden - Traumatische Hirnverletzungen: 33 Milliarden - Multiple Sklerose: 14,6 Milliarden Jedes Jahr leidet etwa 1/3 der EU Bevölkerung an einer psychischen Störung. Gustavsson et al. 2011; European Neuropsychopharmacology

I Relevanz psychischer Störungen..trotz gleich bleibender Prävalenzraten! DAK-Gesundheitsbericht 2016

I Relevanz psychischer Störungen DAK-Gesundheitsbericht 2016

I Relevanz psychischer Störungen Ausfalltage im vergangenen Jahr 38,4 24,9 18,4 11,5 Irgendeine Major Dysthymie Keine Depressio Depression Depression Bundes-Gesundheitssurvey

I Relevanz psychischer Störungen Fazit 1: Psychische Störungen verursachen immense Kosten (ansteigend) Die Zunahme ist nicht über eine Prävalenzveränderung zu erklären Ein psychiatrischer «Fall» ist ein teurer «Fall» (lange Absenzen) Hinweise auf unverhältnismässige Bedeutung von «leichten Störungen» Die Validierung psychischen Leidens ist bedeutsam

II Ziele und Vorraussetzungen einer psychiatrischen Begutachtung

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Voraussetzungen einer psychiatrischen Begutachtung: Status des versicherungsmedizinischen Verfahrens Vollständigkeit der Unterlagen Klare Fragestellung Qualifikation des Gutachters/ involvierte Disziplinen

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung 9C_492/2014 Urteil vom 3. Juni 2015 II. sozialrechtliche Abteilung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung 4.1.3. Die im Regelfall beachtlichen Standardindikatoren können nach gemeinsamen Eigenschaften systematisiert werden: Kategorie "funktioneller Schweregrad" (E. 4.3) Komplex "Gesundheitsschädigung" (E. 4.3.1) Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde (E. 4.3.1.1) Behandlungs- und Eingliederungserfolg oder -resistenz (E. 4.3.1.2) Komorbiditäten (E. 4.3.1.3) Komplex "Persönlichkeit (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen; E.4.3.2) Komplex "Sozialer Kontext" (E. 4.3.3) Kategorie "Konsistenz" (Gesichtspunkte des Verhaltens; E. 4.4) gleichmässige Einschränkung des Aktivitätenniveaus in allen vergleichbaren Lebensbereichen (E. 4.4.1) behandlungs- und eingliederungsanamnestisch ausgewiesener Leidensdruck (E. 4.4.2).

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung Allgemeine Ziele: Herausarbeitung der krankheitswerten Funktionseinschränkungen Herleitungen von pragmatischen Lösungsansätzen/ Perspektiven Erfassung des Exploranden als Individuum (Komorbidität/ Ressourcen) Erfassung und Beurteilung der «Gesamtkatamnese» Stellungnahme zu Kausalitäten/ «Zumutbarkeit nach medizinischen Kriterien»

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung Technische Ziele: Exploratives Gespräch auf dem Hintergrund der bestmöglichen Datenlage «Abarbeiten» der sich für den Gutachter ergebenden Fragen Inszenierungsspielräume schaffen «Online Analyse» mit Anpassung des Explorationsstils/ Lernprozess Vermeidung einer frühen Kategorisierung

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung Schwerpunktziel 1: Diagnose als Eingangskriterium Diagnose A Diagnose B Diagnose/n erheben: Bei Komorbiditäten Hierarchie festlegen

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung Schwerpunktziel 2 Funktion/ Dysfunktion: Nutzung der Diagnosen (Operationalisierung) nur als Basis Erweiterung der Diagnostik um den dimensionalen Ansatz Konkrete Detektion von Funktionen und Dysfunktionen

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Diagnose Schweregrad Funktionen/ Dysfunktionen Konsistenz VM Beurteilung Schwerpunktziel 3: Konsistenz Alle Lebensbereiche betroffen Heraustreten der Beschwerden über den subjektiven Bericht hinaus Abgleich von angegebenen Fähigkeiten mit beobachtbaren Verhalten Leidensdruck und Therapiemotivation Bei Indikation Nutzung von Validierungsverfahren

II Ziele der Psychiatrischen Begutachtung Fazit 2: Bundesgerichtsurteil (6/2015) fokussiert auf die zentralen Fragen einer psychiatrischen, aber eigentlich auch somatischen Begutachtung Diagnosen und Komorbiditäten (Hierarchie), Abgrenzung Normalpsychologie Die Ergänzung um den «dimensionalen» Ansatz wird einverlangt Validierung der Beschwerdesymptomatik ist zentraler Teil einer Begutachtung Das Ziel ist die Gesamtintegration der Informationen

III Rahmen und Erschwernisse der psychiatrischen Begutachtung

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Juristisch-medizinischer Rahmen Mitarbeiterin, Mitarbeiter Patientin, Patient persönliche Arbeitsleistung Arzt, Ärztin beweist Krankheit mit Arztzeugnis Arztzeugnis Rechtsansprüche Kommunikation Reintegration Organisation Arbeitgeber Lohn - auch bei Krankheit Krankentaggeldversicherer Krankenlohn-Ersatz an Arbeitgeber Invalidenversicherung Unfallversicherung (Folie adaptiert nach Y. Bollag asim)

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Juristisch-medizinischer Rahmen Unsicherheit Kognitive Orientierungslosigkeit Defizit Affekt Angst * Grupe DW and Nitschke JB; Nat Rev. Neurosci (2013)

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Juristisch-medizinischer Rahmen Prozessdynamik: Finanzielle Anreize in eine Phase der Verunsicherung Eröffnung eines langen medizinisch-juristischen Verfahrens Problem der «Lagerbildung» Entwicklung rigider Haltungen Defizite im Bereich der medizinischen Versorgung im Umgang mit Exploranden

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Juristisch-medizinischer Rahmen Fazit 3: Der rechtliche Rahmen einer jeden Begutachtung muss «mitgedacht» werden Die Bedeutung der «Prozessdynamik» wird unterschätzt Der versicherungsmedizinische Prozessablauf ist vielfach an sich pathogen Die Beweislast liegt in der Regel bei dem Exploranden

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Evidenz in der Begutachtung: EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Evidenz in der Begutachtung: Stufe Ia: Wenigstens eine Metaanalyse auf der Basis methodisch hochwertiger randomisierter, kontrollierter Studien Stufe Ib: wenigstens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT Stufe IIa: wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung Stufe IIb: wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs, quasi-experimenteller Studie Stufe III: mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien Stufe IV: Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien Stufe V: Fallserie oder eine oder mehrere Expertenmeinungen Siehe Literaturstudie (Dittmann et al. 2009, erarbeitet für das BSV)

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Evidence based medicine: a movement in crisis? (BMJ 2014; Greenhalgh et al.) Evidence based guidelines often map poorly to complex multimorbidity Fazit der Autoren: Verstärkte Implementation von heuristischen Argumentationen unvermeidbar Berücksichtigung des Kontextes ( real life clinical encounter for different conditions and in different circumstances) Individualisierung der Evidenz notwendig

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Nutzung der Evidenz in der Begutachtung: Leitlinien vs. keine Leitlinien Begutachtung? Köhler et al. Int J Psychiatry Clin Pract. 2012 Jun;16(2):103-12

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Evidenz in der Begutachtung: Beschwerden Version Versicherungsverfahren Beschwerden Version Kein Versicherungsverfahren

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Evidenz in der Begutachtung: Fazit 4: Evidenz-basierte Medizin ist in der Begutachtung mit Bedacht anzuwenden Rückführung der Heuristik/ Expertenmeinung in die Begutachtungsleitlinien Der Kontext hat Einfluss auf medizinische Befunde Komplexität ist begrenzt durch EbM «einzufangen»

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität: Beschwerden: Schwindel Kopfschmerzen Rückenschmerzen Gedächtnisstörungen Sehstörungen Schlafstörungen/ Müdigkeit

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität:

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität: Definition Objektivität (allgemein): Unabhängigkeit der Beurteilung eines Sachverhaltes vom Beobachter. Die Möglichkeit absoluter Neutralität als Bobachter wird verneint Ideal in der Philosophie und Wissenschaft.

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität: Objektivität? Explorand Gutachter

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität: 1. Symptom (z.b. Schmerz, Schwindel) Somatik 2. Symptom (z.b. Schmerz, Schwindel) Psychiatrie Somatischer Befund (wird von Rechtsanwendern hoch eingeschätzt) «Hohe Objektivität» Psychiatrischer Befund (wird von Rechtsanwendern niedriger eingeschätzt) «Niedrige Objektivität» Somatisch bedingte Leistungsminderung (Gute Akzeptanz) Psychiatrisch bedingte Leistungsminderung (Mässige Akzeptanz) Subjektive Angabe Objektive Angabe Leistungsfähigkeit 33

III Rahmen und Erschwernisse der Psychiatrischen Begutachtung Linguistischer Zugang und Objektivität: Fazit 5: Der linguistische Zugang bleibt zentral Die Diagnosesysteme helfen bei der Validierung der geäusserten Beschwerden nicht Objektivität ist ein anzustrebendes Ideal Objektivität ist in der Regel in der Begutachtung begrenzt zu erreichen Auch objektive Befunde müssen hinterfragt werden, ob sie die beabsichtigte Messgrösse wiedergeben (Validität)

IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen

IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen Definition Arbeitsfähigkeit/ Arbeitsunfähigkeit: Arbeitsunfähigkeit liegt dann vor, wenn - die ausgeübte Tätigkeit nicht mehr (krankheitskausal) oder - nur unter der Gefahr einer Verschlimmerung einer Erkrankung ausgeführt werden kann oder - wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich alleine noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen Adaptiert Nach GBA 2004 36

IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen Definition ICF: Leistung ICF: Definiert als ein Konstrukt, das als Beurteilungsmerkmal angibt, was Personen in ihrer gegenwärtigen tatsächlichen Umwelt tun und deshalb den Gesichtspunkt des Einbezogen-seins einer Person in Lebensbereiche berücksichtigt (Performance). Leistungsfähigkeit ICF: Bezeichnet ein Konstrukt, das als Beurteilungsmerkmal das höchstmögliche Niveau der Funktionsfähigkeit angibt, das eine Person in einer Domäne der Aktivitäten-und Partizipationsliste zu einem gegebenen Zeitpunkt erreicht.(capacity) 37

IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen Determinanten der Leistungsfähigkeit: Transfer Psychische Funktionen/ Psychische Funktionsstörungen Integration zur Berufliche Leistungsfähigkeit / Zumutbare Willensanstrengung Krankheitsverarbeitung/ Motivation/ Haltung/ Persönlichkeit Aktivitäten und Fähigkeiten Berufliches Anforderungsprofil

IV Beantwortung der versicherungsmedizinischen Fragen Schlüsselpunkte einer psychiatrischen Begutachtung: Komplexe Integration von Subjektivem und Objektivem Ätiologien zuordnen: Subtraktion des nicht Krankheitswerten (komplex/ Abgrenzung Aggravation/ Grenzen der Beurteilbarkeit) Integration der Ressourcen: Modulation der Überwindbarkeit? 39

Fazit 6: Die versicherungsmedizinisch-psychiatrische Gesamtbeurteilung bedarf des Experten, der auch Subjektives integrieren kann Erkennbare Fähigkeiten sind die zentralen Bausteine einer Beurteilung Die Beurteilung der krankheitsbedingten Leistungseinschränkung benötigt Validierung über Konsistenzprüfung und Abgrenzung gegenüber Normalpsychologischem Motive und Haltungen berücksichtigen

Gesamtfazit: Die psychiatrische Begutachtung gewinnt an Bedeutung Die Exploration bleibt das zentrale Werkzeug Objektivität gilt es anzustreben, bleibt aber in vielen Bereichen ein Ideal Aussagen durch Zusatzuntersuchungen erhärten Ein heuristischer Ansatz versus Scheinobjektivität

V Problematik anhand von Fallbeispielen 42

V Problematik anhand Fallbeispiel A Explorand: Eckdaten: 28 jährig, Migrationshintergrund (aufgewachsen in der Schweiz); Unfallereignis 4-jährig; niedrige Schulbildung; Anlehre in einer Bäckerei; berufliche Abklärungen, 2010 Lehrabschluss (geschützt); kein Einstieg in reguläres Berufsleben. 2014 Heirat, 2016 Geburt eines gemeinsamen Kindes. Auftrag: Obergutachten, Haftpflicht-Verfahren, Auftrag durch ein Gericht. Der Haftpflicht-Versicherer geht davon aus, dass nach Ende eines Psychomotoriktrainings in 1998 weitere Folgen des Unfalles nicht mehr vorliegen würden.

V Problematik anhand Fallbeispiel A Explorand: Katamnese vor Unfallereignis 1992: Anamnestisch unauffällig. Unfall 1992: Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Katamnese nach Unfall: Autounfall mit Schädelhirntrauma, akut Cyanose und Hirnstammsymptomatik / Mittelhirnsymptomatik (Streckautomatismen; MRI 1992); im Verlauf Störung der kindlichen Entwicklung mit fokalneurologischen Defiziten, Verhaltens- Auffälligkeiten; Kleinklasse; Psychomotorikschulung; Aussenseiter; schwer motivierbar. 2000 Rückkehr in Kleinklasse. Nach Schulzeit 2006, erste Abklärungen; IV Anmeldung. Anhaltend schwere Probleme in der Planung von Aufgaben, verringerte Belastbarkeit. Fragestellung: Differenzierung zwischen unfallabhängigen und unfallunabhängigen Beschwerden/ Auffälligkeiten.

V Problematik anhand Fallbeispiel A Systematik der Begutachtung (gemäss Leitlinien 3.0) Diagnostik incl. Komorbidität, Persönlichkeit (Suche nach schlüssigem Bild) Schweregrad Konsistenz und Plausibilität Prognose Leistungsfähigkeit/Aktivität Arbeitsfähigkeit/Partizipation

V Problematik anhand Fallbeispiel B Explorand: Eckdaten: 42 jährig, aus der Türkei stammend, mittlere Schullaufbahn, 5 Jahre Tätigkeit in Verwaltung im Heimatland, 24-jährig in die Schweiz emigriert mit 2 Töchtern. In der Schweiz kontinuierlich Hilfstätigkeiten bis 2010, dann Unfall mit diversen Frakturen im Heimatland. Seither 3 Arbeitsversuche, keine erneute Berufstätigkeit. Auftrag: Gerichtsgutachten (Versicherungsgericht): «Ob und in welchem Masse liegt bei dem Exploranden aus psychiatrischer Sicht eine Einschränkung der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit vor? In vorherigen GA und Behandlungsberichten massive Diskrepanzen

V Problematik anhand Fallbeispiel B Explorand: Katamnese vor Unfallereignis 2010: «Normale Kindheit», diskrepante Angaben zu Konflikten mit den Eltern, unklare Beziehungsproblematik im Heimatland mit Mutter der 2 Töchter. Unklare Beziehungsproblematik zu Ehefrau in der Schweiz («will ich nicht drüber reden»). Schilderung eines aktiven Lebens mit guter Vernetzung. Unfall 2010: Im Heimatland, verschiedene Angaben über eingetretene Bewusstlosigkeit und Ablauf des Unfalles. Mehrere Frakturen. Katamnese nach Unfall: Schmerzproblematik im Vordergrund. Nach 2 Monaten Hinweise auf «Chronifizierung» und «angestrebte Rentenlösung» (Orthopäde) bei vollständig als remittiert betrachteter somatischer Situation. Innerhalb kurzer Zeit buntes Beschwerdebild mit Zittern, Paraesthesien, Lärmempfindlichkeit, depressive Symptome, Groteske Symptompräsentation. Diagnose einer mittelgradigen Depression und einer Schmerzstörung, Rückzug, Hilfe durch Familie 2011 Aufnahme psychiatrischer

V Problematik anhand Fallbeispiel B.. Behandlung unter Diagnose einer schweren depressiven Episode. Stationäre Behandlungen in 2013 und 2014.Abhängigkeitsproblematik (Benzodiazepine).. 3 Begutachtungen mit diskrepanten Ergebnissen (voll arbeitsfähig versus vollständig arbeitsunfähig) Neue Begutachtung 2016: Halluzinationen werden angegeben, kaum explorierbar, dysphorisch-aggressiv; bizzares Verhalten..

V Problematik anhand Fallbeispiel B Systematik der Begutachtung (gemäss Leitlinien 3.0) Diagnostik incl. Komorbidität, Persönlichkeit (Suche nach schlüssigem Bild) Schweregrad (warum so diskrepant?) Konsistenz und Plausibilität («minimal life?») Prognose Leistungsfähigkeit/Aktivität Arbeitsfähigkeit/Partizipation