SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen Manuskriptdienst. SWR2 Archivradiogespräch: Deutscher Herbst 35 Jahre danach

Transkript

1 SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen Manuskriptdienst SWR2 Archivradiogespräch: Deutscher Herbst 35 Jahre danach Autoren: Maximilian Schönherr und Gábor Paál Redaktion: Detlef Clas Regie: Autorenproduktion Sendung: Montag, 27. August 2012, 8.30 Uhr, SWR2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/ SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter oder als Podcast nachhören: Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. Ab sofort gibt es auch die Manuskripte von SWR2 Wissen als E-Books für mobile Endgeräte im so genannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iphone oder das ipad gibt es z.b. die kostenlose App "ibooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.b. Firefox gibt es auch so genannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 MANUSKRIPT Cut 1: Heinrich Böll Ich muss Ihnen ehrlich sagen, und ich sage das mit einem Wort: Uns langt s! Allmählich langt es uns ganz dicke hier. Es war ein besonderer Herbst, damals vor 35 Jahren. Es war der Herbst, der in die Geschichte der Bundesrepublik als der deutsche Herbst einging. Eine düstere Zeit, die die deutsche Gesellschaft spaltete. Eine Zeit geprägt vom Terror der RAF, von Morden und Entführungen und von großer Ratlosigkeit auf Seiten der Politik. Der Deutsche Herbst 35 Jahre danach, davon handelt unser heutiges SWR2 Archivradiogespräch. Und der, der in dem gerade gehörten Originalton sagt, es langt ganz dicke hier, ist der Schriftsteller Heinrich Böll. Maximilian Schönherr ist bei mir im Studio. Er hat die historischen Originaltöne herausgesucht, die wir in der nächsten halben Stunde hören werden. Maximilian, worüber regt sich Böll auf? Der Kölner Schriftsteller wurde von der sogenannten Springerpresse allen voran der BILD-Zeitung als Sympathisant dieser Roten Armee Fraktion, der RAF, diffamiert. Der Originalton stammt vom 3. Oktober Ein sehr interessantes Datum. Mitglieder der Roten Armee Fraktion hatten einen Monat zuvor den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer den Chef der Arbeitgeberschaft, also des Kapitals entführt. Zehn Tage später entführte die RAF ein Passagierflugzeug. Beide Aktionen sollten die Köpfe der Gruppe aus der U-Haft in Stuttgart-Stammheim freipressen. Zwei Wochen nach dem Interview mit Heinrich Böll war die Flugzeugentführung gescheitert, der Arbeitgeberpräsident hingerichtet, und in Stammheim gab es ein Blutbad, weil sich die Angeklagten selbst töteten. Das war das Ende des deutschen Herbstes. Und was hatte Heinrich Böll, der Schriftsteller, damit zu tun? Böll war ein linkskritischer Schriftsteller. Und viele hielten ihn in der damals politisch extrem aufgeladenen Stimmung im Land für einen Sympathisanten der RAF. Denn viele haben gesagt: Jeder, der etwas zu sagen hat, der im Licht der Öffentlichkeit steht und diesen Terror nicht eindeutig ablehnt das hat Böll natürlich auch gesagt sondern sich auch damit beschäftigt daraus hat man ihm einen Strick gedreht. Die Polizei bekam dann Hinweise, woraufhin sie Wohnungen seiner Familie durchsuchte und ihn selbst auch einschüchterte. Manche vermuteten sogar, er hielte den entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer versteckt. Der O-Ton ist übrigens auch ein Politikum im ARD-Rundfunk gewesen. Gert Heidenreich hat Böll damals per Telefon für den Bayerischen Rundfunk interviewt; der Intendant des BR verbot die Ausstrahlung. Böll war ihm zu kritisch. Das war für den damals als Rotfunk verschrienen WDR ein gefundenes Fressen: Der Journalist Rupert Neudeck, später Gründer der Friedensmission Cap Anamur, ging zu Böll, interviewte ihn, und das Flaggschiff der kritischen politischen Berichterstattung der ARD damals, die Sendung Kritisches Tagebuch, strahlte das Interview in fast voller Länge über 20 2

3 Minuten lang aus. Im Archivradio-Internet-Stream hören wir die ganze Sendung, hier nur ein kurzer Ausschnitt: Auffallend bei Rupert Neudeck ist die suggestive Fragetechnik, mit der er Böll die Antworten in den Mund legt. Das würde man heute keinem journalistischen Volontär mehr durchgehen lassen. Cut 2: Heinrich Böll im Gespräch mit Rupert Neudeck über die Diffamierung durch die Medien RN: Ganz persönlich gefragt: Als ich seinerzeit Ihre Katharina Blum gelesen habe, dachte ich ganz spontan, Sie übertreiben, vielleicht sogar maßlos. Ich bin jetzt ganz unsicher, ob mein damaliger Eindruck stimmt. Es ist wahrscheinlich eine Bestätigung für das, was Sie geschrieben haben, aber eine Bestätigung, die entbehrlich gewesen wäre? HB: Ich hätte gerne darauf verzichtet, dass ich das... Es ging ja um eine durch die Presse in die Enge getriebene Person. Mir wäre lieber gewesen, die Wirklichkeit, die sich nach der Publikation dieser Erzählung herausgebildet hat, hätte sich dieser Fiktion nicht genähert. Aber es sieht so aus, als nähere sie sich ihr. RN: Hat die Aktion der Polizei bei Ihrem Sohn diese Fiktion eingeholt? Würden Sie das sagen? HB: Nein. Das glaube ich nicht. Das war eine ganz eindeutige Denunziation von der ich überzeugt bin, dass sie auf meine Familie gerichtet war. Nein. Es ist auch nichts dieser Art, wie es im Film dargestellt worden ist, bei meinem Sohn passiert. Nur, inzwischen hat man auch eine Wohnung von mir durchsucht, in der ich seit acht Jahren nicht mehr lebe. Es kann also jemand, wie ich schon sagte, der 20 Pfennige in der Tasche hat, auch denjenigen in Unruhe versetzen, der zufällig in einer Wohnung wohnt, in der ich mal gewohnt habe, nicht? Ich finde das wirklich nicht mehr zu rechtfertigen. Und in dem Fall war der Hinweis ganz eindeutig mit meiner Person verbunden. Die Beamten sind gekommen und haben gesagt: Hier hat doch der Böll gewohnt. Lass mal gucken. Da sollte doch möglicherweise gelegentlich auch die Polizei oder die Beamten, die damit befasst sind, der Öffentlichkeit gegenüber klarmachen, dass sie zwar jedem Hinweis nachgehen müssen, dass aber da gar kein Verdacht besteht. Verstehen Sie? Die Teuflischkeit dieser Aktion oder der Denunziation in ihrer Wirkung ist ja das Berüchtigte. Es bleibt etwas hängen. Und das bleibt hängen. Das ist nicht aus der Welt zu schaffen, denn das sind irrationale Vorgänge. Wir denken immer zu rational darüber. RN: Aus Frankfurt wird heute berichtet, dass gegen einen Lehrer, der RAF-Material seinen Schülern zum Studium übergeben und mit denen darüber gearbeitet hat, Anzeige erstattet worden ist. Sind diese und ähnliche Vorkommnisse, wenn sie sich jetzt häufen und wiederholen, nicht eigentlich das Ende der einzig vernünftigen Auseinandersetzung mit diesem fürchterlichen Phänomen Terrorismus? Nämlich der geistigen Auseinandersetzung? HB: Es wird ja dauernd verlangt, dass man sich geistig mit dem Terrorismus auseinandersetzt. Das kann ja nicht darin bestehen, dass man nur dauernd seinen Abscheu äußert gegenüber dem Terrorismus. Wenn das aufhört, dass man sich 3

4 überhaupt nicht mehr darüber informieren darf, was die je geäußert haben, wie sie dazu gekommen sind... Ich will ihnen etwas sagen, Herr Neudeck. Wissen Sie, was ich im Moment lese? Bambule von Ulrike Marie Meinhof. 1970, glaube ich, publiziert. Das ist ein Stück, ein Hörspiel und später ein Film gewesen über einen, sagen wir Aufruhr in einem Fürsorgeheim. Das ist eine sehr aufschlussreiche Lektüre nicht über die spätere Entwicklung von Frau Meinhof, sondern über ihre Beschäftigung mit sozialen Themen. Und ich halte das für wichtig, dass alles zu lesen. Das werde ich jetzt systematisch tun. Das war der damals mutmaßliche RAF-Sympathisant Heinrich Böll im Gespräch mit Rupert Neudeck. In diesem SWR2 Archivradiogespräch zum deutschen Herbst 35 Jahre danach. Zum 30-jährigen Jahrestag des Deutschen Herbsts, vor fünf Jahren, war der deutsche Herbst das Medienthema, auch weil Originaltöne u.a. von Baader, Meinhof und Ensslin aufgetaucht waren. Das waren die Mitschnitte vom Stammheim-Prozess. Im SWR2 Archivradio und in unserem Radioprogramm waren sie damals zu hören. Zuspiele Stammheim-Tapes (Ulrike Meinhof) 1977 (Frage nach Sympathisanten) Und der klammheimlichen Freude über z.b. die Ermordung Bubacks. Siegfried Bubacks Sohn kämpft heute noch dagegen an. Auch Heinrich Böll unterstellte man dieses stille Sich-ins-Fäustchen-Lachen, völlig zu Unrecht. Ganz anders war es dagegen bei Jean Paul Sartre. Der besuchte bereits drei Jahre zuvor RAF-Chef Andreas Baader in seiner Zelle in Stammheim. Das nahmen viele in der Bundesrepublik mit Befremden wahr, aber erstens als Franzose und zweitens als bedeutendster Philosoph seiner Zeit war Sartre über jegliche Kritik erhaben. Cut 3: Jean-Paul Sartre über den Grund des Besuchs bei Baader Da muss man schon genau zuhören: eine allgemeine Sympathie, aber keine spezielle. Das ganze Niveau der Diskurse damals scheint mir, wenn ich diese Originaltöne höre, höher als heute. Spielen wir diesen im Original über 7 Minuten langen Cut noch etwas weiter, dann hören wir den Journalisten Arno Münster auf einem hohen, sagen wir mal durchaus marxistisch gebildeten Niveau weiterfragen: Cut 4: Jean-Paul Sartre im Gespräch mit Arno Münster über den Hintergrund der Marxistischen Theorie Das war drei Jahre vor dem deutschen Herbst, 1974, Panorama. Ein Jahr später, 1975 besetzten sechs RAF-Mitglieder ( Kommando Holger Meins ) die Bundesdeutsche Botschaft in Stockholm, um die Freilassung gefangener Genossen zu erpressen. Die Bundesregierung unter Führung Helmut Schmidts (SPD) ist darauf nicht eingegangen 4

5 Folge: Zwei Botschaftsangehörige Militärattaché Andreas von Mirbach sowie Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart wurden ermordet. Und vor diesem Hintergrund spielt der nächste Ton er stammt von Hans-Dietrich Genscher. Fünf Tage später hielt Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) eine Rede bei der Trauerfeier im Auswärtigen Amt im Bonn, die hier im Originalton zu hören ist. Er rechtfertigt unter anderem die angeblich vom gesamten Kabinett (und auch ihm) getragene harte Haltung gegenüber den Entführern. Von Mirbach und Hillegaart waren seine Angestellten. Cut 4a: Genscher Zurück zu 1977 was hören wir als nächstes? Eine Großdemonstration sogenannter Terrorismus-Gegner in Köln im Oktober So eine Stimmung, so ein haarsträubender Vergleich, den hier der Landtagspräsident von NRW bringt, käme weder im Fernsehen noch in einem Buch so bleischwer herüber. Cut 5: Landtagspräsident von NRW (Großkundgebung gegen Terrorismus in Köln) Wir wollen die Diktatur des Terrorismus nicht... Der längste neue Cut im Archivradio ist ein Sprechfunkverkehr am Flughafen von Mogadishu. Englisch, schwer verständlich. Warum haben Sie den ausgewählt, Maximilian Schönherr? Er ist ein Dreh- und Angelpunkt des Deutschen Herbst. Wir haben den 17. Oktober 1977, Nachmittag. Mogadishu, Somalia. Die Lufthansamaschine Landshut ist gelandet. Der Pilot, Jürgen Schumann, war schon am Tag zuvor in Aden im Jemen ermordet worden. Von dort flog der Kopilot die Maschine nach Mogadischu. Hintergrund: Die Entführer wollten die RAF-Gefangenen in Stammheim freipressen, übergossen die Passagiere des Flugzeugs mit Benzin. Im Archivradio präsentieren wir das zweite Band des Funksprechverkehrs zwischen Mahmud Shadid, dem Kopf der Entführer, und dem deutschen Verhandler im Tower, vermutlich war das der Psychologe Wolfgang Salewski, den wir in diesem Ausschnitt hören. Er versucht, die Entführer hinzuhalten, es gelingt ihm auch, und dann geht der Tag zu Ende, und kurz nach Mitternacht erstürmen GSG 9-Einheiten die Maschine und retten das Leben der Geiseln. In derselben Nacht bringen sich dann Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen in Stammheim um. In diesem harmlos wirkenden Originalton sagt der Entführer, wenn ihr euch dem Flugzeug nur annähert, zünde ich ein Streichholz an, und alles explodiert in bits and pieces, kleine Stückchen. Cut 6: Mahmud Shadid (Mogadishu Funkverkehr zwischen Entführern und Tower über Nahrungsmittel für die Passagiere) 5

6 Was man ja, ohne Englisch zu können, ganz gut mitkriegt, ist, wie die Entführer zunehmend nervös werden und sehr viel reden, während der somalische Mann im Tower nur noch Roger sagt, also: verstanden. Er hört gar nicht mehr zu, er hält nur noch hin. Wie es weiterging, ist bekannt, die Maschine wurde von der GSG9 gestürmt, alle Entführer wurden getötet. Noch in derselben Nacht begingen drei der vier in Stammheim einsitzenden RAF-Mitglieder Selbstmord, praktisch gleichzeitig wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF ermordet und seine Leiche einen Tag später, am 19. Oktober, im Kofferraum eines Fahrzeugs gefunden. Über diese ganze Geschichte ist sehr viel geschrieben worden was bieten da die Originaltöne im Archivradio an neuen Einsichten? Wir haben das Privileg, die Originaltöne unkommentiert in ihrer Originallänge stehen zu lassen, und wenn man da an beliebigen Stellen reinhört der Stream ist fast einen Tag lang und wiederholt sich anschließend immer wieder wenn man da reinhört, schnürt es einem langsam den Hals zu. Öffnet aber den Kopf: Man sieht glasklar, dass die Diktion, die Stimmung, die politische Großwetterlage, der Zeitgeist heute so anders sind, als wäre das eine andere Bundesrepublik gewesen damals mit anderen Menschen. Ich glaube, über Gudrun Ensslin, die im Stammheim-Prozess über die Deutsche Kommunistische Partei, die Volksrepublik China und die Sowjetunion herzieht, kann man heute nicht lachen man kann sie nicht verstehen. All das, worüber sie spricht, ist längst untergegangen, und wie sie da spricht, am 65. Verhandlungstag des Prozesses, zwei Jahre vor ihrem Tod im selben Haus, in Stuttgart-Stammheim na, hören Sie selbst. Cut 7: Gudrun Ensslin über die Politik der RAF Der Auftritt Gudrun Ensslins vom 1. Juni 1975 stammt aus den Stammheim- Tonbändern des Landesarchivs Baden-Württemberg und ist, wie alles, was Sie in dieser Sendung kurz vorgestellt bekamen, in voller Länge im SWR2 Archivradio zu hören. Dort werden die Tondokumente in einer Audioschleife rund um die Uhr gesendet. Die Internetadresse ist: Der Deutsche Herbst 35 Jahre danach. Das war das SWR2 Archivradiogespräch mit Maximilian Schönherr und Gabor Paal * * * * * 6