Beratung für eine subjekt- und kompetenzorientierte Berufswahl. Dr. Rüdiger Preißer
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- Lilli Esser
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1 Beratung für eine subjekt- und kompetenzorientierte Berufswahl Dr. Rüdiger Preißer
2 Gliederung - Traditionelles Paradigma der Berufswahl - Traditionelle Konzeption von Berufsberatung - Einwände - Neues Paradigma der Berufswahl - Neues Paradigma der Bildungs- / Berufsberatung - Kompetenz- und subjektorientierte Berufsberatung - Beispiel: formative und reflexive Kompetenzerfassung 2
3 Lost in transition Können sie mir bitte sagen, wo ich hin will? (Karl Valentin) Das könnten auch viele Ratsuchende in der Bildungs- und Berufsberatung gefragt haben, die nicht wissen, was sie tun sollen, um ihrer Berufssuche eine Richtung zu geben. 3
4 Traditioneller Ansatz: Phasen der Berufsorientierung und Berufswahl 4
5 Traditionelle Konzeption von Berufswahl Berufswahl: rationale Entscheidung - informierte Individuen maximieren ihre persönlichen Vorteile (homo oeconomicus) Ausbildung von Berufswünschen: Folge der Informiertheit über eigene Fähigkeiten und über Berufsprofile (Handlungsalternativen, -ziele, -konsequenzen). Im Zentrum: Gewinnung und Verarbeitung von Informationen / Wissen (erkunden, identifizieren, sammeln, suchen) Wissen über Arbeits-, Berufswelt und Berufswahlspektrum erwerben, anwenden Betriebs- und berufspraktische Erfahrungen erwerben und anwenden Bewerbungswissen und -können erwerben und zielgerichtet anwenden. Matching-Ansatz (neoklassische Gleichgewichtstheorie): durch Aggregation individueller Entscheidungen kommen Angebots- und Nachfrage-Aggregate von Arbeitskraft auf dem (Arbeits-)Markt zum Ausgleich (Passung) 5
6 Traditionelle Konzeption von Berufsberatung 1. Funktion: Bereitstellung / Vermittlung von (berufskundlichen, arbeitsmarktbezogenen) Informationen über berufliche Handlungsalternativen, -ziele, -konsequenzen 2. Funktion: Ratsuchende dabei unterstützen (guidance) herausfinden, zu welchen vorhandenen Anforderungsprofilen von Berufen die eigenen Interessens- und Fähigkeitsausprägungen passen. 3. Funktion: Anforderungen an Individuen, sich so zu verhalten, wie die ökonomischen Modellannahmen dies vorsehen Prozess der Annäherung und Abstimmung zwischen Interessen, Wünschen, Wissen und Können des Individuums und den Möglichkeiten, Bedarfen und Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt = Vocational Maturity (Super 1955) 6
7 Traditioneller Ansatz: Einwände Beruf - Erosion der Struktur und des Konzepts: Entwicklungsdynamik der Arbeitswelt, Veränderung der normativen Leitbilder Diskontinuität in den Erwerbsbiographien aufgrund Notwendigkeit des Berufswechsels Nur 30% der Beschäftigten arbeiten noch in ihrem Ausbildungsberuf. Entscheidungsmodell: betrifft allenfalls eine Minderheit von Berufswahlen Berufswahl ist keine einmalige Situation, sondern lebenslanger Prozess Umfassende Informationen über die Berufswelt überfordern die meisten Menschen Menschenbild: Passung von Persönlichkeits- und beruflichen Anforderungsprofilen reduziert Menschen Teile eines Puzzles: Berufswahl als Puzzle-Spiel, Entsubjektivierung Vernachlässigt Entstehung von Berufswünschen (Präferenzen) sowie motivationale, wertbezogene Teile der Persönlichkeit Unterschätzt Aushandlungsprozesse bei Berufswahl und Besetzung einer Stelle 7 7
8 Constraints: Neues Paradigma der Berufswahl: Wichtigkeit von Einflussfaktoren Angebotslage des Arbeitsmarktsmarktes ökonomisches Kapital, soziales Kapital (Beziehungen), kulturelles Kapital (Qualifikation) (Bourdieu 1983) Framing: kulturelle Bindungen, soziales Umfeld (Kollegen, Freunde) Lebensgewohnheiten (habits) Lebensplanung: Weil -Orientierung oder Um zu -Orientierung Individuelle Dispositionen (Leistungsmotivation, Anspruchsniveau, Risikobereitschaft, Informationsverarbeitungskapazität, Angst) 8 8
9 Neues Paradigma der Berufswahl: Konzeption des Entscheidungsprozesses Nicht-Entscheidungen : happenstance muddling through Anpassung - cooling the mark out (Fabel: Saure Trauben) (Goffman 1952; Elster 1987) Beispiel: Stereotype Berufswahlentscheidungen Planned-Happenstance-Modell (Krumboltz & Levin 2010) Berufswahl, Laufbahnentwicklung als Ergebnis unvorhergesehener und unvorhersehbarer Geschehnisse Konzept einer positiven Nichtsicherheit (Gellatt 1989) Uncertainty inspires our curiosity Berufswahl emergiert als ungeplantes, aber systematisches Resultat ungeplanter Aktivitäten und Erfahrungen, die sich zu einer Entscheidung verdichten 9
10 COUNSELLING anstatt GUIDANCE! Neues Paradigma der Bildungs- / Berufsberatung Unterstützung von Flexibilität und Zuversicht angesichts der Vielfalt ungeplanter Ereignisse des Lebens Förderung von Offenheit und Neugier auf Unbekanntes und auf neue Ereignisse und Erfahrungen Ermutigung einer aktiven Lebensführung und aufgeschlossenen, bejahenden und entdeckenden Haltung (exploratory learning) als bester Voraussetzung für Eintreten chancenreicher Situationen und Ereignisse Stärkung des Beharrungsvermögens (Resilienz!) gegenüber Hindernissen Menschenbild: die besten Seiten der Menschen (Neugier, Flexibilität, Aufgeschlossenheit, Optimismus, Ausdauer, Risikobereitschaft und Gestaltungsbereitschaft) unterstützen! Menschenbild: aktiv handelnde Subjekte im Rahmen des eigenen Lebensentwurfs 10
11 Kompetenz- und subjektorientierte Berufsberatung Stärkung des Subjektbezugs Bildungs-, Berufsentscheidungen als Bestandteil der Identitätsentwicklung: Wie will ich leben? eigenen Lebensweg als gestaltungsbedürftigen und zugleich gestaltbaren Prozess auffassen Gegenstand des Lernens: Ich selber! Stärkung der berufsbiographischen Selbststeuerungskompetenz (Preißer 2002; 2003) lernen, mit Brüchen im Lebenslauf umzugehen, Zeiten von Arbeitslosigkeit überstehen, die gesamte Erwerbsbiographie entwickeln, gestalten und steuern Preißer 11
12 Beispiel: Career Management Skills Österreichisches Bildungsministerium Ziel: Vermittlung und Erwerb wichtiger Grundkompetenzen als Voraussetzung für selbstverantwortliche Bildungs- und Berufsentscheidungen Fähigkeit zur Selbstreflexion (insb. hinsichtlich Fähigkeiten, Interessen, Leistungsfähigkeit, Wünschen) Entscheidungsfähigkeit (inklusive Fähigkeit zur Gestaltung von Entscheidungsprozessen und Umgang mit mehrdimensionalen, teils auch widersprüchlichen Entscheidungsgrundlagen) Informationsrecherche und bewertung Fähigkeit, eigene Ziele definieren und verfolgen zu können 12
13 Beispiel: Blueprint framework for career management skills USA, Kanada, Australien; England und Schottland ( Career management skills framework ) Ziel: Erwerb von Grundkompetenzen für die Laufbahnentwicklung lerntheoretische Überlegungen: Lernbereiche (berufsbezogene Kompetenzen), ein Lernkonzept und Lernstufen Kompetenzmodelle (Struktur: Kompetenz-Bereiche und -Dimensionen; Kompetenz-Niveau, Entwicklungsschritte von Kompetenz;) 13 13
14 Berufsorientierung als Lernprozess the task of careers work: fostering learning and personal development (Krumboltz 2009) BO = Anwendungsfall einer umfassenden Kompetenzentwicklung: Selbstregulationsfähigkeit des Wissenserwerbs in der Lage zu sein, Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen zu entwickeln, die zukünftiges Lernen fördern und erleichtern und die ( ) auf andere Lernsituationen übertragen werden können (Baumert u. a Rahmenmodell des dynamischen Wissenserwerbs: Regulation - des Selbst (Wahl von Zielen und Ressourcen) - der Lernprozesse (Anwendung metakognitiven Wissens und Fertigkeiten) - der Informationsverarbeitung BO als komplexe Kompetenz konzipieren und didaktisieren konstruktivistische Lerntheorie: Shift from Teaching to Learning ) Konzept des Konzept des entdeckenden Lernens (John Dewey) Erfahrungslernen : Herausforderung / Problem, Plan, Erfahrung / Erprobung, Beobachtung / Reflexion 14
15 Beispiel: formative und reflexive Kompetenzerfassung Direktes Ziel: Kompetenzen (Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Werte, Eigenschaften, Interessen, Einstellungen, Motive, Präferenzen) in eigener Sprache benennen zu können Indirektes Ziel: Verbesserung der Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung Vorgehen: Biographische Selbstexploration: alltagssprachliches Erzählen (Narration); Notwendigkeit eines Gegenüber als signifikanter Anderer Kommunikative Validierung: Kleingruppenarbeit, Trainer/in / Berater/in und Ratsuchenden (Glaubhaftigkeit, Nachvollziehbarkeit, Genauigkeit, räumliche + zeitliche Rahmung) Analytische Verdichtung und Reduktion: erst jetzt Listen von Fähigkeiten, Interessen usw. Biographische Integration: Szenariotechnik, konfiguratives Arbeiten 15
16 Beispiel: formatives Kompetenzen belegen Ziel: eigene Kompetenzen gegenüber anderen klar benennen können Vorgehen: Erfahrungsmenge: Bis zu welchem Zeitpunkt lässt sich die Kompetenz zurückverfolgen? Wie häufig wurde sie angewandt? Erfahrungsvielfalt: In welchen unterschiedlichen Situationen / Zusammenhängen wurde die Kompetenz eingesetzt? Komplexität: Wie schwierig waren die Aufgaben, anhand derer sich diese Kompetenz erweisen musste? Selbstreflexivität: In welchen Situationen hat die Kompetenz dabei geholfen zu einem Erfolg beizutragen? Welche anderen Kompetenzen werden noch aktiviert, wenn sie zum Einsatz kam? 16
17 Literatur Baumert, Jürgen u. a. (o.j.): Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen als fächerübergreifende Kompetenz. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R. (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen. S Dewey, John & Dewey, Evelyn (1962, Orig. 1915): Schools of Tomorrow. New York Elster, Jon (1987): Subversion der Rationalität. Frankfurt Gelatt, H.B. (1989) Positive Uncertainty: A New Decision-Making Framework for Counselling. In: Journal of Counselling Psychology, Vol. 36, No. 2, pp Goffman, Erwin (1962): On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaption to Failure [1952]. In: Rose, A. (Hrsg.): Human Behavior and Social Processes. Boston, pp Krumboltz, John D. (2009) The Happenstance Learning Theory. In: Journal of Career Assessment May 2009 vol. 17 no. 2 pp Krumboltz, John D., & Levin, A. S., (2010): Luck is no accident: Making the most of happenstance in your life and career. (2nd ed.). Atascadero, CA. Preißer, R. (2002): Berufsbiographische Steuerungskompetenzen als Voraussetzung für berufliche Neuorientierung. In: Preißer, R. & Wirkner, B. (Hrsg): Berufliche Neuorientierung. Innovative Konzepte für Weiterbildner. Bielefeld. S Preißer, Rüdiger (2003): Berufsbiographische Selbstorganisation, biographisches Lernen, Selbstsozialisation - Herausforderung für die Erwachsenenbildung? In: REPORT Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung (26) Heft 3, S Super, Donald E. (1955): Dimensions and measurement of vocational maturity. In: Teachers College Record, 57, pp
18 Danke für die Aufmerksamkeit Dr. Rüdiger Preißer
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