SWR2 Musikstunde. Die Frühvollendeten (1) Hugo Staehle SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE. Von Thomas Rübenacker

Transkript

1 SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Die Frühvollendeten (1) Hugo Staehle Von Thomas Rübenacker Sendung: Montag, 03. November Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/ oder swr2.de

2 2 MUSIKSTUNDE mit Thomas Rübenacker Montag, 3. November 2014 mit Thomas Rübenacker. Heute: Die Frühvollendeten, Teil 1. MUSIK: INDIKATIV Vollendet ist eigentlich niemand, jeder von uns hat das Potenzial, sich auch im hohen Alter noch weiterzuentwickeln. Im Grunde gibt es nur jene Zwangsvollendung, die der Tod mit sich bringt: Damit erlischt natürlich auch jede Entwicklung. Insofern kann man die fünf Komponisten, die ich Ihnen diese Woche vorstellen möchte, als Frühvollendete bezeichnen, denn keiner von Ihnen wurde älter als 25. Dabei wären sie vermutlich vergessen oder noch vergessener -, wenn ihr kurzes Schaffen nicht unmissverständlich ein Versprechen abgegeben hätte, das teilweise auch schon eingelöst wurde. Hugo Staehle, Juan Crisóstomo de Arriaga, Ludwig Schuncke, Hans Rott und Lili Boulanger komponierten Opern, Symphonien, Oratorien und oft geniale Kammermusik, sie waren allesamt durchdrungen von Musik, die allerdings den frühen Tod nicht abwenden konnte die ergo offenbar eher verzehrte als dass sie Linderung spendete. Ich möchte diese Woche jeden Tag eine dieser faszinierenden Randfiguren vorstellen, auch in ihrem Umfeld, weil es naturgemäß wenige Werke von ihnen gibt und weil das Wenige, da nicht Hit -verdächtig, auch noch eher spärlich dokumentiert ist. Beginnen wir mit Hugo Staehle, der zwar chronologisch gesehen nicht der Älteste der Fünf ist Arriaga wurde 20 Jahre vor ihm geboren -, aber er war eine singuläre Figur im deutschen Biedermeier und hat, bevor er knapp 22-jährig verstarb, nicht nur zahlreiche Lieder, Klavier- und Kammermusik verfasst, sondern auch eine Symphonie und eine Oper. Hier eines seiner Lieder: Gebet während der Schlacht, Text von Theodor Körner. MUSIK: STAEHLE, GEBET WÄHREND DER SCHLACHT, TRACK 17 (5:23) 1) STAEHLE, Gebet während der Schlacht; Eleonora Cantucci (dram. Sopran), Constantino Mastroprimiano (Fortepiano); Brillant (LC 09421) Hugo Staehle, das vom Getümmel aufgewühlte Gebet während der Schlacht für dramatische Sopranstimme und Klavier, der Text stammt von Theodor Körner. In unserer Aufnahme sang Eleonora Contucci, auf dem Fortepiano von Conrad Graf, Wien 1826, begleitete sie Constantino Mastroprimiano. Johann Hugo Christoph Ludwig Herkules Staehle wurde am 21. Juni 1826 in Fulda geboren und starb am 29. März 1848 in Kassel an einer

3 3 Hirnhautentzündung nur knapp 22-jährig. Seinem fünften Vornamen Herkules machte er zeitlebens nicht viel Ehre; er war ein rachitisches Bürschchen, das in der Schule gehänselt wurde und von seinem Vater, einem kurhessischen Armeeoffizier, in erster Linie deshalb aufs Konservatorium geschickt wurde, weil dort kränkliche Figuren weniger Aufsehen erregten. Eine Militärkarriere schloss der Vater in weiser Voraussicht aus. Und tatsächlich blühte der junge Hugo kurzfristig auf, zur Musik hatte er nicht nur das Talent, sondern auch die Neigung; er lernte Klavier und Violine bei Wilhelm Deichert, einem Schüler von Louis Spohr. Ab 1839 übernahm Moritz Hauptmann, ein begnadeter Musikpädagoge, jedenfalls bis 1842, als Hauptmann nach Leipzig umzog, weil man ihm dort das Thomaskantorat nahegelegt hatte ein Angebot, das der glühende Bachverehrer natürlich nicht ausschlagen konnte und für das er alles liegen und stehen ließ: auch seinen begabtesten Schüler, Hugo Staehle. Aber Hauptmann reichte ihn weiter an einen noch Berühmteren: an Louis Spohr. Bei diesem logierte der dann auch eine Zeitlang. Eine Handvoll Briefe an Freunde berichten vom Leben im Haus des Violinvirtuosen und Komponisten Spohr. M. Spohr lehrt mir, auf der Violine zu singen, steht da beispielsweise zu lesen. In Paris, so hört man, habe ein italiänischer Geiger recht großen Erfolg durch allerlei Kunststücke auf seinem Instrument, ein gewisser Paganino M. Spohr aber sagt, er lehne das ab, das Violinspiel sey dem menschlichen Gesange verwandt und müsse den zuerst imitieren Deshalb auch klinget es, wenn M. Spohr die Violine ergreift, als ob die Engel im Himmel sängen: Das ist fürwahr Musik, dem muss ich nacheifern! Tatsächlich waren Paganini und Spohr Antipoden des Violinspiels im 19. Jahrhundert, der eine voll zirzensischer Lust, der andere mit dem schönen Ton, etwa so wie später dann, im 20. Jahrhundert, Heifetz und David Oistrach. Nicht umsonst auch trägt Louis Spohrs berühmtestes Werk, das Violinkonzert Nr. 8 a-moll op. 47, den Namenszusatz in Form einer Gesangsszene. Darin treten klassische Konzertformen zurück zugunsten einer liedhaft-schweifenden Sanglichkeit, und die Virtuosität, die natürlich auch vorkommt, wird eingebettet in den schönen Ton, in das Engelskonzert, von dem Hugo Staehle im Brief berichtet. Hilary Hahn und das Schwedische Radio-Sinfonieorchester spielen, der Dirigent ist Eiji Oue. MUSIK: SPOHR, VIOLINKONZERT NR. 8, TRACK 5 (7:44) 2) LOUIS SPOHR, Violinkonzert Nr. 8 a-moll in Form einer Gesangsszene ; Hilary Hahn (Violine), Schwedisches Radio-Sinfonieorchester, Eiji Oue; DG (LC 0173)

4 4 Das Adagio von Louis Spohrs 8. Violinkonzert a-moll in Form einer Gesangsszene spielte Hilary Hahn zusammen mit dem Schwedischen Radio- Sinfonieorchester, der Dirigent war Eiji Oue. Im Jahr 1843 gründeten Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann, Ferdinand David, Christian August Pohlenz und Hugo Staehles alter Lehrer Moritz Hauptmann in Leipzig das Konservatorium der Musik, das erste seiner Art in Deutschland. Das Protektorat hatte der König von Sachsen übernommen, und jeder der Gründungsväter durfte zum inauguralen Festakt ein Kontingent von Gästen einladen. Hauptmann erinnerte sich an seinen einst begabtesten Schüler: Er bat den inzwischen 17-jährigen Hugo Staehle dazu, der auch alles daransetzte, die Reisekosten nach Leipzig zusammenzukratzen, hauptsächlich auf Pump. Dem Jüngling öffnete sich eine ganz neue Welt: Was suche ich noch im Hessischen? fragte er in einem Brief an einen Freund. Hier in Leipzig, wo die Edelsten verkehren, will auch ich zuhause sein, selbst wenn ich Geistesgrößen wie Mendelssohn, Schumann oder Ferdinand David vielleicht nie das Wasser werde reichen können Hier ist Musik in der Luft, im Wasser der Pleiße oder im Pflaster von Wahren, einfach allerorten Man atmet sie ein! Innerhalb einer Woche hörte Staehle jedes einzelne der Gründungskonzerte, aber den meisten Eindruck machte ihm ein Kammerkonzert, bei dem der Geiger Ferdinand David, Mendelssohn selbst am Klavier und der Solocellist des Gewandhausorchesters Klaviertrios spielten das sogenannte Geistertrio von Beethoven und dann vor allem Mendelssohns Opus 49, das vier Jahre zuvor komponierte d-moll-werk, dessen Kopfsatz von mitunter geradezu beethovenischer Unwirschheit ist. Daß ein solchermaßen gering besetztes Werk gleichermaßen Fülle des Wohllauts und heftigste Verzweiflung ausdrücken kann, hätte ich mir nicht träumen lassen Es beginnt mit der wundervollsten Kantilene des Violoncellos, bevor es hineinwächst in einen Paroxysmus der Wut und Auflehnung Ein Werk, wie ich es selber einmal verfertigen möchte! MUSIK: MENDELSSOHN, TRIO NR. 1, TRACK 1 (8:56) 3) MENDELSSOHN, Klaviertrio Nr. 1 d-moll; Wanderer Trio; Sony (LC 6868) Zwischen verführerischer Kantilene und ohnmächtiger Wut: Das war der Kopfsatz, ein Molto allegro ed agitato, des 1. Klaviertrios d-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy, gespielt vom Wanderer Trio. Nun, es soll noch vier Jahre dauern, bis Hugo Staehle ein ähnliches Werk selber verfertigt, das Trio allerdings aufgestockt zum Klavierquartett A-dur, seinem Opus 1. Das war zwar beileibe nicht die erste Komposition von Hugo

5 5 Staehle, aber die erste, die er voll gelten ließ und die ein Jahr nach seinem Tod auch verlegt wurde. Es ist ein wunderbares Stück Musik, voll romantisch schweifender Melodiekraft, leidenschaftlicher Rhythmik und souveräner Verflechtung der einzelnen Instrumente: Fülle des Wohllauts allerorten, nur die Verzweiflung ist ausgespart zugunsten einer nervös getriebenen Haltung von Optimismus, als würde der Künstler noch eine halbe Ewigkeit leben und nicht ein Jahr später der Enzephalitis, also der Hirnhautentzündung, zum Opfer fallen. Übrigens hat Staehle die Uraufführung noch erleben dürfen: Sein alter Lehrer und väterlicher Freund Louis Spohr sorgte dafür, wie auch bei der heroisch-historischen Oper in drei Akten, Arria ; das Klavierquartett war der Mittelpunkt einer der berühmten Kasseler Matineen Spohrs, den Rest des Programms bestritt Mozart! Über die Oper hatte der Ältere dem einstigen Schüler bescheinigt, sie sei eine lebensvolle, gute Musik ( ), die neu in der Erfindung, reich an ansprechenden Melodien, brillant instrumentiert und dankbar für die Sänger wäre. Ersetzt man Sänger durch Instrumentalisten, dann trifft das auch auf das Klavierquartett A-dur zu. Leider ist die Oper verschollen aber das Quartett ist noch glorios da. MUSIK: STAEHLE, KLAVIERQUARTETT A-DUR, TRACK 1 (11:50) 4) STAEHLE, Klavierquartett A-dur op. 1; Mozart-Klavierquartett; MD+G 3233 (LC 6768) Hugo Staehle, das als Opus 1 herausgekommene Klavierquartett A-dur, das Kopf-Allegro. Klaus Schilde, Karsten Heymann, Jean Rieber und Ulrich Bode spielten. Für das Jahr 1848 hatte Hugo Staehle noch große Pläne. Auf Einladung Moritz Hauptmanns studierte er wieder bei seinem alten Lehrer nur jetzt in Leipzig. Ein Violinkonzert wollte er schreiben und es Ferdinand David widmen, eine Frühlingssymphonie für Mendelssohn und einen Liederkranz für eine junge Sängerin, die den 21-Jährigen mit Charme, Schönheit und einer glockenhellen Stimme bezirzt hatte. Nichts davon wurde mehr vollendet. Vom Violinkonzert existiert nur der Torso des 1. Satzes, von der Symphonie ein Bauplan - vier Sätze: Allegro con fuoco, Andante, Scherzo und Allegro -, zwei Lieder von 24. Schon im Januar begann Staehles Krankheit Zeichen zu geben: Fieber, Kopfschmerzen, Lähmungen und Sehstörungen. Daraus wurde im Lauf des Februar das Sehen von Doppelbildern, was das Komponieren nahezu unmöglich machte in Staehles erkranktem Hirn flossen die Notenlinien ineinander, lösten sich auf, gaben vor, an anderer Stelle zu stehen, wo er dann auch verzweifelt Noten hinkritzelte.

6 6 Schüttelfrost und Halluzinationen traten hinzu, in kurzer Zeit griff die Enzephalitis, die Hirnhautentzündung, sich Raum. Zwei Ärzte suchte der junge Musiker auf, der eine diagnostizierte Schwindsucht, der andere eine verschleppte Syphilis, helfen konnte keiner der beiden. Dass Enzephalitis diverse Ursachen haben kann, war damals noch nicht Allgemeingut. Häufig viral verursacht, konnte sie auch bakteriösen Ursprungs sein, Herpes simplex konnte sie auslösen und sogar eine Autoimmunerkrankung wie Multiple Sklerose. Sogar ein Zeckenbiss, von dem Staehle im Sommer in einem Brief geschrieben hatte, konnte über die Borreliose die lebensgefährliche Entzündung des Gehirns verursacht haben. Wie auch immer: Am 29. März verstarb Hugo Staehle, kurz vor seinem 22. Geburtstag. Und natürlich fragt man sich, was von diesem genialischen Jüngling noch alles gekommen wäre, hätte er wenigstens so lange wie Franz Schubert oder Mozart leben dürfen. In der griechischen Antike hieß es: Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Für die Welt der Musik war es ein großer Verlust. MUSIK: STAEHLE, DES MÜDEN ABENDLIED, TRACK 16 (4:26; ACHTUNG! FALLS NÖTIG, AUF ZEIT FAHREN!)) 5) STAEHLE, Des Müden Abendlied; SIEHE 1)!