Eine neue Gelegenheit, um die Strategien gegenüber der Türkei richtig auszurichten
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- Otto Ziegler
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1 1. DEZEMBER 2015 Eine neue Gelegenheit, um die Strategien gegenüber der Türkei richtig auszurichten Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sitzt wieder am Steuer, nachdem seine regierende Partei in den vorgezogenen Wahlen im November einen entscheidenden Sieg errungen hat. Wenngleich Herr Erdogan niemals ein Liebling der Entscheidungsträger und Meinungsmacher im Westen gewesen ist, macht ihn sein erneuertes Mandat zu einem nützlichen Partner in den Bemühungen, den Bürgerkrieg in Syrien beizulegen und die Flüchtlingskrise, die Europa zu überschwemmen droht, zu lösen. Report von: Eka Tkeschelaschwili Das Ausmass, mit dem die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gewann und welches ihr eine komfortable Mehrheit im Parlament verschaffte, überraschte sowohl die Berichterstatter im In- und Ausland. Die türkischen Politiker scheinen ebenfalls überrascht worden zu sein, da erwartet worden war, dass die Abstimmung eine Wiederholung der ergebnislosen Wahlen im Juni 2015 sein würde, bei der die AKP deutlich hinter der Mehrheit zurückblieb. Die Spekulationen hatten sich mehr auf die Wahrscheinlichkeit einer grossen Koalition zwischen der AKP, die namentlich von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu geführt wird, und der sozialdemokratischen Republika- Ankara, 23. Juni 2015: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) verlässt das Parlamentsgebäude der Nation, nachdem die Abgeordneten, die ihre Sitze bei den uneindeutigen Wahlen gewonnen hatten, eingeschworen worden waren (Quelle: dpa) nischen Volkspartei (CHP) konzentriert. Dies war die bevorzugte Option in den meisten europäischen Haupt- Machtkonsolidierung könnte ein Gefühl des Selbst- städten, wo man gehofft hatte, dass ein gezügelter Herr vertrauens schaffen, dass es der Regierung erlauben Erdogan seine in- und ausländische Politik mässigen und würde, mit einer grösseren strategischen Voraussicht und die Erfolgsbilanz der Menschenrechte und der Demokratie Flexibilität zu agieren und das sowohl im In- als auch im im Land verbessern würde. Ausland. Alternativ dazu könnten die Machthaber zumindest auf kurze Sicht - an den Strategien festhalten, Ein stärkeres Mandat die ihnen den politischen Erfolg zu Hause geliefert haben, Das Wahlergebnis gibt aber in der Tat Grund für selbst wenn sie damit das internationale Ansehen des vorsichtigen Optimismus. Vor dem Hintergrund des Landes und den sozialen Zusammenhalt der Türkei auf Schlachtfelds im Nahen Osten stellt die Beendigung der lange Sicht untergraben. politischen Sackgasse in der Türkei an sich eine gute Nachricht dar. Eine dysfunktionale türkische Regierung, Herr Erdogan dürfte nicht über den Luxus verfügen, die die in politischen Auseinandersetzungen feststeckt, wäre zweite Option zu wählen. Die Türkei befindet sich an einem das schlimmste Szenario für die Nato-Verbündeten des kritischen Punkt, wenn sie derzeit über Erfolg und Landes sowie für die regionalen Partner im Nahen Osten Misserfolg ihrer Strategien Bilanz ziehen muss. In ihrem und in der Schwarzmeer-Region. gegenwärtigen geopolitischen Umfeld kann weder Sta- Die Frage ist, wie Präsident Erdogan und die AKP bilität noch nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielt beabsichtigen, ihr stärkeres Mandat auszunutzen. Ihre werden, ohne die innen- und aussenpolitischen Agenden SEITE 1
2 1. DEZEMBER 2015 Istanbul, 1. Juni 2013: Die Reaktion Ankaras auf die Gezi Park Proteste wurde zu einem Wendepunkt, was die offene Kritik an der Menschenrechtsbilanz der Türkei angeht. (Quelle: dpa) neu einzustellen. Es ist eindeutig, dass Herrn Erdogans Die Regierungspartei trägt den Löwenanteil der Verantumstrittene Art der Innenpolitik und seine Aussenpolitik wortung, wenn es darum geht den Pluralismus und die der Null Probleme mit den Nachbarn, nicht mehr länger Redefreiheit zu garantieren. In diesem Zusammenhang ist im besten Interesse der Türkei ist. die grösste Herausforderung, die fehlende Bereitschaft der AKP die kurdisch dominierte Demokratische Partei der Engere Beziehungen zu den westlichen Verbündeten und Völker (HDP) als einen legitimen Akteur in der offiziellen insbesondere zu den Vereinigten Staaten und zur Politik zu akzeptieren. Es gibt allerdings bereits frühe Europäischen Union, werden für die Türkei essentiell sein, Anzeichen, dass die neue Regierung gewillt ist, den Ton in um die Position als regionaler Power Broker zurück- der Auseinandersetzung mit der CHP, ihrem traditionellen zugewinnen. Es ist eindeutig, dass Herrn Erdogans linken Rivalen, zu deeskalieren. alternative Vision einer Türkei, die ihre muslimische Identität im Nachgang des Arabischen Frühlings nutzt, um Die neue Aufstellung des Kabinetts zerstreute jegliche ein Machtzentrum im Nahen Osten zu werden, gescheitert Spekulationen, das Ministerpräsident Davutoglu als ein ist. Die blosse Tatsache, dass es keine türkischen gleichberechtigterer Partner Herrn Erdogans in ErscheiBotschafter in Ägypten, Israel, Libyen und Syrien gibt, nung treten könnte. Der Stempel des Präsidenten war bei belegt dies. vielen wichtigen Ernennungen (insbesondere bei der seines eigenen Schwiegersohns, der den Posten des Bedenken im Inland Energieministers erhielt) offensichtlich und wies deutlich Die Türkei wird ihre demokratische Legitimation ver- darauf hin, dass er die dominierende Figur in der bessern müssen, um jegliche Art einer länger andauernden türkischen Politik bleibt. Verbesserung in den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der EU zu erreichen. Die interne politische Die grössten Bedenken beziehen sich auf das neue Debatte des Landes ist so aufgeladen und polarisierend Wirtschaftsteam, welches vom ehemaligen Finanzminister geworden, dass es nicht leicht sein wird, sich neue, Mehmet Simsek geführt wird. Während die solide offenere Vorstellungen zu eigen zu machen. Erfolgsbilanz von Herrn Simsek Vertrauen erweckt, wurden SEITE 2
3 die meisten Minister, über die er die Aufsicht führen wird, zu Protegés von Herrn Erdogan gemacht, was Bedenken aufkommen lässt, wenn es um deren Fähigkeit geht, dem politischen Druck zu widerstehen und eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik zu forcieren. Die Hauptdeterminante des innenpolitischen Klimas wird die fortdauernde bewaffnete Konfrontation mit der kurdischen Arbeiterpartei, kurz PKK, sein. Die Wiederaufnahme der türkisch-kurdischen Friedensgespräche wird von mehr als nur der Bereitschaft Ankaras abhängen, Gespräche zu führen. Die Türkei benötigt eine Zusicherung, dass ihre nationalen Interessen im Krieg gegen den Islamischen Staat berücksichtigt werden. Es kann nicht erwartet werden, dass Ankara mit der PKK verhandelt, wenn es nicht sicher sein kann, dass in Syrien keine autonomen kurdischen Enklaven dauerhaft gestattet werden, die Bereitstellungsräume und Manpower für den Aufstand in der Türkei liefern könnten. Eine neue Variable, die den Friedensprozess zu Fall bringen könnte, ist die mögliche Unterstützung der PKK durch Russland. Dies kann als eine Form der Vergeltung nicht ausgeschlossen werden, nachdem eine türkische F-16 am 24. November einen russischen Su-24 Bomber, der von Syrien aus operierte, abgeschossen hat. Russischer Vorstoss Dieser Zwischenfall zeigt, wie die militärische Intervention Russlands im südlichen Nachbarstaat der Türkei das bereits miserable Sicherheitsumfeld im Nahen Osten verkompliziert hat. Er übt sogar noch mehr Druck auf Ankara aus, seine aussenpolitischen Prioritäten zu überdenken. Die Türkei sieht ihre nationalen Interessen durch Russlands Vorstoss, eine neue geopolitische Landschaft in der Schwarzmeer-Region und im Nahen Osten zu gestalten, direkt bedroht. Es steht für Ankara genug auf dem Spiel, um die unvermeidliche, asymmetrische russische Vergeltung zu riskieren, die bislang wirtschaftliche Sanktionen und so wird berichtet - Angriffe auf türkische Hilfskonvois in Syrien umfasste. Diese veränderte Situation macht die festen Sicherheitszusagen der Nato für Ankara noch wichtiger. Die türkische Regierung wird daher darauf fokussiert sein ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und der EU zu pflegen. An beiden Fronten gibt es Grund zum Optimismus. Das Ergebnis der Wahlen im November gibt Präsident Erdogan einen weitreichenden Handlungsspielraum. Er kann es sich gefahrlos leisten, seine Praxis, die Aussenpolitik den kurzfristigen Wahlerfordernissen schonungslos unterzuordnen, fallen zu lassen. Die im November getroffene Entscheidung der Türkei, einen Auftrag über ein Raketenabwehrsystem aus China in Höhe von 3,4 Milliarden US$ zu verwerfen, ist eine positive Entwicklung in dieser Richtung. Andererseits haben die Sicherheitssituation im Nahen Osten und das bislang noch nie dagewesene Ausmass der Flüchtlingskrise in Europa Ankara einen gewaltigen diplomatischen Einfluss verschafft. Die Türkei ist als ein unverzichtbarer Partner zurück auf dem Radar. Angespanntes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Türkei haben seit 2003 gelitten, als die Türkei sich weigerte zu erlauben, dass ihr Territorium für die Invasion im Irak genutzt wird. Nach einer kurzen Annäherung in den Jahren , drifteten Ankara und Washington wieder auseinander. Dies war insbesondere die Folge von Meinungsverschiedenheiten, was Ägypten, Syrien, den Iran und Libyen anbetraf, sowie dem andauernden diplomatischen Stillstand mit Israel. Das harte Durchgreifen der Machthaber bei den Protesten im Gezi Park in Istanbul im Jahr 2013 wurde zu einem Wendepunkt, was die offene Kritik der Vereinigten Staaten an der Bilanz der Bürgerrechte in der Türkei anging. Syrien ist derzeit der grösste Stolperstein zwischen den beiden Ländern. Die Türkei und die Vereinigten Staaten haben voneinander abweichende Interessen und Positionen, wie die Krise gelöst werden sollte. Aus der Sicht Ankaras gibt es keinen Weg, Syrien wieder in Ordnung zu bringen, ohne dass man sich Präsident Baschar al- Assads entledigt. Die Vereinigten Staaten weigern sich, solch eine direkte Verbindung zu ziehen und bevorzugen es, sich auf den Kampf gegen den Islamischen Staat zu konzentrieren. Insbesondere das Faktum, dass die Vereinigten Staaten als integralen Bestandteil ihrer Anti- SEITE 3
4 Daesh-Strategie auf die Kurden setzen, hat die Beziehungen zur Türkei ernsthaft belastet. Es ist die Ansicht Ankaras, dass die amerikanische Politik schlecht damit beraten ist, durch die Unterstützung der Volksverteidigungseinheiten (YPG), einer Schwesterorganisation der PKK, Vorzüge zu erlangen, und dass dies unakzeptabel ist, weil es eine Sicherheitsbedrohung für einen Nato- Mitgliedsstaat schafft. Brücken schlagen Ein wichtiger Schritt nach vorne, um diese Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen, war die militärische Kooperationsvereinbarung, die im Juli erzielt wurde. Die Türkei hat nicht nur den Vereinigten Staaten Zugang zu ihrem Luftwaffenstützpunkt in Incirlik gewährt was für jegliche Operationen der Koalition gegen den Islamischen Staat entscheidend ist sondern sie stimmte auch zu, koordinierte und unabhängige Luftschläge gemeinsam mit dem US-Militär durchzuführen. Schon bald wurde allerdings Kritik laut, dass es das Hauptziel der Türkei war, kurdische Kämpfer in der Türkei, in Syrien und im Irak ins Visier zu nehmen, anstatt den Islamischen Staat selbst zu treffen. Der aktuelle Stand der Dinge bietet mehr Chancen für eine Annäherung der US-amerikanischen und türkischen Positionen. Als Folge der Terroranschläge in Paris werden die von den Vereinigten Staaten geführten Koalitionsstreitkräfte ihre Anstrengungen gegen den Islamischen Staat verdoppeln und die Türkei wird ein Teil hiervon sein. Wenngleich es keine Strategieänderung geben wird, was die Entsendung amerikanischer Bodentruppen anbelangt, forderte Präsident Barack Obama Frankreich und die Türkei auf, Spezialeinsatzkräfte neben den 50 US- Operatoren zu stationieren. Ihre Aufgabe ist es, die sunnitischen Araber auszubilden, um so dabei zu helfen, den Effekt der Luftangriffe, die darauf abzielen die Daesh zu verringern und letztendlich zu besiegen, zu maximieren. Eine grössere Anerkennung des Wertes der sunnitischen Kämpfer von Seiten der Vereinigten Staaten, insbesondere wenn es darum geht, Gebiete zu halten, die vom Islamischen Staat befreit wurden, könnte zu einem besseren Verständnis der türkischen Bedenken über ein mögliches Entstehen kurdischer Enklaven vor der türkischen Haustüre und der zunehmenden Möglichkeiten der PKK innerhalb der Türkei selbst führen. Auch die russische Militäraktion in Syrien hat Washington und Ankara näher zusammen gebracht. Sie hat die Flugverbotszone, die von der Türkei und einigen US- Politikern wie Hillary Clinton (aber nicht Präsident Obama) propagiert wurde, zu einer Totgeburt gemacht. Die vorläufige, in Wien erzielte Vereinbarung im Januar 2016 mit Friedensgesprächen zu Syrien zu beginnen, bietet für die beiden Länder eine weitere Gelegenheit zusammenzuarbeiten, selbst wenn es nicht gelingt, sofortige Ergebnisse zu erzielen. Herrn Obamas Aussage, dass die Türkei das Recht hat, ihren eigenen Luftraum zu verteidigen, war ebenfalls ein positives Signal. EU-Ausblick Der Gipfel mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu in Brüssel am 29. November markiert das Comeback der EU als starker Mitspieler in der Türkei. Die Entscheidung des Blocks Ankara eine erste Zahlung in Höhe von 3 Milliarden Euro zu gewähren, um die Bedingungen der 2 Millionen syrischen Flüchtlinge in türkischen Lagern zu verbessern, die Visa-Anforderungen zu lockern und die Gespräche über eine letztendliche EU- Mitgliedschaft zu beschleunigen, eröffnet eine potentielle Win-Win-Situation. Für die Türkei könnten wiederbelebte Beziehungen zur EU die Richtung einer Aussenpolitik, die durch die Doktrin der Null Probleme arg aus dem Lot geraten ist, wieder in Ordnung bringen. Beide Seiten verstehen, dass sie den Erwartungen nachkommen und wohlüberlegte Schritte nach vorn tun müssen. Herr Erdogan wird seinen Teil dazu beitragen müssen, indem er die Flüchtlingskarte nicht überzieht. Europa wird auf jegliche Anzeichen der Verschlechterung bei den Menschenrechten achten. Die Lockerung der Visabestimmungen, die mit der EU bestehen, ist für die türkische Öffentlichkeit von grosser Bedeutung und könnte in der Zukunft einen Einfluss auf die Wahlen haben, was wiederum der Regierung einen zusätzlichen Anreiz gibt, auf ihrem Weg voranzukommen. Jeglicher Fortschritt, den Nordzypern-Konflikt zu lösen, würde Brüssel und Ankara ebenfalls näher aufeinander zu bringen. Die Türkei hat bereits eine konstruktive Rolle in den von den Vereinten Nationen geleiteten Gesprächen zu der umstrittenen Insel gespielt. Die sich verändernde Situation in Syrien, Russlands militärische Intervention und das wachsende Ausmass der SEITE 4
5 Flüchtlingskrise erfordern allesamt, dass die Türkei ihre aussenpolitischen Prioritäten anpasst. Der eindeutige Sieg der Regierungspartei bei den vorgezogenen Wahlen im November macht diese Anpassung möglich. Das wahrscheinlichste Szenario sieht so aus, dass Herr Erdogan sein politisches Kapital dazu nutzen wird, die internationale Position der Türkei zu stärken, statt dass er dieses Kapital für innenpolitisches Gezänk vergeudet. Damit wird den politischen Entscheidungsträgern in den Vereinigten Staaten und in der EU die Last auferlegt, die Türkei richtig einzuschätzen. Indem sie die geeigneten Anreize offerieren, könnten sie eine Hilfe leisten, den Demokratisierungsprozess des Landes in die richtige Richtung zu lenken. Auch die russische Militäraktion in Syrien hat Washington und Ankara näher zusammen gebracht. Sie hat die Flugverbotszone, die von der Türkei und einigen US-Politikern wie Hillary Clinton (aber nicht Präsident Obama) propagiert wurde, zu einer Totgeburt gemacht. SEITE 5
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