Erleben Erfahren Begreifen. Der Körper und die Sinne in der Erlebnispädagogik
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- Fanny Hausler
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1 Erleben Erfahren Begreifen. Der Körper und die Sinne in der Erlebnispädagogik Prof. Dr. Markus Dederich Augsburg, den 22. September 2017
2 Einleitung Der Körper und die Sinne hatten vor allem in den 1980er und 1990er Jahren eine gewisse Konjunktur. Damals war die Erlebnispädagogik noch gelegentlich Gegenstand wissenschaftlich basierter Praxisprojekte. Das hat sich seitdem geändert. Heute geht es im Mainstream der Forschung einerseits um operationalisierbare und quantifizierbare Parameter und eine evidenzbasierte Forschung, andererseits um die messbaren Effekte von Interventionen sowie den messbaren Erfolg von Bildungseinrichtungen.
3 Diese Tagung hat somit ein Thema, das in der gegenwärtigen Pädagogik zumindest auf akademischer Ebene weitgehend aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden ist. Die Erlebnispädagogik lässt sich dem Spektrum reformpädagogischer Konzeptionen zuordnen. Diese entziehen sich sowohl der wissenschaftlichen Operationalisierbarkeit als auch der Steuerbarkeit durch die Politik. Hinzu kommt (siehe Odenwaldschule), dass sie auch moralisch in Verruf geraten sind.
4 Grundidee einer körper- und sinnesorientierten Pädagogik Die in den 1980er und 1990er Jahren entwickelten pädagogischen Konzepte sahen sich als kritisch-emanzipatorisch. Einerseits ging es um eine Bildung des ganzheitlich verstandenen Menschen, andererseits um eine Kritik an einem sozialtechnologischen Bildungsverständnis. Grundlegend waren u.a. die folgenden Fragen: Wie eignen sich Menschen die Welt an, wie machen sie bedeutsame Erfahrungen, wie kommen sie zu zugleich reflektiertem und praktisch wirksamem Wissen? Wie werden sie zu verantwortungsbewussten Subjekten?
5 Ein zentraler Aspekt der Antwort auf diese Fragen kommt im Titel dieses Vortrags zum Ausdruck: Durch die Berücksichtigung des elementaren Zusammenhangs von Erleben, Erfahren und Begreifen.
6 Hintergrund: Der Körper und die Pädagogik Gängige Theorien des Körpers folgen dem cartesianischen Leib-Seele-Dualismus. Der Körper wird nur in seiner Materialität begriffen und als Organismus gefasst. Diesem Verständnis entspricht der medizinische Blick (Foucault). Im Prozess der Zivilisation spielte der gesellschaftliche Zugriff auf den Körper eine maßgebliche Rolle (Elias 1976). Dieser Zugriff führte zu einer zunehmenden Affektkontrolle und Selbstbeherrschung der Menschen und verstärkte die durch den christlichen Glauben bereits vorhandene Tendenz, spontane leibliche Regungen und Empfindungen, etwa Lust und Begehren, zu unterdrücken oder in moralisch unbedenkliche Bahnen zu lenken.
7 Zugleich nahmen die unmittelbar nach außen gerichteten, psychischen Funktionen den Charakter eines relativ trieb- und affektfreien, eines rationaler funktionierenden Bewusstseins an (Elias 1976, I, 391). Dieser Prozess spiegelt sich in der Geschichte der Pädagogik wieder. König (1989) zufolge haben deutsche Pädagogen der Aufklärungszeit den tiefen Zusammenhang von Körper und Geist gesehen und sich darum bemüht, die Erziehung der Seele über die Bildung der Sinne zu bewerkstelligen (S. 34).
8 Aber: weil es ihnen auf die Seele ankam, instrumentalisierten sie den Körper und die Sinne. Wenn ihrer Ansicht nach der Körper sowieso nur Instrument der Seele ist, warum sollten sie sich Körper- und Sinnesbildung nicht zum Instrument der Erziehung machen, da sie doch das Wichtigere in den Menschen ansprechen wollten, die Seele? (König 1989, 34). In der sich herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft war es Aufgabe der Pädagogik, die äußere und innere Natur der Heranwachsenden zu zivilisieren. Sie verfolgte das Ziel ihrer möglichst reibungslosen Einpassung in die hierarchisch geordneten kapitalistischen Strukturen (vgl. (Beck/ Wellershoff 1989).
9 Michel Foucault rekonstruierte die Erzeugung des Disziplinarindividuums durch Schule, Justiz und Psychiatrie. Wolfgang Welsch spricht von der Anästhesierung der Menschen in der modernen Welt, die von der physischen Stumpfheit bis zur geistigen Blindheit (Welsch 1990, 10) reicht. Pädagogische Instrumente: Einübung von Arbeitstugenden (Zeitökonomie, Zielorientierung, Selbstverdinglichung) Trennung von Hand- und Kopfarbeit Ausblendung ästhetischer Prozesse Hierarchisierung der Menschen aufgrund von Leistungen.
10 Der Pädagoge Horst Rumpf (1988) hat gezeigt, wie sich dieser Prozess bis in die Gegenwart hinein in den Schulen vollzieht. Es wird überwiegend abstraktes, wissenschaftlich aufbereitetes, von der lebensweltlichen Erfahrung der Schüler abgelöstes Wissen vermittelt. Diese Art der Organisation von Lernstoff geht systematisch mit einer Ausblendung bzw. Instrumentalisierung von Leiblichkeit und Sinnlichkeit einher und übersieht die Möglichkeiten eines entdeckenden Lernens.
11 Grundlagen der Erlebnispädagogik: Leib & Sinne Eine andere Grundlegung der Pädagogik wird über die Phänomenologie der Leiblichkeit möglich, die den Leib-Seele-Dualismus unterläuft. Der Leib ist der beseelte, spürende, sinnlich zur Welt geöffnete, für Atmosphären empfängliche, auf die sinnlich erfahrbare Welt antwortende Körper. Der Leib ist das Medium des menschlichen In-der-Welt-Seins. Zwischen Mensch und Welt oder Subjekt und Objekt nimmt er eine Zwischenstellung ein: Er ist zugleich mir und der Welt zugehörig, er ist Subjekt und Objekt in einem.
12 Nach Merleau-Ponty (1966) bilden sich Geist und Bewusstsein durch den Leib. Tasten und Greifen, Balancieren, sich bewegen, atmen, das Erleben von Wärme und Kälte, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen sind von geistigen Funktionen nicht zu trennen. Das Erkennen der Dinge beginnt damit, sie sinnlich zu begreifen. Die Sinne verkörpern (...) qualitativ verschiedene Bewusstseinsformen und entsprechende Bezugsweisen zur Wirklichkeit. (...) In der Tat zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass Kopf, Herz und Bauch, Beine und Hände oder die einzelnen Sinne die Wirklichkeit in sehr verschiedener Weise erschließen (Bräuer 1989, 18).
13 Der Leib mit seinen Sinnen ist nicht nur Hülle, Etui, Prothese, Vehikel oder Steuerungsinstrument, sondern hat Organcharakter. Er ist Organ der personalen Auseinandersetzung mit der sozialen Mitwelt, der Welt der Sachen wie auch des Menschen mit sich selbst. Wir können uns menschliche Subjektivität nicht anders als inkarnierte Subjektivität vorstellen (Bräuer 1989, 38). Anders gesagt: Die Beziehung des Menschen zu seiner dinglichen und sozialen Mitwelt wird nicht erst durch ein reflektierendes Bewusstsein hergestellt, sondern präreflexiv. Der Mensch findet sich vor aller kognitiven und begrifflichen Erkenntnis in einer sinnhaften, leiblich erschlossenen Welt vor.
14 Exkurs: Was bedeutet Sinn? Etymologie: Sinn war schon in althochdeutscher Zeit [ ] auf Verstand und Wahrnehmung bezogen (Duden 1989, 675). Das Verb sinnen bedeutet ursprünglich gehen, reisen. Grundbedeutung von Sinn : Gang, Reise, Weg. Es geht in beiden Fällen darum, eine Richtung zu nehmen und in Bewegung zu sein. Die Erfahrung von Sinn speist sich einerseits aus Wahrnehmungen, andererseits aus Gestik und Bewegung.
15 Erleben und Erfahrung Erleben: Das, was sich im Menschen im unmittelbaren, leiblichsinnlichen und tätigen Kontakt mit der Welt ereignet und als subjektiv bedeutungsvoll erfahren wird. Die Persönlichkeit und Biographie dessen, der erlebt, fließen in seine Wahrnehmungen und Aktivitäten ein und machen so die individuelle, subjektive und einmalige Seite des Erlebnisses aus. Erlebnis meint immer Selbsterlebtes in konkreten Lebenssituationen eines bestimmten Menschen (...) (Bürmann 1992, 204 f.).
16 Wenn Erlebnisse subjektiv bedeutsam sind, dann werden sie zu Erfahrungsinhalten. Die Verarbeitung solcher Erlebnisse als subjektiv bedeutsame Erfahrung erfolgt schließlich in einer solchen Weise, dass sie als konstitutive Bestandteile in den Lebens- und Erfahrungshintergrund eingehen und damit Wahrnehmung und Erfahrungsverarbeitung in einem das subjektive Erkenntnisvermögen übersteigenden Umfang bestimmen (Bürmann 1992, 205). Erleben, das Begreifen einer Sache, die Herausbildung von erfahrungsbasierter Erkenntnis und Handlung sind zirkulär verflochten!
17 Neben der Aktivität oder Bewegung ist Aufmerksamkeit im Sinne einer bewussten und konzentrierten Zuwendung zum Erfahrungsgegenstand eine Bedingung für Erfahrung. Kükelhaus: Wir nehmen wahr in Richtung unserer Aufmerksamkeit. Worauf wir nicht achten, das ist gleichsam nicht vorhanden. Der Wirklichkeitsgrad ist eine von unserer Aufmerksamkeit abhängige Größe. Am lebendigsten lebt, wer allseitig aufmerksam lebt (Kükelhaus, FFB, 66).
18 Zum Schluss: Der pädagogische Impuls Die bei den Sinnen ansetzende Pädagogik mutet subjektivistisch oder gar irrational an. Tatsächlich aber hat sie eine durchaus (gesellschafts-)kritische Seite. Sie kritisiert die Zerlegung des Lernstoffs in gut dosierte und lernbare Einheiten; die Reduzierung des Lernens auf Wissensvermittlung und dessen Reproduktion; die pädagogischen Techniken, die zur Erlangung dieses Zieles angewandt werden;
19 die aus dieser einseitigen Zielsetzung resultierende pädagogischen Stilllegung des Körpers und der Sinne und damit eines entdeckenden Lernens; die Tatsache, dass in der Pädagogik die durch Politik und Gesellschaft vorgegebene Wissens- und Kompetenzordnung und nicht die Fähigkeiten, individuellen Bedürfnisse und die Singularität des Kindes maßgeblich sind; dass dieser vorgegebene Fundus normierend wirkt und als Maßstab für Selektion die Kinder Leistungs- und Erfolgsnormen unterwirft.
20 Was versucht die hier skizzierte Pädagogik dem entgegenzusetzen? Eine Form von Wissen, das auf ganzheitlich-mitschwingenden Wahrnehmungsformen (Rumpf 1988, 32) bzw. Weltresonanzen (ebd., 31 ff.) beruht und nicht auf Begrifflich- Kognitives sowie auf herrschaftlichen Zugriff aus ist; Die Wiedergewinnung des primären Welterlebens (Adolf Portmann) gegenüber dem sekundären Weltwissen. Die Einwurzelung des Lernstoffs in einer persönlich bedeutsamen Sinndimension, wodurch ein höheres Maß an Ganzheitlichkeit des Lernens erreicht werden kann.
21 Die Stärkung nicht nur der subjektiven Dimensionen des Lernens, sondern die des lernenden und sich entwickelnden Subjekts insgesamt.
22 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
23 Literatur Beck, Johannes/ Wellershoff, Ulrike (1989): SinnesWandel. Die Sinne und die Dinge im Unterricht. Frankfurt a.m. Breuer, Gottfried (1989): Zugänge zur ästhetischen Elementarerziehung. In: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (Hg.): Musisch-Ästhetische Erziehung in der Grundschule, Grundbaustein Teil 1, Tübingen Bürmann, Jörg (1992): Gestaltpädagogik und Persönlichkeitsentwicklung. Bad Heilbrunn Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt a.m. König, Eugen (1989): Körper Wissen Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers. Berlin Kükelhaus, Hugo (1986): Fassen, Fühlen, Bilden. Köln Merleau, Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin Rumpf, Horst (1988): Die übergangene Sinnlichkeit. Weinheim und München Welsch, Wolfgang : Ästhetisches Denken. Stuttgart
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