Besonderheiten der psychiatrischen. Begutachtung im Asylverfahren. 01. September Clausthal-Zellerfeld. 18. Robert-Koch. Sozialpsychiatrie und

Transkript

1 18. Robert-Koch Koch-Tagung Clausthal-Zellerfeld 01. September 2011 Besonderheiten der psychiatrischen Begutachtung im Asylverfahren

2 Gutachten im interkulturellen Feld medizinische juristische gesellschaftspolitische ethische Jens Büttner/DPA... Implikationen 1/23

3 Qualitätsmerkmale und Standards Anforderungen an den Gutachter (Erfahrung, Psychotraumatologie, Kultursensibilität) Inhalt und methodische Standards (ICD-10, DSM-IV-R, Begründung der Diagnosen, Testdiagnostik, Widersprüche?, Aggravation?, Glaubhaftigkeit, Therapie, Prognose) Setting z. B. Haenel 2001; Gierlichs et al. 2002; Leonhardt 2004; Sieberer et al /23

4 Gutachten im interkulturellen Feld Setting Vertrauensvoller Kontakt + objektivierende Distanz Aufklärung (Rolle, Funktion des GA, Stellung zum Auftraggeber) Sachverständiger GA vs. therapeutisch wirkender Arzt Rolle des Arztes im Herkunftsland? Gender-Aspekte Unbewusste Übertragungsphänomene? Zeitrahmen (Übersetzung, Pausen, mehrere Termine) Dr. med. M.G. Sieberer 3/23

5 Gutachten im interkulturellen Feld Dolmetschereinsatz kulturelle Brücke sprachliche und kulturelle Verständigung Sprachrohr ohne eigene Dialoge Vor- und Nachgespräch Neutralität (wörtlich, kommentarlos, inhaltlich genau etc.) Geschlecht, Alter, Ethnie Kulturelles Hintergrundwissen Sitzanordnung etc. Dr. med. M.G. Sieberer 4/23

6 Gutachten im interkulturellen Feld Kulturspezifische Anamnese Soziokulturelle Hintergründe, Glaubensüberzeugungen, Rituale, Verhaltensnormen Ethnozentristische Fehldeutungen vgl. DSM-IV, Anhang F (Leitfaden) Traumatisierte Migranten PTBS bei Asylbewerbern in d. BRD: 40%* Gewalterfahrungen (man made disasters) Mögl. Konzentrations-/Gedächtnisstörungen Gäbel U. et al., /23

7 Gutachten im Asylverfahren Glaubhaftigkeit Häufige Frage der Auftraggeber Beschwerden glaubhaft vorgebracht? Glaubhaftigkeit d. Traumas nicht zu beurteilen Klinisch-erfahrungswissenschaftlich, nicht aussagepsychologisch Widersprüche, Lücken? 6/23

8 Problem: Reisefähigkeit keine Reduktion auf eine flugmedizinische Fragestellung ( Transportfähigkeit ) zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse oder inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse sind zu berücksichtigen besondere Interessenkollision: Auftraggeber vs. Probanden Udo Kroener/ Fotolia.com 7/23

9 Problem: Reisefähigkeit Diese Frage der Reisefähigkeit sollte nicht mehr gestellt werden, sondern durch Fragen nach den Hindernissen für eine Abschiebung [ ] ersetzt werden. (Lindtstedt, L.; In: Asylpraxis, Schriftenreihe des [ehem.] BAFl, 2001 ) Die Beschränkung einer medizinischen Begutachtung auf bloße Reisefähigkeit ist eindeutig abzulehnen, da sie nicht mit den ethischen Grundsätzen ärztlichen Handelns vereinbar ist. (107. Deutscher Ärztetag, 2004) 8/23

10 MHH-Gutachtenstudie* Retrospektive Analyse von 62 Gutachten Vorgutachten in 15.5% dokumentiert Alter: 35 (±10) Jahre 56,9% männliche Untersuchte Verfahrensstand (n=49) Erstantrag in nur einem Fall Revision nach abgelehntem Asylantrag in 19.4 % Asylfolgeverfahren in 58.1 % *vgl. Sieberer et al. (2011); Psychiatr Prax, 38(1): /23

11 Auftraggeber 46.7% 19.4% 14.5% 6.5% 10/23

12 Häufigste Fragestellungen Fragestellung (n = 58) Diagnostische Einordnung der seelischen Erkrankung n 47 % 81,0% Vorliegen einer seelischen Erkrankung 45 77,6% Behandlungsmöglichkeiten 39 67,2% Wahrscheinlichkeit einer Retraumatisierung 32 55,2% Durchführbarkeit einer Behandlung im Heimatland 28 48,3% Vorliegen einer PTBS ,6% Heilungschancen 26 44,8% Zusammenhang zwischen seelischer Erkrankung und Trauma 24 41,4% Gesundheitliche Folgen einer Nicht-Behandlung 24 41,4% Glaubwürdigkeit 23 39,7% Ausmaßes der seelischen Erkrankung 17 29,3% Auswirkung der Erkrankung auf das Aussageverhalten 16 27,6% Reisefähigkeit 11 19,0% Aktuelles Vorliegen einer Retraumatisierung 9 15,5% (Mehrfachangabe möglich) 11/23

13 Aufenthaltsstatus Aufenthaltsdauer in der BRD vor dem Gutachten: 6,6 Jahre ± 4,1 Jahre (SD, n=56) Maximal 20 Jahre 12/23

14 Herkunftsländer (Angaben in Prozent) 13/23

15 Ethnische Zugehörigkeit (Angaben in Prozent) 14/23

16 Diagnosen Diagnosen (gesamt) (n=58) Fälle (n) % F F F F F F /23

17 Traumatisierung Traumatisierung (als Ereignis ) in 82 % Erleben mehrfacher Traumata in 58 % fast ausschließlich man made disasters (s.u.) Folter (M>F, p=.008; χ²) Vergewaltigung (F>M, p<.001; χ²) Kriegserlebnisse andere sex. Gewalt Vergewaltigung Gefangenschaft Folter Körperliche Gewalt 22,4 12,1 25,9 34,5 39,7 50,0 0,0 10,0 20,0 30,0 40,0 50,0 60,0 % 16/23

18 Suizidalität 6,4% 56,5% 37,1% primär: 33,9% im Abschiebungsfall: 22,6% Suizidversuche in 27,6% Frauen häufiger suizidal (p=.034, χ²) 17/23

19 Die Urteile (I) Urteile recherchierbar für 43 Gutachten (69%) Urteilsspruch in 53% (n=33) ergangen kein Urteil: 1 Fall ohne Urteil beendet in 9,7% (n=6) Urteil ausstehend: 3 Fälle Verhandlungsverlauf: Mündliche Hauptverhandlung in 66,7% (n=22) Entscheidung nach Aktenlage in 24,3% (n=8) Teilnahme des Gutachters in 3 Fällen (9,1%) Urteil folgt dem GA: Ja in 68,4%, Nein in 23,7%, ohne Urteil 7,9% 18/23

20 Die Urteile (II) Entscheidung Aufenthaltsgenehmigung in 5,6% Duldung in 66,7% Abschiebung in 27,8% Foto: dpa Urteilsergebnis unabhängig von... Auftraggeber (p=.33, χ²)... Vorgutachten (p=.54, χ²)... Geschlecht (p=.29, χ²)... Traumatisierung (p=.30, χ²)... Suizidalität (p=.07, χ²) [...] 19/23

21 Bewertung durch die Gerichte (n=33) (Angaben in Prozent) 20/23

22 Bewertung durch die Gerichte Positiv bewertet, wenn logisch und in sich schlüssig argumentiert wurde erkennbare wissenschaftliche Standards und Kriterien detailreich und ausführlich Negativ beurteilt, wenn mangelnde Auseinandersetzung mit Zweifeln, Wahrscheinlichkeit (bzgl. Diagnose) oder mit Glaubhaftigkeit unkritisch oder gar empathisch (in 1 Fall) Parteigutachten nur 1 Untersuchungstermin 21/23

23 Zusammenfassung Gutachtenaufträge zumeist in Asylfolgeverfahren Fragen zu Traumatisierung, Glaubwürdigkeit und Abschiebehindernissen implizieren medizinische, juristische, aber auch ärztlich-ethische Aspekte hoher Anteil traumatisierter und suizidaler Probanden erfordert fundierte psychotraumatologische Kenntnisse häufigste Gutachtenmängel in der Praxis: unzureichende Auseinandersetzung mit Zweifeln, Widersprüchen und Glaubhaftigkeit mehrheitlich folgten die Gerichte dem Gutachten inhaltlich 22/23

24 Anhang Informationsquellen über Migration/ Asyl/ Herkunftsländer: Auswärtige Amt ( WHO ( European Country of Origin Information Network ( (vermutlich die derzeit beste Quelle zum Thema Gesundheitsversorgung in Herkunftsländern mit zahlreichen Links und Querverweisen!) UNHCR ( Informationsverbund Asyl ( Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (

25 AGs Transkulturelle Psychiatrie und Migration PD Dr. Iris T. Calliess Prof. em. Dr. W. Machleidt Prof. Dr. Marc Ziegenbein Dr. Zentrum für Seelische Gesundheit Carl-Neuberg-Str Hannover Fon +49 (0) or Danke für die Mitarbeit an: Dr. Christiane Werry Dr. Gudrun Lübbe Dr. Martina Brack Dr. med. M.G. Sieberer