Prof. Dr. Christoph Gröpl Vorlesung Staatsrecht I Universität des Saarlandes

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Transkript:

Prof. Dr. Christoph Gröpl Vorlesung Staatsrecht I Universität des Saarlandes Recht (Arbeitsdefinition i.e. sehr umstr.) = verbindliche Verhaltensregeln, die in den Bedürfnissen des menschlichen Zusammenlebens, bewährter Rechtserfahrung und der Entscheidung des staatlichen Rechtsetzungsorgans ihre Wurzeln haben = Sollensordnung mit dem Merkmal der zwangsweisen Durchsetzbarkeit Rechtsstaatsprinzip: Recht und Gesetz Bemühen des demokratischen Rechtsstaats: Festsetzung der allgemeinen Verhaltensregeln in einem geschriebenen Text durch Entscheidung des demokratisch unmittelbar legitimierten Parlaments: Voraussehbarkeit für jedermann Verantwortung vor dem Staatsvolk Gesetz Art. 20 III Hs. 2 GG: Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht Begriffsdualismus als Problem: Reaktion auf das Unrecht in Gesetzesform während des Nationalsozialismus: Appellfunktion an alle staatlichen Gewalten, sich jeweils der Gerechtigkeit des Gesetzes zu vergewissern und erforderlichenfalls Gegenmaßnahmen einzuleiten. Dualismus im demokratischen Rechtsstaat ohne Belang, da der Begriff des Gesetzes i.s.v. Art. 20 III Hs. 2 GG bereits das gesamte positive (geltende) Recht umfasst und Gesetze nur in Übereinstimmung mit dem GG erlassen werden und bestehen können. a.a. (= Mindermeinung): Differenzierung Gesetz = nur geschriebenes Recht, Recht = Gewohnheitsrecht, Richterrecht, ggf. auch überpositives Recht SRI15/1

2 Werkzeug zur funktionalen Verknüpfung der drei Staatsgewalten: Legislative Gesetzgebung Exekutive Gesetzesvollzug Gesetz Judikative Gesetzeskontrolle naturwissenschaftliches G. juristisches Gesetz Sittengesetz sagt, was ist (Tatsachenbeschreibung) wird entdeckt --- äußere Ordnung menschlichen Zusammenlebens sagt, was sein soll (Aufstellung von Forderungen, Regeln) wird geschaffen (gegeben) Erfüllung ethischer oder religiöser Wertvorstellungen --- Durchsetzbarkeit mit Zwang Bindung im Gewissen Regeltypus des juristischen Gesetzes: allgemeine, generell verbindliche Anordnung, die das menschliche Zusammenleben bzgl. grundlegender Fragen regelt. SRI15/2

Dualistischer Gesetzesbegriff 3 Gesetz im formellen Sinn Gesetz im materiellen Sinn Ursprung: Konstitutionalismus (19.Jh.) Gesetz als Kompetenzbegriff Bezug auf die Form = jeder Hoheitsakt, der im verfassungsrechtlich bestimmten Gesetzgebungsverfahren erlassen wird (sog. Parlamentsgesetz: Art. 76 ff. GG; Art. 98 ff. SVerf) Bezug auf den Inhalt: = abstrakt-genereller Rechtssatz = allgemeinverbindliche Regelung = Rechtsnorm (vgl. die entspr. Legaldefinitionen z.b. in 4 AO, Art. 2 EGBGB) enger (landläufiger) Gesetzesbegriff: Gesetz im formellen und materiellen Sinn, z. B. BGB, ZPO, StGB, StPO u.v.a. Gesetze im nur-formellen Sinn ( Organ[isations]gesetze ), z.b. Haushaltsgesetze (Art. 110 II GG) u.dgl. Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen ( Vertragsgesetze, Art. 59 II GG) Gesetze im nur-materiellen Sinn : Rechtsverordnungen (Art. 80 GG, Art. 104 SVerf) Satzungen (insb. Kommunalrecht, vgl. 12 Saarl. KSVG) Beachte: Spricht das Grundgesetz in seinem Normtext von Gesetz, geht i.d.r. vom formellen Gesetzesbegriff aus und lässt daher auch nicht-allgemeine Gesetze (Organ[isations]-, Maßnahme- und Einzelfallgesetze) zu, z.t. jedoch nur unter best. Voraussetzungen (s.u.). SRI15/3

4 Gesetzesphänomenologie Gesetzesarten a) (Parlaments-)Gesetze einschl. Verfassung = Gesetze im formellen Sinn b) Rechtsverordnungen c) Satzungen [d) Gewohnheitsrecht] = Rechtssätze [zugleich Rechtsquellen] Inhalte dieser Gesetzesarten 1. Gesetze i.s.v. Rechtsnormen = abstrakt-generelle Regeln für jedermann = Gesetze im materiellen Sinn 2. Maßnahmegesetze (vgl. z.b. BVerfGE 95, 1 ff.) Reaktion auf konkrete Situationen, z.b. PlanungsG e (G v. 29.10.1993 Südumfahrung Stendal ) FlutopfersolidaritätsG v. 19.09.2002 u.dgl. Einzelfallgesetze = konkret-individuell gerechtfertigt nur unter Beachtung von Art. 19 I 1 GG: Verbot finaler Grundrechtsbeschränkungen mittelbare/faktische Eingriffe aber zulässig! Art. 3 I GG: allgemeiner Gleichheitssatz Rechtfertigungserfordernis von Differenzierungen Art. 14 III GG: Legalenteignung nur aus triftigen Gründen Organ(isations)gesetze = Errichtung und Regelung der Zuständigkeit für staatliche Einrichtungen (z.b. Art. 87 III GG) SRI15/4

Gesetz: Gesichtspunkte der Gerechtigkeit (Gleichheit) und Stetigkeit Gesetzgeber: Erstinterpret der Verfassung (BVerfGE 101, 158 [236] 4.LFA-Urt.); Entscheidung über die allgemeine Ordnung im Gemeinwesen durch allgemeine und langfristige Maßstäbe Allgemeinheit und Generalität des Gesetzes 5 Individuelle und konkrete Gleichheit Gesetz gilt für jedermann und in jedem Fall = Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 I GG), Privilegienfeindlichkeit (Art. 33 I, III GG) Förderung der Distanz zum Betroffenen und damit der Objektivität, Rationalität (Abschirmung gegen Einzelinteressen, Besitzstände und Privilegien) Jeder Gesetzesverstoß (durch Verwaltung oder Richter) ist (auch) Gleichheitsverstoß (Art. 3 I GG) Gleichheit in der Zeit Gesetz gilt dauerhaft = Anwendung auch auf künftige Fälle (gesetzlicher Vorgriff in die Zukunft, Husserl 1955) gewisse Stetigkeit des Rechts (Kontinuitätsverpflichtung) Ideal: rational-planmäßige Zukunftsgestaltung Aber: Abänderbarkeit von Gesetzen (insb. durch andere demokrat. Mehrheiten) kein Gleichheitsverstoß Abfederung für Bürger: Vertrauensschutz (Verbot der sog. echten Rückwirkung = Rückbewirkung von Rechtsfolgen) SRI15/5