4. Über die Verschiedenheit der Rechtsquellen

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Transkript:

4. Über die Verschiedenheit der Rechtsquellen Der Begriff der Rechtsquelle Naturrecht Antike Christentum Vernunftrecht Positives Recht Gewohnheitsrecht Rechtsprechung Präjudizienwirkung Gesetzesrecht Case Law 37

Über das Wesen des Naturrechts Das Naturrecht Recht ist in einer natürlichen, moralischen Ordnung begründet Naturrecht kann durch positives Recht kodifiziert werden, es besteht jedoch völlig unabhängig von diesem Was charakterisiert demnach das Naturrecht? Ein ewig gleichbleibendes vorgegebenes Sittengesetz, dass jeder Mensch qua seines Menschsein erkennen muss und an dem er sich auch zu orientieren hat Richtiges Handeln als Voraussetzung für das individuelle und kollektive Glück (Deontologie) 38 Das antike Naturrecht Vier Determinanten des Naturrechts in der Antike 1 Es gilt universell und ist unveränderlich. 2 Es steht dadurch hierarchisch über den kodifizierten Gesetzen, die von politischen Autoritäten geschaffen worden sind. 3 Bestimmt, ob positive Gesetze bindend sind ersetzt positives Recht, wenn es nicht naturrechtskonform ist richtungweisendes Element der Rechtssetzung 4 Naturrecht wird durch die Vernunfteinsicht eines Menschen von diesem erkannt. 39

Das antike Naturrecht am Beispiel Ciceros Das wahre Gesetz aber ist die richtige Vernunft, die mit der Natur in Einklang steht und für alle Menschen gilt. Es ist unveränderlich und ewig,[...]. Wer ihm nicht gehorcht, flieht vor sich selber und verleugnet das Wesen des Menschen. Aber eben dadurch erleidet er die schwerste Strafe, auch wenn er allen anderen Strafen entgeht. Cicero (Über die Gesetze) Logos = höchste Form der Vernunft Lex aeterna = ewig, göttliches Recht Lex naturalis = allgemeingültiges Naturrecht Lex humana = Positives Recht Cicero 106 v. Chr. 43 v. Chr. 40 Naturrecht und Christentum Recht entstammt einer göttlichen, metaphysischen Schöpfungsordnung Natürlich göttliches Recht einzig relevanter Maßstab für das Gesetzesrecht Dadurch ist es (scheinbar) Wurzel aller Sittlichkeit vollkommen vernünftig aber durch den Sündenfall nachhaltig determiniert Bewirkt enge Verwobenheit von Kirche und Staat Augustinus (354 430) Thomas von Aquin (1226 1274) 41

Naturrecht als Vernunftrecht (1/2) Krise des teleologischen Naturrechts Antizipation und Perzeption der individuellen Vernunft Vordenker Hugo Grotius Die Fiktion des Naturzustandes Hobbes, Rousseau, später auch Rawls Gedankenexperiment Zustand sozialer Ordnung ohne Recht Willkür Konflikte Gefährdung des sozialen Friedens Hugo Grotius (1583 1645) Ausweg Kontraktualismus (politische Theorie) Selbstbeschränkung und Selbstbindung durch einen Gesellschaftsvertrag Übergang vom (gewalttätigen) Natur in einen (gewaltfreien) Vertragszustand Verschiedenste Modelle Hobbes: Leviathan (starke autoritäre Machtstrukturen) Rousseau: Contrat social (Gesellschaftsvertrag) Rawls: Die zwei Prinzipien der Gerechtigkeit 42 Naturrecht als Vernunftrecht (2/2) Initiiert durch die Entstehung der modernen Naturwissenschaften Darlegung von gesellschaftlichen Kausalzusammenhängen Bedeutungszunahme der Empirie statt der Metaphysik Herausbildung neuer natürlicher, rationaler Gesetzmäßigkeiten Geburtsstunde der ersten großen modernen Kodifizierungen und der gegenwärtig ausdifferenzierten Rechtsdogmatik 1807 Code Civil (später dann auch Code Napoléon genannt) 1812 ABGB (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch) gilt zu großen Teilen auch heute noch 43

Heutige Bedeutung des Naturrechts Anerkannt sind in zivilisierten Kulturbereichen heutzutage einige, wenige oberste Naturrechtssätze, wie etwa das Verbot der willkürlichen Tötung das Verbot der Sklaverei das Verbot des Menschlichkeitsverbrechens das Verbot des Angriffskrieges der Grundsatz pacta sunt servanda. Spuren naturrechtlicher Elemente in den heutigen Rechtsordnungen 16 ABGB Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als Person zu betrachten. Art. 1 Abs. 1 GG (deutsches Grundgesetz) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. 44 Das Gewohnheitsrecht Entstammt aus Brauchtum und Sitte und konnte sich mit der Zeit zu einer Rechtsnorm verdichten Bedeutungsverlust im 16 Jhdt. Aufstieg der Städte Entwicklung des Waren und Geldverkehrs Zwei Faktoren sind dabei maßgeblich: Zwei Faktoren des Gewohnheitsrechts Über längeren Zeitraum gleichmäßige Übung und Sitte (longa consuetudo) Mit der Überzeugung durch dieses Verhalten Recht geschaffen bzw. Recht befolgt zu haben (opinio iuris) Auch Gewohnheitsrecht als eigene Rechtsquelle ist positives Recht im weitesten Sinne, da es von den Menschen für die Menschen geschaffen worden ist 45

Zur aktuellen Bedeutung des Gewohnheitsrechtes Durch Verrechtlichung und seinem statischen Charakter untergeordnete Bedeutung Gestattungs vs. Übungstheorie Das österreichische Privatrecht folgt der Gestattungstheorie 10 ABGB Auf Gewohnheiten kann nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen werden. Heute noch eine geringe Bedeutung vor allem im Unternehmens und Völkerrecht Unternehmensrecht Handelsbräuche und Verkehrssitten Völkerrecht Völkergewohnheitsrecht 46 Das Gesetzesrecht (positives Recht im engeren Sinn) Rechtsnormen als Produkt staatlicher Entscheidungsprozesse die regelmäßig wirksam ( effektiv ) sind (also von den Rechtsunterworfenen befolgt werden) und die im Falle der Nichtbefolgung zwangsweise durchgesetzt werden können (Androhung und Durchführung organisierten Zwanges) Steigerung der Rechtsqualität, Rechtssicherheit und der Effizienz (vgl. Kapitel 3) Wurde notwendig aufgrund von größerer Mobilität größerer Problemlösungskapazität ausdifferenzierten Gesellschaftsstrukturen Recht als das zentrale Instrument der Herrschaft in einem Rechtsstaat 47

Rechtsbildung durch Rechtsprechung Ambivalenz Rechtsprechung durch das Recht gebunden (Rechtsprechung als bloße Rechtsanwendung) Urteile nur verbindlich für die jeweilige Rechtssache In der Praxis Orientierungsfunktion der Präjudizien Abstrakter Charakter der Rechtsnorm wird konkret durch seine Anwendung (Inhaltliche Anreicherung der Rechtsnorm) Zeitliche Kluft zwischen Rechtssetzung und Normanwendung durch die Gerichte Einbringung neuer Wertungsgesichtspunkte durch die Gerichtsbarkeit (Rechtsfortentwicklung) Abstraktes Recht und konkrete Rechtsanwendung durch Gerichte werden zu einer systematischen Einheit 48 Die Wirkung von Präjudizien im österreichischen Rechtssystem In Österreich offiziell keine Bindungswirkungen durch Präjudizien von oberen Gerichtshöfen Aber: ähnliche Fälle sollen ähnliche Entscheidungen nach sich ziehen Rechtssicherheit Vorhersehbarkeit und Rechtskontinuität Entlastungsfunktion Präjudizienvermutung Suche nach Ähnlichkeiten oftmals schwieriges Problem der Interpretation Obwohl in Österreich keine normative Wirkung von Präjudizien existiert, entfalten sie eine de facto Bindungswirkung qua der argumentativen Überzeugungskraft 49

Das amerikanische System des Case Law Historisch begründet durch die Rechtsprechung des Gerichts von Westminster (GB) im 15. und 16. Jhdt. Es gilt für die Juristen bereits abgeurteilte Fälle (sog. Präzedenzfälle) zu finden, die dem vorliegenden Fall gleichen Heute noch große Bedeutung im Zivil und Strafrecht Präzedenzfällen mit leitenden Rechtssätzen stare decisions Bestätigung durch Gericht hodling Weiterentwicklung des leit. Rechtssatzes distinguishing Abgehen vom leit. Rechtssatz overruling Neuer Präzedenzfall Dissenting bzw. Concurring opinion in den Richtersenaten von oberen Gerichtshöfen 50