Psychologie als Wissenschaft Herbstsemester 2011
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1 Psychologie als Wissenschaft Herbstsemester 2011 Prof. Dr. Adrian Schwaninger
2 Unterlagen zu dieser Vorlesung Folien der Vorlesung: Allgemeine Psychologie 1 (nächste Woche) Lehrbuch: Myers, D.G. (2008). Psychologie. Berlin Heidelberg: Springer. - Daraus folgende Kapitel: Prolog: Kurze Geschichte der Psychologie Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie - Weitere Unterlagen: die_zweite 2
3 Überblick Teil 1: Einführung Definition von Psychologie als Wissenschaft Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie Moderne Psychologie - Ansätze der modernen Psychologie - Integration im biopsychosozialen Ansatz Arbeitsfelder der wissenschaftlichen Psychologie - Grundlagenforschung - Angewandte Forschung - Klinische Psychologen vs. Psychiater 3
4 Definition Psychologie Psychologie ist die Wissenschaft vom Verhalten (alles, was ein Organismus macht) und von den mentalen Prozessen (dem Erleben, den subjektiven Erfahrungen, die wir aus dem Verhalten erschliessen). Das Schlüsselwort in dieser Definition ist Wissenschaft: Keine Aneinanderreihung von Befunden sondern eine Methode Fragen zu stellen und sie zu beantworten. 4
5 Beispiel: Erste psychologische Experimente von Wilhelm Wundt ab 1879 Frage: Wieviel Zeit braucht es für eine bewusste Wahrnehmung? Forschungsmethode: Experiment - Bedingung 1: Taste drücken, sobald man ein Geräusch hört - Bedingung 2: Taste drücken, sobald einem bewusst wird, dass man das Geräusch hört. Befunde: - Reaktionszeit in Bedingung 1 = 0.1 Sekunden - Reaktionszeit in Bedingung 2 = 0.2 Sekunden Schlussfolgerung: Dauer für das bewusst werden eines Geräusches = 0.1 Sekunden. Spätere Studien zu Wahrnehmung und Bewusstsein haben gezeigt, dass diese Schlussfolgerung zu einfach ist => Wissenschaft als Prozess der Wissen schafft und verbessert 5
6 19. Jahrhundert bis 1920: Wissenschaft vom Seelenleben Psychophysik (Ernst Heinrich Weber, Gustav Theodor Fechner): Experimente zum Zusammenhang zwischen physikalisch messbaren Reizen (z.b. Anzahl Kerzen) und Erleben (z.b. Helligkeit) Erstes psychologisches Labor 1879 in Leipzig (Wilhelm Wundt): Experimente zu inneren Empfindungen Strukturalismus (Edward Bradford Titchener u.a.): Suche nach den grundlegenden Elementen der Seele durch Introspektion (Selbstbeobachtung). Funktionalismus (William James u.a.): Gegenrichtung zum Strukturalismus. Welche Funktion haben mentale Prozesse (z.b. Denken) und Verhalten (z.b. riechen) für den Organismus um sich anzupassen, zu überleben und zu gedeihen (inspiriert durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin). Gestaltpsychologie (Max Wertheimer, Kurt Koffka, Wolfgang Köhler): Organisation der menschlichen Erfahrung (v.a. Wahrnehmung) und die zu Grunde liegenden Reizmuster: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Psychoanalyse (Sigmund Freud): Theorien zu Trieben, menschlicher Entwicklung und Aufbau der Psyche. 6
7 Behaviourismus, Humanistische Psychologie und kognitive Wende Behaviorismus (John B. Watson, Burrhus F. Skinner): Psychologie = Wissenschaftliche Untersuchung des beobachtbaren Verhaltens (Introspektion sei nicht wissenschaftlich und daher überflüssig). Humanistische Psychologie (Carl Rogers, Abraham Maslow): Bedeutung von Umwelteinflüssen, des persönlichen Wachstums und des Bedürfnisses, geliebt und angenommen zu werden. Betonung des Wachstumspotenzial gesunder Menschen. Kognitive Wende (ab 1960): Rückkehr zur Erforschung mentaler Prozesse; besondere Aufmerksamkeit widmete man der Wahrnehmung, der Informationsverarbeitung und dem Gedächtnis. 7
8 Moderne Psychologie Die Psychologie breitet sich aus und wird global. In 69 Ländern auf der Erde arbeiten, lehren und forschen Psychologen in vielen Bereichen. Psychologen untersuchen das Verhalten und Erleben des Menschen von unterschiedlichen Blickwinkeln aus (u.a. Neurowissenschaft, Evolutionstheorie, Verhaltensgenetik, Psychodynamik, Lerntheorie, Kognitionstheorie, soziokulturelle Theorie). 8
9 Neurowissenschaftlicher Ansatz Auf welche Weise werden durch den Körper und das Gehirn Emotionen, Erinnerungen und Wahrnehmungen überhaupt möglich? Beispiele: - Welche Gebiete im Gehirn sind für Wahrnehmung, Denken, Sprache etc. nötig? - Wie werden Informationen im Körper und vor allem im Gehirn weitergeleitet und verarbeitet? 9
10 Evolutionstheoretischer Ansatz Wie förderte die natürliche Selektion von Merkmalen die Weitergabe der eigenen Gene? Beispiele: - Genkombination (Vermehrung) -> Variation (Nachkommen) -> Selektion (Umweltpassung) -> Evolution (Entwicklung) - Auf welche Weise beeinflusste die Evolution bestimmte Verhaltenstendenzen von heute? 10
11 Verhaltensgenetischer Ansatz Wie stark beeinflussen unsere Gene und unsere Umwelt unsere individuellen Unterschiede? Beispiele: - Wie stark sind Intelligenz, Persönlichkeit, sexuelle Orientierung oder Depressionsanfälligkeit genetisch bestimmt? - Wie stark werden sie durch die Umwelt geprägt? 11
12 Psychodynamischer Ansatz Wie entwickelt sich Verhalten aus unbewussten Trieben und Konflikten? Beispiele: - Wie können wir die Persönlichkeitsmerkmale oder die Störung eines Menschen in Begriffen wie Sexualoder Agressionstrieb erklären? - Wie als maskierter Ausdruck unerfüllter Wünsche und Kindheitstraumata? 12
13 Lerntheoretischer Ansatz Wie erlernen wir beobachtbare Reaktionen? Beispiel: Konditionierung = Form des Lernens, bei der ein Organismus Reize (Stimuli) miteinander assoziiert: 13
14 Kognitiver Ansatz Wie kodieren, verarbeiten und speichern wir Information, und wie rufen wir sie wieder ab? Beispiele: - Wie benutzen wir Informationen, wenn wir uns erinnern, argumentieren, oder ein Problem lösen? - Wie werden Gesichter verarbeitet, gespeichert und erkannt? 14
15 Soziokultureller Ansatz Wie variieren Verhalten und mentale Prozesse je nach Kultur und Situation? Beispiele: - Worin sind sich alle Menschen ähnlich? - Worin unterscheidet sich das Verhalten mit Freunden im Vergleich zum Verhalten mit Vorgesetzten? 15
16 Integration: Biopsychosozialer Ansatz Diese integrierte Sichtweise umfasst verschiedene Analyseniveaus und bietet ein vollständigeres Bild des jeweiligen Verhaltens oder mentalen Prozesse. 16
17 Arbeitsfelder der wissenschaftl. Psychologie Grundlagenforschung = Grundlagenorientierte Wissenschaft zur Vermehrung des Wissens und der Kenntnisse. Meist ausgeübt von Psychophysiologen, Entwicklungs- und Kognitions-, differentiellen und Sozialpsychologen. Angewandte Forschung = Wissenschaftliche Untersuchungen zur Lösung konkreter Probleme. U.a. praktiziert von Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologen, sowie die vielen verschiedenen Anwendungsfelder, u.a. in der klinischen Psychologie. 17
18 Arbeitsfelder der wissenschaftl. Psychologie Kinische Psychologen vs. Psychiater: - Klinische Psychologen untersuchen, testen und behandeln Menschen mit psychischen Störungen (mit Hilfe der Psychotherapie). - Psychiater untersuchen, testen und behandeln ebenfalls Menschen mit Störungen, aber sie sind Mediziner, die sowohl Medikamente verschreiben als auch Psychotherapie anbieten können. 18
19 Überblick Teil 2: Kritisch denken mit wissenschaftlicher Psychologie Wissenschaftliche Methode Forschungsmethoden - Beschreibung - Korrelationsstudie - Experiment Hinweise zur statistischen Argumentation - Datenbeschreibung - Masse der zentralen Tendenz - Inferenzstatistik Kritisches Denken - Definition - Rückschaufehler (Hindsight Bias) - Übertriebene Selbstsicherheit 19
20 Wissenschaftliche Methode 20
21 Wissenschaftliche Methode Theorie: Auf Prinzipien gestütztes Erklärungsmodell, das Beobachtungen in einen Zusammenhang stellt und Vorhersagen erlaubt. Hypothese: Meist aus einer Theorie abgeleitete überprüfbare Vorhersage. Operationalisierung: Festlegung der Vorgehensweise (Operation) bei der Definition der Untersuchungsvariablen. Beispiel: Test für Selbstwert und Depressionsskala. Replikation: Wiederholung der wesentlichen Parameter eines Experiments, in der Regel mit anderen Versuchsteilnehmern in anderen Situationen. Mit Hilfe der Replikation kann festgestellt werden, ob sich die Grundannahmen eines Experiments auf andere Versuchsteilnehmer und andere Situationen übertragen lassen. 21
22 Beschreibung Einzelfallstudie: Beobachtungstechnik, bei der ein Individuum gründlich und intensiv beobachtet wird in der Hoffnung, auf diese Weise universelle Prinzipien entdecken zu können. Befragung: Technik, bei der selbst berichtete Einstellungen oder Verhaltensweisen von Menschen ermittelt werden; im Allg. bei einer repräsentativen Zufallsstichprobe angewandt. Beobachtung in natürlicher Umgebung (Feldbeobachtung): Beobachten und Erfassen von Verhalten in natürlichen Situationen unter Verzicht auf Manipulation oder Kontrolle der Situation. 22
23 Korrelationsstudie Der Korrelationskoeffizient ist ein statistisches Maß für die Stärke und Dauerhaftigkeit eines Zusammenhangs zwischen zwei Faktoren. Bei einer positiven Korrelation (von größer als 0 bis +1,00) wachsen die beiden Faktoren zusammen an und nehmen zusammen wieder ab. Bei einer negativen Korrelation (von kleiner als 0 bis -1,00) nimmt eine Variable in dem Maße zu, wie die andere abnimmt. Perfekte positive Korrelation: R = 1.0 Kein Zusammenhang: R = 0.0 Perfekte negative Korrelation: R =
24 Fiktives Beispiel (keine echte Daten) Scatterplot (Streudiagramm) Korrelation r =
25 Korrelation ist nicht gleich Kausalität! Eine Korrelation ist ein Hinweis auf einen möglichen Ursache- Wirkungs-Zusammenhang (Kausalität). Eine Korrelation ist kein Beweis für Kausalität oder, wenn Kausalität vorhanden ist, für die Richtung des Einflusses. Ursache für die Korrelation kann ein dritter Faktor sein. 25
26 Experiment Das Experiment ist eine Forschungsmethode, bei der ein oder mehrere Faktoren (unabhängige Variablen) manipuliert werden, um die Auswirkung auf eine Verhaltensweise oder einen mentalen Prozess (abhängige Variable) zu beobachten. Durch Zufallszuweisung der Teilnehmer zu verschiedenen Gruppen (randomisierte Gruppen) können andere wichtige Faktoren kontrolliert werden. Mit einem Experiment kann Kausalität (Ursache- Wirkungs-Zusammenhang) untersucht werden. 26
27 Beispiel für ein Experiment Von der Mutter gestillte Kinder haben einen leicht höheren IQ als Flaschenkinder. Liegt dies an Nährstoffen in der Muttermilch? Experiment mit 424 Frühgeburten, welche im Krankenhaus bleiben mussten. Muttermilch 27
28 Zusammenfassung Forschungsmethoden Forschungsmethode Forschungsziel Praktische Durchführung Mögliches Problem Beschreibung Verhalten beobachten und beschreiben Einzelfallstudien, Befragungen oder Feldbeobachtung Nicht repräsentative Stichprobe, Urteilsfehler bei der Beobachtung Korrelationsstudie Aufdeckung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Faktoren Statistische Berechnung der Zusammenhänge (Korrelation) Macht keine Aussage über Ursache und Wirkung (Kausalität) Experiment Erkundung von Ursache- Wirkungs-Zusammenhängen (Kausalität) Ein oder mehrere Faktoren werden gezielt manipuliert (unabhängige Variablen) Manchmal nicht durchführbar, Ergebnisse nicht immer generalisierbar 28
29 Datenbeschreibung Wenn Ihnen Abbildungen präsentiert werden, lesen Sie die Bezeichnung der Achsen und achten Sie auf den dargestellten Bereich! 29
30 Masse der zentralen Tendenz Median: Teilt die Werte einer Verteilung genau in der Mitte. Eine Hälfte der Werte liegt unterhalb, die andere Hälfte oberhalb des Medianwertes. Modalwert: Der in einer Verteilung am häufigsten auftretende Wert. Mittelwert: Arithmetische Mittel, wird am leichtesten durch einige wenige sehr große oder sehr geringe Werte beeinflusst. => Achten Sie darauf, welches Mass der zentralen Tendenz einem Bericht zugrundeliegt. Handelt es sich dabei um den Mittelwert, dann schauen Sie nach, ob nicht ein paar untypische Werte den Mittelwert verzerren. 30
31 Inferenzstatistik Drei Prinzipien, mit deren Hilfe man über Stichproben hinweg generalisieren kann: - Repräsentative Stichproben (Zufallsziehung) sind besser als verzerrte Stichproben (z.b. Freiwillige aus Bekanntenkreis). - Weniger variierende Beobachtungen sind zuverlässiger als jene, die eine grössere Variation aufweisen. - Mehr Fälle sind besser als wenige. Statistische Signifikanz: Statistische Aussage über die Wahrscheinlichkeit, mit der das Ergebnis einer Untersuchung dem Zufall zuzuschreiben ist. Mehr dazu in Vorlesungen zu Statistik, Experimentalpsychologisches Praktikum und Methodenlehre. 31
32 Kritisches Denken Kritisches Denken ist eine Art zu denken, die Argumente und Schlussfolgerungen nicht einfach blindlings akzeptiert. Stattdessen werden Vorannahmen einer Prüfung unterzogen, Wertvolles wird von Wertlosem unterschieden, Beweise werden auf ihre Richtigkeit hin überprüft und daraus resultierende Schlussfolgerungen erfasst. Folgende Beispiele illustrieren, weshalb kritisches Denken so wichtig ist: - Rückschaufehler (Hindsight Bias) - Übertriebene Selbstsicherheit 32
33 Bild-Zeitung, Juni
34 Wirtschaftsblatt, 13. August 2008 Die Rohstoff-Blase lässt kräftig Luft ab Die Hausse macht Pause bei Rohstoffen folgte auf die Rally seit Oktober 2001 eine der schärfsten Korrekturen in der Geschichte. Das Comeback des US-Dollar macht weitere Preisrückgänge wahrscheinlich. Spekulanten ziehen die Reißleine. Verwunderlich ist das Ausmaß der Korrektur jedenfalls nicht, denn über den Anteil der Finanzspekulation an den haussierenden Preisen seit 2001 ist schon viel gemutmaßt worden. Kursdaten Brent Crude Oil Währung USD 52 Wochen Hoch Wochen Tief
35 Kursverlauf Brent Crude Oil seit 2005 Quelle: 35
36 Rückschaufehler (Hindsight Bias) Tendenz, nach dem Eintreten eines Ereignisses zu glauben, man hätte es vorhersehen können (Verzerrung durch nachträgliche Einsicht). Beispiele: - Nach Abwärtstrends der Börse schreiben Investmentgurus, die Börse sei doch ganz offensichtlich überreif für eine Korrektur gewesen. - Ein Arzt liest einen Autopsiebericht und Informationen über einen Krankheitsfall und schliesst daraus, man hätte die Todesursache leicht vorhersagen können. - Es kommt vor, dass Menschen ein Tageshoroskop lesen und finden, es hätte den Tag tatsächlich vorausgesagt. 36
37 Übertriebene Selbstsicherheit Übertriebene Selbstsicherheit kann im Alltag unsere Urteilsfähigkeit trüben. Beispiel Annagramme: - Serwas Wasser - Tessmy System - Hartox Thorax Wieviel Zeit braucht man für ein einziges Annagramm? - 10 Sekunden - 60 Sekunden - 3 Minuten Test: - Achenfi??? 37
38 Übertriebene Selbstsicherheit Ihr Sound gefällt uns nicht. Gittarengruppen sind nicht mehr gefragt. Erklärung von Decca Records, warum sie mit den Beatles 1962 keinen Plattenvertrag schliessen wollten. Die Computer der Zukunft werden wahrscheinlich nicht einmal eineinhalb Tonnen wiegen. Zeitschrift Popular Mechanics im Jahre Für unsere amerikanischen Vettern mag das Telefon ja eine nützliche Erfindung sein, aber nicht für uns. Wir haben genügend Botenjungen. Urteil einer britischen Expertengruppe über die Erfindung des Telefons im 19. Jhrt. 38
39 Fazit Wir sind oft zu sehr von unseren eigenen Urteilen überzeugt. Dies geht zum Teil auf unsere Tendenz zurück, nach Informationen zu suchen, mit deren Hilfe sich unsere Urteile als richtig erweisen. Die Psychologie als Wissenschaft mit ihren Methoden schränkt die Irrtumsmöglichkeiten ein, indem sie uns die Grenzen der Intuition und des gesunden Menschenverstands überschreiten lässt. Viel Spass beim kritischen Denken mit der Psychologie als Wissenschaft! 39
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