Medizinische und ethische Probleme beim Sterben mit Demenz
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- Götz Kramer
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1 Medizinische und ethische Probleme beim Sterben mit Demenz c Zürcher Geriatrieforum Waid, 15. September 2017 PD Dr. med. Georg Bosshard Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin spez. Geriatrie Privatdozent für Klinische Ethik der Universität Zürich Leitender Arzt Long-term Care, Klinik für Geriatrie, UniversitätsSpital Zürich Zentrumsarzt Alterszentrum Bruggwiesen, Effretikon georg.bosshard@usz.ch Foto aus dem Buch Ich bin bin ich? des Berner Fotografen Rob Lewis, Stämpfli Verlag, Bern
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4 Man kann von der Betreuung schwerstkranker dementer Hochbetagter süchtig werden. Marina Kojer Zitiert nach: Borasio GD. Vorwort zu: Kojer M, Schmidl M (2016) Demenz und Palliative Geriatrie in der Praxis. Springer Verlag, Wien Funktionsfähigkeit des Organismus Plötzlicher Tod Funktionsfähigkeit des Organismus Krebserkrankungen Tod Tod Zeit Zeit Funktionsfähigkeit des Organismus Organschwäche (Herz, Lunge, Niere) Tod Funktionsfähigkeit des Organismus Demenz Tod Zeit Zeit 4
5 An Krebs zu sterben ist der beste Tod Ein plötzlicher Tod mag für die betroffene Person selber gut sein, aber für Angehörige kann er sehr hart sein, besonders wenn eine wichtige Beziehungen in verletztem und unversöhntem Zustand zurückgelassen wird. Der langsam fortschreitende Tod durch Demenz ist vielleicht der schrecklichste, der Mensch wird nach und nach ausgelöscht. Aber immerhin, wenn der Tod dann eintritt, ist es oft nur noch ein wie ein leichter Kuss. Der Tod durch Organversagen Herz, Lunge, Nieren ist mit viel zu vielen Spitalaufenthalten und einer grossen Abhängigkeit von Ärzten verbunden. Darum ist der Krebstod der beste Tod. Man kann sich von seinen Liebsten verabschieden, nochmals über sein Leben nachdenken, man kann vielleicht nochmals diejenigen Orte besuchen, die einem wichtig sind, seine Lieblingsmusik hören oder seine Lieblingsgedichte lesen. Und man kann sich, in Übereinstimmung mit dem eigenen Glauben, auf die Begegnung mit seinem Schöpfer oder auf das ewige Vergessen vorbereiten. Aber man halte sich bitte fern von überambitionierten Onkologen, und lasst uns doch endlich damit aufhören, Milliarden zu verschwenden in der Hoffnung, Krebs zu heilen, was vielleicht nur dazu führt, dass wir danach einen sehr viel schlimmeren Tod sterben müssen. Richard Smith. Dying of cancer is the best death. BMJ blog, 31. Dezember (Übersetzung GB) Advance Care Planning Patienten mit Demenz sollen auf das Erstellen einer Patientenverfügung (PV) angesprochen werden. Immer wichtig ist eine vorausschauende Betreuungsplanung (Advance Care Planning). Advance Care Planning geht eher von einem kontinuierlichen Entscheidungsprozess als von einer punktuelle Festlegung wie in der Patientenverfügung aus. ACP ist damit flexibler gegenüber sich ändernden Behandlungspräferenzen als die Patientenverfügung. Advance Care Planning setzt eher auf einen Dialog zwischen Patienten, Angehörigen, Arzt und Betreuungsteam als auf einseitige Verordnungen von Patientenseite. Letztere erweisen sich in der Realität oft als zu unspezifisch, unklar oder unrealistisch. Ist ein Patient nicht mehr urteilsfähig, kann keine Patientenverfügung mehr erstellt werden. Im Rahmen des Advance Care Planning können jedoch zusammen mit den Vertretungspersonen Behandlungspläne inkl. Notfallplanung ausgearbeitet werden. 5
6 Lebensend-Verlauf der Demenz Prospektive Studie über 18 Monate mit 323 >60-jährigen Pflegeheimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz: CPS Stufe 5 oder 6 (entspricht MMS 5 Punkten), GDS Stufe 7 (Familienmitglieder nicht mehr erkannt, minimale verbale Kommunikation, vollständige Pflegebedürftigkeit, Stuhlund Urininkontinenz, Unfähigkeit ohne fremde Hilfe zu gehen). Resultate: 6-Monate-Mortalität 25%, mittleres Überleben 1.3 Jahre. Die meisten Todesfälle waren unabhängig von kardialen Ereignissen (z. B. Herzinfarkt), Dekompensation einer Herzinsuffizienz oder dem Endstadium einer Krebserkrankung. 86% der Untersuchten im Beobachtungszeitraum hatten Probleme mit der Ernährung, 50% hatten mindestens 1x eine Pneumonie. Diese Ereignisse waren mit einer zusätzlichen Erhöhung der Mortalität verbunden. Schlussfolgerung: Dementia is a terminal illness. Ernährungsprobleme und Infekte sind Komplikationen der todesursächlich verantwortlichen Grundkrankheit Demenz (vergleichbar einem metastasierenden Krebsleiden oder einer Herzinsuffizienz Stadium IV). Mitchell SL et al (2009) The clinical course of advanced dementia. N Engl J Med 361: Wie können unnötige / schädliche Hospitalisationen aus Pflegeheimen verhindert werden? Protektive Faktoren: Vorhandensein eines Heimarztes (1) Fähigkeit des Pflegepersonals, akute Veränderungen im Gesundheitszustand der Patienten wahrzunehmen und zu reagieren (1) Fähigkeit des Pflegepersonals, zielgerichtete mit Ärzten kommunizieren zu können (2) (1) Ouslander JG, Lamb G, Perloe M, et al. Potentially Avoidable Hospitalizations of NursingHome Residents: Frequency, Causes, and Costs. J Am Geriatr Soc 2010;58: (2) Young Y et al (2010) Factors Associated with Potentially Preventable Hospitalization in Nursing Home Residents in New York State: A Survey of Directors of Nursing. J Am Geriatr Soc 2010;58:
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10 Die Freiheit, unvernünftige Entscheidungen zu treffen... Die Freiheit, unvernünftige Entscheidungen zu treffen... 10
11 Fallvorstellung Herr E.S 89 Jähriger Bewohner Christian Lauener Leiter Betreuung und Pflege Alterszentrum Wildbach Alterszenten der Stadt Zürich Herr E.S. v 89 Jähriger Bewohner mit dementieller Entwicklung seit 8 Jahren v Lebt seit 5 Jahren im Alterszentrum v verwitwet v Tochter kommt fast täglich zu Besuch, sie hat ihn schon zu Hause betreut v Sohn besucht Vater seit Wochen wieder regelmässig, vorher über mehrere Jahre keinen Kontakt mehr 11
12 Medizinische Situation v Demenz vom Alzheimertyp, Mischform wahrscheinlich v Multiples Myelom v Gewicht bei Eintritt: 70Kg BMI 24.8 v Gewicht bei Fallbearbeitung: 45kg BMI16 v Nahrungsaufnahme deckt nicht mehr den benötigen Grundumsatz v MMS: zum Zeitpunkt der Fallbearbeitung nicht mehr durchführbar v Medikamente: Paracetamol Pflegebedürftigkeit v Bettlägerigkeit, tägliche Mobilisation für wenige Stunden v Fortgeschrittene Kontrakturen v Somnolenz, immer wieder wache Phasen v Sprechen meist nicht zielgerichtet, manchmal einzelne Wörter oder «gebetsartige Abfolgen» v Kontaktaufnahme durch Berührung und bei bekannten Stimmen möglich (Reaktionen vor allem bei Pflegenden vorhanden) v Essen (in Brei-Form) und trinken (eingedickt) wird in wachen Phasen (über 24h) immer wieder angeboten (eingeben) v Manchmal nimmt er kleine Mengen Nahrung und Flüssigkeit zu sich, öffnet Mund wenn der Löffel ins Gesichtsfeld kommt v Manchmal dreht er den Kopf zur Seite und hält den Mund geschlossen v Ablehnung der Nahrung wird von den Pflegenden akzeptiert 12
13 Patientenverfügung vorhanden v Rea Nein, Verzicht auf Lebensverlängernde Massnahmen v Konsequenter Verzicht auf Antibiose bei Pneumonie - Verzicht auf Spitalverlegungen ohne erkennbaren Nutzen für die Lebensqualität - keine PEG- wurde schon sehr früh besprochen v In einem früheren Gespräch mit dem Hausarzt äusserte Herr E.S. bedenken/angst Bettlägerig zu werden Familiengespräch v Sohn fordert das einstellen der Nahrungseingabe v Sichtweise des Sohnes: - Alterszentrum lässt Vater schrittweise verhungern - Sohn ist sich sicher, dass dies der Vater nicht gewollt hätte, äussert grosse Mühe den Vater so zu sehen v Sichtweise der Pflegenden: - Nehmen war, dass Herr E.S. in wachen Phasen zugänglich und zufrieden wirkt, gerne isst und durch geschlossenen Mund signalisiert, wenn er nicht essen möchte v Sichtweise der Tochter: - äussert Bedenken bezüglich Haltung des Bruders, stellt Lebensqualität in den Vordergrund der Entscheidung 13
14 Und nun? Ethische Kontroverse v Klinisch-ethische Fallbesprechung mit beiden Kindern, PD Dr. med. Georg Bosshard, Zentrumsleiter, Vertreter aus dem Team, Leiter Betreuung und Pflege v Pflegeteam und Zentrumsleitung bleiben dabei, dass das vom Sohn geforderte einstellen von Nahrung und Flüssigkeit kaum dem mutmasslichen Willen des Bewohners entspricht, dass es dem Fürsorge- und dem Nichtschadensprinzip widerspricht und nicht mit den pflegerischen Grundsätzen des Zentrums vereinbar ist v Sohn bleibt der Ansicht, dass das Anbieten der von Nahrung und Flüssigkeit nicht dem mutmasslichen Willen seines Vaters entspricht v Sohn kann aber die Haltung des Alterszentrums dennoch akzeptieren und spricht diesem sein Vertrauen aus 14
15 In der Praxis v Essen wurde weiterhin eingegeben, wenn Herr E.S wach war v Flüssigkeiten wurden nicht mehr eingedickt v Palliative Care v Sohn und Tochter kamen häufig und regelmässig zu Besuch, Situation wirkte entspannt v Exitus nach 3 ½ Monaten Grenzen der Patientenverfügung In einer Patientenverfügung kommt dem Patienten ein weit gehendes Abwehrrecht gegenüber nicht erwünschten medizinischen Massnahmen zu. ABER: Gewisse elementare Massnahmen der Betreuung können in einer PV nicht verbindlich zurückgewiesen werden. Es kann nicht in einer PV eingefordert werden, dass bei schwerer Demenz keine Nahrung und Flüssigkeit mehr angeboten werden sollte, um zu verhungern oder zu verdursten. Es kann nicht in einer PV eingefordert werden, dass sämtliche Betreuungsmassnahmen eingestellt werden sollten mit dem Ziel, an den Folgen des Betreuungsmangels zu sterben (z.b. durch Erfrieren). Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Medizinischethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz (Vernehmlassungsversion, Mai 2017) 15
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