4. Mittelrhein-Intensivpflegetag Koblenz 09.10.2009 Das posteriore reversible Enzephalopathiesyndrom: Eine seltene Erkrankung auf der Intensivstation, oder? Dr. med. Ralph Werner Neurologische Klinik/Stroke Unit Katholisches Klinikum Koblenz
Kasuistik 1-1 Frau (69), bekannte arterielle Hypertonie während Narkoseeinleitung (OP wg. mediastinaler Raumforderung) zunächst hypertensive Entgleisung, dann Sprachstörung und Hemiparese rechts einige Stunden später auf ITV Grand mal-status, mit Benzodiazepinen, Valproat und Phenytoin nicht zu durchbrechen Analgosedierung mit Propofol und Remifentanil, Intubation und Beatmung kurze Asystolie, mechanische Reanimation Liquor: 6 Zellen/µl, Eiweiß 3138 mg/l (massive Blut-Hirn- Schrankenstörung), kein Anhalt für (Meningo-) Enzephalitis
Kasuistik 1-2 MRT (DWI)
Kasuistik 1-3 MRT (FLAIR)
Kasuistik 1-4 nach 4 Tagen Extubation, klinisch Hemiparese rechts und kortikale Amaurosis mit Anosognosie für die Blindheit (Anton-Syndrom) im EEG epilepsietypische Potenziale uns schwere Allgemeinveränderung, unter Phenytoin und Levetiracetam keine Anfälle mehr aber akute organische Psychose mit Agitation, Verfolgungs- und Vergiftungswahn; nach Absetzen von Levetiracetam und Behandlung mit Diazepam und Neuroleptika reversibel rasche Rückbildung der Hemiparese, anhaltendes Anton- Syndrom, allenfalls Hell-Dunkel-Unterscheidung möglich nach 2 Wochen Verlegung zur neurologischen Reha
Kasuistik 2-1 Mann (72), bekannte arterielle Hypertonie Ponsblutung unter Antikoagulation wg. paroxysmaler Tachykardien DSA zum Ausschluss einer Gefäßmalformation als Blutungsquelle unmittelbar nach der bis dahin komplikationslosen Untersuchung kompletter Visusverlust (kortikale Blindheit), okzipitale Kopfschmerzen, leichtes organisches Psychosyndrom mit Desorientiertheit und Affektlabilität
Kasuistik 2-2 CT: diffuse Hyperintensität in den infra-und supratentoriellen posterioren Hirnanteilen (beidseitiges ACP-Stromgebiet inkl. beider Thalami), a. e. parenchymatöse KM-Einlagerung bei normalem Duplexsonographiebefund, insbesondere beider ACP: V. a. passagere endotheliale Dysfunktion mit konsekutiver Störung der Blut-Hirn-Schranke, vermutlich durch DSA ausgelöst unter 3-tägiger Dexamethasonbehandlung komplette Rückbildung der Visusstörung und des Psychosyndroms, Kopfschmerzen besserten sich gut auf Paracetamol i.v.
Kasuistik 2-3 CT (nativ)
Kasuistik 3-1 Frau (25), Präeklampsie mit arteriellem Hypertonus und Proteinurie 2 Tage nach Geburt einer gesunden Tochter plötzliches Gyrus angularis-syndrom (Gerstmann-Syndrom) mit Sprach-, Schreib-, Lese- und Rechenstörung, Rechts-Links- Störung und Fingeragnosie sowie bifrontale Kopfschmerzen transkranieller Duplex: bds. M1-Stenosen Verdachtsdiagnose: postpartale Angiopathie mit konsekutiver Mediaischämie Labor: Antiphospholid-Syndrom mit Nachweis des Lupus Antikoagulans und leicht verlängerter PTT (Risikofaktor für Präeklampsie)
Kasuistik 3-2
Kasuistik 3-3 MRT (DWI/ADC/FLAIR)
Kasuistik 4-1 Mann (24), während Rückfahrt vom Krafttraining zunächst Unwohlsein, stellt PKW am Straßenrand ab und ruft telefonisch Hilfe bei Eintreffen des Notarztes zunächst noch orientiert, dann zunehmend unruhig und unkooperativ, undeutliche Sprache wegen rascher Zunahme des Psychosyndroms starke Sedierung und Intubation erforderlich, Aufnahme auf ITV Rhabdomyolyse mit CK -Anstieg auf über 9000 U/l nach Extubation Klage über kompletten Visusuverlust
Kasuistik 4-2 CT: V. a. mäßiges Hirnödem EEG: schwere AV
Kasuistik 4-3 labormedizinisch Hinweise auf eine Koproporphyrie akute Exazerbation evtl. durch körperliche Anstrengung beim Training und Einnahme eines hormonhaltigen Eiweißpräparats (zum Muskelaufbau) getriggert rasche, vollständige Erholung
4 völlig verschiedene Fälle 1 arterielle Hypertonie Narkoseeinleitung DSA, KM hypertensive Entgleisung kortikale Blindheit Sprachstörung 2 Kopfschmerzen Hemiparese Psychosyndrom Grand mal-status CT-Befund pathologisches EEG Schrankenstörung Blut-Hirn-Schrankenstörung rasche Remission kortikale Amaurosis akute Psychose Präeklampsie mit Krafttraining Hypertonie pathologisches MRT Psychosyndrom Gyrus angularis- Syndrom Kopfschmerzen 3 Kopfschmerzen pathologisches CT Antiphospholid-Syndrom pathologisches EEG 4 pathologisches MRT Rhabdomyolyse gute Erholung Visusverlust Hormon-/Eiweißpräparat (Kopro)Porphyrie Remission
oder doch nicht? kortikale Blindheit 3/4 arterielle Hypertonie/hypertensive Entgleisung 3/4 Kopfschmerzen 3/4 Psychosyndrom 3/4 fokale Defizite (Sprachstörung, Hemiparese) 3/4 typischer CT-/MRT-Befund 3/4 rasche Remission, gute Erholung 3/4 Blut-Hirn-Schrankenstörung 2/4 Krampfanfälle, pathologisches EEG 2/4 Trigger? (Narkose, DSA/KM, Eklampsie, APLS, Krafttraining, Rhabdomyolyse, Porphyrie, Hormon-Eiweiß-Präparat?)
Das posteriore reversible Enzephalopathiesyndrom (PRES)
Begriff reversibles posteriores Leukenzephalopathiesyndrom (RPLS) erstmals 1996 verwendet (Serie von 15 Patienten mit reversiblem Syndrom)* akuter/subakuter Beginn, Kopfschmerzen, Sehstörungen (Verschwommensehen, visuelle Halluzinationen, visueller Neglekt, Hemianopsie, kortikale Blindheit), epileptische Anfälle und neuropsychologische Auffälligkeiten in der Bildgebung bilateral symmetrische, parietookzipital betonte leukenzephalopathische Veränderungen in der Folge weitere Fallbeschreibungen mit Schwerpunkt auf bildgebenden Untersuchungen unter verschiedenen Bezeichnungen irgendwann fiel die Ähnlichkeit mit Beschreibungen der hypertensiven Enzephalopathie und der Eklampsie auf *Hinchey et al. A reversible posterior leukoencephalopathy syndrome. NEJM 1996; 334:494 500
PRES posteriores reversibles Enzephalopathie- Syndrom
Pathophysiologie 1 viele verschiedene Auslöser, gemeinsame pathophysiologische Endstrecke: Endotheldysfunktion mit Schädigung der Blut-Hirn-Schranke und extrazellulärer Akkumulation von Zellen und Plasma (vasogenes Ödem) Ursache der Endotheldysfunktion: zytotoxische Wirkung verschiedener Stoffwechsel-/Wirkstoffmetabolite oder akuter, zerebrale Autoregulationsfähigkeit übersteigender RR-Anstieg ab RR >160/100 mmhg bei Hypertonikern aufgrund adaptiver Vorgänge erst um 220/110 mmhg
Pathophysiologie 2 prinzipiell können alle Regionen des Gehirns betroffen sein durch geringere sympathikotone Gefäßinnervation in der hinteren Strombahn Fähigkeit zur Autoregulation dort vermindert, daher dort früheres und schwereres vasogenes Ödem nicht immer nur weiße Substanz betroffen, diese allerdings weniger dicht gepackt als der Kortex, dadurch tritt Schrankenstörung dort früher und schwerer auf vasogenes Ödem prinzipiell komplett reversibel bei starker Ausprägung jedoch durch erhöhten interstitiellen Druck Störung der Mikrozirkulation und als Folge zytotoxisches Ödem mit irreversiblen ischämischen Läsionen
Ursachen häufigste Ursache: hypertensive Enzephalopathie bei Eklampsie zusätzliche Endotheldysfunktion durch zytotoxische trophoblastische Faktoren aus dem minderperfundierten fetalen Plazentaanteil bei Nierenerkrankungen neben Hypertonie auch Elektrolytverschiebungen (Hyponatriämie, -magnesiämie) sowie Akkumulation zytotoxischer Stoffwechselprodukte Chemotherapeutika/Immunsuppressiva: vasogenes Ödem durch direkt zytotoxische Wirkung (unter therapeutischen Spiegeln, auch nach längerer komplikationsloser Einnahme)
Bildgebung 1 MRT: in T2/FLAIR meist bilateral symmetrische, parietookzipital betonte Signalsteigerungen, in schweren Fällen auch die vordere Strombahn betroffen, in 56% der Fälle Kleinhirn, Hirnstamm und Thalamus; in 94% Mitbeteiligung des Kortex DWI nicht immer wegweisend, Läsionen können durch T2- Effekt sowohl hypo-/iso- als auch hyperintens erscheinen, ADC-Wert ermöglicht Unterscheidung von reversiblem vasogenem und irreversiblem zytotoxischem Ödem vasogenes Ödem: Diffusibilität und somit ADC erhöht zytotoxisches Ödem: Diffusionsrestriktion, ADC erniedrigt
Bildgebung 2 durch Störung der Blut-Hirn-Schranke girlandenförmige KM- Aufnahme der Gyri möglich MR-Spektroskopie: erhöhte Laktatwerte bei normalen N- Acetyl-Aspartat-Werten (gestörter neuronaler Stoffwechsel ohne Neuronenuntergang) SPECT: erhöhte Perfusion infolge gestörter zerebrovaskulärer Autoregulation
Therapie zügige und konsequente Therapie prognostisch entscheidend in Abhängigkeit von der Ursache entweder Senkung des Blutdruckes oder Absetzen der verantwortlichen Medikation diastolischer Blutdruck sollte auf Werte <100 mmhg, MAP innerhalb von 1 2 h um 20 25% reduziert werden bei epileptischen Anfällen antikonvulsive Medikation bis zur vollständigen Rückbildung der MRT-Veränderungen empfohlen, dauerhafte Therapie meist nicht erforderlich Dosisreduktion (wenn möglich Absetzen) von Immunsuppressiva bzw. zytotoxischen Medikamente Eklampsie: sobald wie möglich Entbindung
Fazit für die Praxis alte Bezeichnung reversible posteriore Leukenzephalopathie missverständlich, da Syndrom weder auf die hintere Strombahn noch auf die weiße Substanz beschränkt besser: posteriores reversibles Enzephalopathie- Syndrom (PRES) nicht in allen Fällen vollständig reversibel, auch wenn sich initiales vasogenes Ödem prinzipiell komplett zurückbildet Prognose hängt davon ab, ob an die Diagnose gedacht wird, gerade bei atypischer Lokalisation der Läsionen im MRT (z. B. Beteiligung des Anterior- und Mediastromgebietes, Kleinhirn, Hirnstamm, Thalamus oder Kortex) Übergang in irreversibles zytotoxisches Ödem kann durch Einleitung einer konsequenten Therapie verhindert werden