Deutsches und Europäisches Patentrecht

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Transkript:

Tobias Stammberger, Wolfgang Lippich Deutsches und Europäisches Patentrecht Fachanwaltslehrgang für Gewerblichen Rechtsschutz, Kurseinheit 1 Stand: 2016

Inhalt Lernziel... 9 A. Deutsches und Europäisches Patentrecht... 11 I. Einführung... 11 1. Wozu ein Patentsystem?... 11 2. Geschichtliche Entwicklung... 13 II. Schutzgegenstand... 15 1. Die Erfindung Lehre zum technischen Handeln... 15 2. Ausnahmen von der Patentierbarkeit... 17 a) Katalog von Nicht-Erfindungen als solche... 17 b) Gute Sitten, Pflanzensorten und Tierrassen... 18 c) Chirurgische, therapeutische und Diagnostizierverfahren... 19 III. Gegenstand der Erfindung... 19 1. Wechselspiel Erfindungsgegenstand Schutzbereich... 19 2. Patentansprüche... 21 3. Aufbau und Inhalt einer Patentanmeldung... 22 4. Anspruchskategorien... 23 a) Erzeugnisanspruch... 23 b) Verfahrensanspruch... 24 IV. Schutzvoraussetzungen... 25 1. Neuheit... 25 a) Maßgeblicher Zeitpunkt Prioritätsrecht... 25 b) Stand der Technik... 27 c) Neuheitsprüfung... 29 aa) Einzelvergleich der Dokumente... 29 bb) Offenbarungsgehalt eines Dokuments... 30 5

Die Autoren: Nach dem Studium der Physik an der TU München und an der Universität von Bordeaux erhielt Dr. Tobias K. W. Stammberger den Doktortitel der LMU München. Er ist Deutscher Patentanwalt, Euro päischer Patentanwalt und Europäischer Marken- und Designanwalt und Partner einer Patentanwaltskanzlei in München. Länderübergreifende Patentverletzungsverfahren gehören ebenso zu seinem Arbeitsgebiet wie die Durchführung der Verfahren vor den nationalen und europäischen Patent- und Markenämtern. Seine Mandanten sind überwiegend internationale Großkonzerne und deutsche mittelständische Firmen der Mobilfunktechnik, Medizintechnik und Nachrichtentechnik. Vor seiner Tätigkeit als Patentanwalt war der Autor bei der Siemens AG in den Bereichen Medizintechnik, Kraftwerkstechnik und Verkehrstechnik u. a. an den Standorten San Francisco (USA) und Orlando (USA) tätig. Zudem ist der Verfasser Autor von über 40 internationalen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen. Nach seinem Studium der Physik an der Universität München und in Genf promovierte Dr. Wolfgang Lippich am Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik, CERN, in Genf. Er ist Deutscher Patentanwalt und Europäischer Patent-, Marken- und Designanwalt und Partner einer Patentanwaltskanzlei in München. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen in den Gebieten Maschinenbau (z. B. Hybridantriebe, Windkraftanlagen), Elektrotechnik (z. B. elektronische Schaltungen, elektrische Antriebe, Hochspannungstechnik), Telekommunikation und Informatik. Der Autor ist Mitglied der GRUR, der Deutschen Physikalischen Gesellschaft und der Gesellschaft für Informatik. HWV HAGENER WISSENSCHAFTSVERLAG, FORSCHUNGSINSTITUT FÜR RECHTLICHES INFORMATIONSMANAGEMENT GMBH, Universitätsstraße 21, 58084 Hagen E-Mail: kontakt@hwv-verlag.de, Internet: www.hwv-verlag.de Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

d) Ältere Anmeldungen... 31 e) Neuheitsschonfrist... 33 f) Medizinische Indikation... 33 2. Erfinderische Tätigkeit... 35 a) Stand der Technik für erfinderische Tätigkeit... 36 b) Fachmann... 37 c) Naheliegen... 38 aa) Prüfungsmethoden Aufgabe-Lösungs-Ansatz... 39 bb) Anhaltspunkte und Beweisanzeichen für erfinderische Tätigkeit... 41 3. Gewerbliche Anwendbarkeit... 42 V. Wege zum Patent... 42 1. Territorialitätsprinzip... 42 2. Deutsches Patent PVÜ Prioritätsrecht... 43 3. Internationale Patentanmeldung PCT... 44 4. Europäisches Patent EPÜ... 45 VI. Patenterteilungsverfahren... 46 1. Anmeldetag... 46 2. Fremdsprachige Anmeldungen... 47 3. Vorprüfung... 48 4. Veröffentlichung... 49 5. Recherche... 49 6. Prüfungsverfahren... 50 7. Entscheidung... 53 a) Erteilung... 53 b) Zurückweisung... 53 VII. Einspruchsverfahren... 53 1. Einspruchsgründe... 54 a) Mangelnde Patentfähigkeit (lack of patentability)... 54 b) Unzureichende Offenbarung (insufficiency of disclosure)... 54 c) Unzulässige Änderung (inadmissible extension)... 55 6

d) Widerrechtliche Entnahme (unlawful deprivation)... 56 2. Gang des Verfahrens... 58 VIII. Rechtsmittelverfahren... 59 1. Beschwerde... 60 a) Bundespatentgericht und Beschwerdekammern... 60 b) Verfahren... 60 aa) Umfang der Überprüfung... 61 bb) Entscheidung... 62 2. Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof... 62 3. Große Beschwerdekammer des EPA... 63 IX. Nichtigkeitsverfahren... 64 1. Erstinstanzliches Verfahren vor dem BPatG... 64 2. Berufungsverfahren vor dem Bundesgerichtshof... 67 X. Erlöschen des Patents... 68 1. Beschränkungs- und Widerrufsverfahren... 69 B. Gebrauchsmusterrecht... 70 I. Was ist ein Gebrauchsmuster?... 70 II. Eintragung ohne Sachprüfung... 71 III. Nachteile gegenüber dem Patent... 72 IV. Vorzüge gegenüber dem Patent... 73 C. Halbleiterschutz... 75 D. Sortenschutzrecht... 76 E. Exkurs: Softwareschutz durch Patent und Gebrauchsmuster... 78 Weiterführende Literatur... 86 Sonstige Quellen... 87 7

Lernziel Der erste Teil dieses Buches befasst sich mit dem Patentrecht. Das deutsche (PatG) und europäische (EPÜ) Patentrecht stimmt materiellrechtlich und verfahrensrechtlich weitgehend überein. Deshalb behandeln wir sie gemeinsam und weisen, wo notwendig, auf Unterschiede hin. In materiellrechtlicher Hinsicht erläutern wir die dem Patentschutz grundsätzlich zugänglichen Schutzgegenstände und die Rolle der Patentansprüche zur Definition des Erfindungsgegenstands. Von den Schutzvoraussetzungen des Erfindungsgegenstands vertiefen wir die beiden wichtigsten, das Erfordernis der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit. In verfahrensrechtlicher Hinsicht verfolgen wir den Gang einer Erfindung durch das Prüfungsverfahren vor dem deutschen (DPMA) bzw. europäischen (EPA) Patentamt von der Einreichung der Anmeldung zur Patenterteilung sowie durch ein sich ggf. anschließendes zweiseitiges Einspruchsverfahren. Mit der Beschwerde zum Bundespatentgericht (BPatG) bzw. zu den Beschwerdekammern des EPA stellen wir die Rechtsmittel dar, mit denen die Entscheidungen aus dem Erteilungs- und Einspruchsverfahren angefochten werden können. Außerdem schildern wir die Grundzüge des Nichtigkeitsverfahrens vor dem BPatG und der Berufung vor dem BGH. Schließlich werden Strategien skizziert, mit denen international Patentschutz erlangt werden kann. Der zweite Teil des Buches geht auf das Gebrauchsmuster ein, und zwar insbesondere auf die Unterschiede zum großen Bruder Patent. In den letzten Teilen behandeln wir kurz den Sorten- und Halbleiterschutz und ausführlicher in einem Exkurs den Softwareschutz durch Patent und Gebrauchsmuster. Nach der Lektüre sollten Sie zu folgenden Fragen Stellung nehmen können: Welche Gegenstände sind grundsätzlich dem Patentschutz zugänglich? Wie ist der grundsätzliche Aufbau einer Patentanmeldung und welche Funktion spielen dabei die Patentansprüche? 9

Was gehört zum Stand der Technik, was nicht? Was versteht man unter Offenbarung und wo spielt sie eine Rolle? Unter welchen materiellen Voraussetzungen ist eine Priorität wirksam beansprucht? Was sind die Kriterien bei der Prüfung der Erfinderischen Tätigkeit? Wie wird dabei vorgegangen? Wie unterscheidet sie sich von der Prüfung auf Neuheit? Welche Möglichkeiten hat der Anmelder, seine Erfindung international schützen zu lassen? Welche Verfahrensgrundsätze prägen die Verfahren vor dem DPMA, EPA und BPatG und wie wirken sie sich aus? Mit welchen Gründen kann ein Patent im Einspruchs- bzw. Nichtigkeitsverfahren angegriffen werde? Wann entfallen die Wirkungen des Patents ex nunc, wann ex tunc? Was sind die Vor- und Nachteile des Gebrauchsmusters gegenüber dem Patent? Wann sind Softwareerfindungen patentierbar? 10

A. Deutsches und Europäisches Patentrecht I. Einführung 1. Wozu ein Patentsystem? I never did anything worth doing by accident, nor did any of my inventions come by accident, they came by work. Thomas A. Edison (*1847, 1931), der Erfinder der Glühbirne und Inhaber von 1.093 Patenten, bringt auf den Punkt, was gerne übersehen wird: technische Erfindungen werden nicht einfach unter der Dusche gemacht, sondern sind in der Regel das Ergebnis einer intensiven Entwicklungsarbeit. Hierfür soll der Erfinder mit einem Patent belohnt werden. Diese Belohnungstheorie ist eine der Begründungen des Patentsystems. Das Patentsystem schafft zunächst künstlich Monopole, die den freien Wettbewerb grundsätzlich behindern und damit nach der reinen marktwirtschaftlichen Lehre die Effizienz einer Marktwirtschaft verringern. 1 Die Idee der Belohnungstheorie ist nun, den Erfindern bzw. den die Erfinder beschäftigenden Unternehmen mit dem Patentsystem die Möglichkeit zu bieten, für die Früchte ihrer technischen Entwicklungsarbeit, also für ihre Erfindungen, ein (auf 20 Jahre) zeitlich und im Übrigen auf das jeweilige Anmeldeland auch räumlich begrenztes Monopolrecht in Form eines Patents zu erhalten. Dies schafft einen Anreiz, kreativ tätig zu werden und hierfür in Forschung und Entwicklung zu investieren, und fördert dadurch letztlich den technischen Fortschritt, der als wichtigster Wachstumsfaktor gilt und daher zur Wohlstandsvermehrung einer Volkswirtschaft beiträgt. 2 Der Ansporn besteht also in der Aussicht auf Belohnung durch ein Patent. 3 Man geht allgemein davon aus, ohne es aber tatsächlich verifizieren 1 Paul A. Samuelson et al., Economics, 17. Aufl. 2001, S. 161. 2 Paul A. Samuelson et al., Economics, 17. Aufl. 2001, S. 578 579. 3 Dieser Aspekt der Belohnungstheorie wird auch als Anspornungstheorie bezeichnet. 11

zu können, dass dieser Ansporneffekt insgesamt den oben genannten Effizienz verringernden Effekt überwiegt und unterm Strich das Allgemeinwohl vermehrt. Das Patent ist ein starkes Schutzrecht. Als Ausschlussrecht gibt es seinem Inhaber insbesondere das Recht, jedem Dritten die Benutzung der Erfindung zu verbieten (Unterlassungsanspruch). Daneben treten ggf. Schadensersatzansprüche, Auskunfts- und Rechnungslegungsansprüche, Entschädigungsansprüche, Bereicherungsansprüche, Beseitigungsansprüche und Vernichtungsansprüche. 4 Damit ist das Patent strategisch ein scharfes Schwert. Der Inhaber kann es durch Vergabe von Lizenzen 5 wirtschaftlich verwerten oder selbst mit einem durch das Patent vor Konkurrenz geschützten Produkt auf den Markt kommen. Nach spätestens 20 Jahren wird die Erfindung für jedermann frei nutzbar. Als Ausgleich für diese Rechte muss der Patentinhaber im Gegenzug die Erfindung in der Patentanmeldung so vollständig beschreiben (offenbaren), dass ein Fachmann sie praktisch realisieren (ausführen) kann. Die Patentanmeldung wird dann nach einer Geheimhaltungszeit von 18 Monaten veröffentlicht. Dieses technische Wissen wird somit der Allgemeinheit zugänglich und soll wiederum den technischen Fortschritt fördern. Ohne die Aussicht auf Belohnung durch ein Patent würden die Unternehmen ihr technisches Know-how in der Regel für sich behalten. 6 Belohnt werden soll nur derjenige, der die Fachwelt als erster tatsächlich bereichert und somit zum technischen Fortschritt beiträgt. Bereits Bekanntes oder naheliegende Trivialitäten tragen dazu nichts bei und sollen nicht schutzfähig sein. Patentfähige Erfindungen müssen daher neu und erfinderisch sein. Bei Parallelerfindungen soll der Schnellere belohnt werden; nach dem Grundsatz, wer zuerst (zum Patentamt) kommt, mahlt 4 Die Wirkungen des Patentschutzes behandelt das Buch Patent- und Gebrauchsmusterverletzung. 5 Lizenzvertragsrecht ist Gegenstand des Buches Lizenzvertrags- und Kartellrecht. 6 Diesen Aspekt betont die sog. Offenbarungs- bzw. Vertragstheorie ( Offenbarung der Erfindung gegen zeitlich begrenztes Ausschlussrecht ). Daneben gibt es als Patentrechtstheorie die sog. Eigentumsthorie ( Geistiges Eigentum ist Naturrecht ). 12

zuerst (first-to-file). 7 Dies schafft klare Verhältnisse und fördert den Wettbewerb um Innovationen. Zusammenfassend ergeben sich aus diesen Aspekten und Zusammenhängen zur Belohnungstheorie bereits einige der Grundprinzipien des Patentrechts: Begrenzte Patentlaufzeit 20 Jahre ( 16 PatG; Art. 63 Abs. 1 EPÜ); Veröffentlichung der Patentanmeldung nach 18 Monaten ( 31; 32 PatG; Art. 93 EPÜ); Vollständige Offenbarung der Erfindung, so dass ein Fachmann sie ausführen kann ( 34 Abs. 4; 21 Abs. 1 Nr. 2 PatG; Art. 83; 100 (b) EPÜ); Patentierungsvoraussetzungen: Neuheit und Erfinderische Tätigkeit ( 3, 4, 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG; Art. 54; 56; 100 (a) EPÜ); Der Anmeldetag bestimmt den Zeitrang (First-To-File-Prinzip) ( 35 Abs. 1 PatG; Art. 80 EPÜ i. V. m. Regel 40 AO EPÜ). 2. Geschichtliche Entwicklung Das wohl älteste Patentgesetz der Welt hat der Senat von Venedig 1474 erlassen (Parte Veneziana). Dieses Gesetz hatte nicht nur die Förderung des Allgemeinwohles im Auge, sondern zugleich auch die Wahrung der Rechte des Erfinders und seiner Ehre. Es schrieb auch bereits eine Prüfung auf Neuheit, Nützlichkeit und Ausführbarkeit vor und gab dem Erfinder ohne Unterschied seiner Herkunft für technische Erfindungen einen legalen Anspruch auf einen zehnjährigen Schutz gegen Nachahmung. In England verlieh die Krone etwa ab 1560 Monopole für Erfindungen sowie für deren Einführung (sog. Einführungspatente), die auch für unentbehrliche Lebensmittel und Waren wie Salz, Essig, Segeltuch, Seife, Bürsten, Flaschen, etc. erteilt wurden. Industrie und Handel litten jedoch unter der Willkürlichkeit der Gewährung dieser Privilegien. Mit dem Statute of Monopolies wurde 1624 daraufhin durchgesetzt, dass Patente nur an den ersten Erfinder (the true and first inventor), nur für neue Erfindungen und nur noch für eine Dauer von höchstens 14 Jahren erteilt werden. 7 Eine Ausnahme stellen die USA dar; dort ist das First-To-File-Prinzip von einem sog. First-To-Invent-Prinzip überlagert, welches für alle Anmeldungen bis zum Inkrafttreten des America Invents Act (AIA) im Jahr 2013 gilt. 13

Dieser Statute of Monopolies wurde erst nach über 200 Jahren durch ein weiteres Gesetz von 1852 abgelöst. Frankreich und die Vereinigten Staaten erließen ihre ersten Patentgesetze, die dem Erfinder einen Anspruch auf Patenterteilung gaben, im Jahre 1791 bzw. 1790. In Deutschland gab es vor der Reichsgründung nur in den größeren deutschen Staaten eigene Patentgesetze (jeweils nur mit territorialer Wirkung). Das erste war das Bayerische Patentgesetz von 1791. Nach der Gründung des Deutschen Reichs trat 1877 das erste einheitliche Deutsche Reichspatentgesetz in Kraft. Das Kaiserliche Patentamt, später Reichspatentamt, als zentrale Erteilungsbehörde wurde geschaffen und ging 1949 in das Deutsche Patentamt mit heutigem Sitz in München über. 1961 wurde das Bundespatentgericht (BPatG) ebenfalls in München errichtet. Wesentliche Änderungen erfuhr das Deutsche Patentgesetz in der Nachkriegszeit durch die Anpassung an das Europäische Patentübereinkommen 1976 und an das Gemeinschaftspatentgesetz 1981. Die bedeutendste Vereinbarung auf dem Gebiet des Internationalen Gewerblichen Rechtsschutzes und damit auch des Patentrechts stellt die Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) von 1883 dar, der Deutschland 1903 beitrat. Sie gewährleistet den Grundsatz der Gleichstellung aller Angehörigen der Verbandsländer und stellt die Anerkennung des Prioritätsrechts sicher. Der Vertrag über die Internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (Patent Cooperation Treaty PCT) von 1970 ist für die Bundesrepublik Deutschland 1978 in Kraft getreten und geht insoweit über die PVÜ hinaus, als er über das Prioritätsrecht hinaus auch das Anmeldeverfahren für internationale Patentanmeldungen vereinheitlicht. Das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) von 1973 ist für die Bundesrepublik Deutschland 1977 in Kraft getreten. Es hat für die Vertragsstaaten nicht nur ein gemeinsames Recht für die Anmeldung eines Patents (wie der PCT), sondern darüber hinausgehend auch für die Erteilung eines Europäischen Patents geschaffen; und das Europäische Patentamt (EPA) mit Sitz in München gegründet. Unter der Bezeichnung EPÜ 2000" wurde das EPÜ in einigen Punkten (z.b. Einführung eines Beschränkungs- und Widerrufsverfahrens, Antrag auf Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer) reformiert. Die im Rahmen dieser Reform beschlossenen Änderungen traten am 13. Dezember 2007 in Kraft. Alle drei Verträge können auch gleichzeitig zum Nutzen von Patentanmeldern ange- 14

wendet werden. Im Dezember 2012 erfuhr das Europäische Patentsystem eine bedeutende Änderung durch den Beschluss, ein EU-Patent (Europäisches Patent mit einheitlicher Wirkung) einzuführen. Das EU-Patent soll im Gegensatz zum EP-Patent in allen Staaten der EU einheitlich wirksam und durchsetzbar sein. Für die das Patent betreffenden Streitigkeiten wird ein Patentgericht mit Hauptsitz in Paris und Zweigstellen in London und München geschaffen. 8 II. Schutzgegenstand 1. Die Erfindung Lehre zum technischen Handeln Mit Patenten werden Erfindungen geschützt, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind ( 1 Abs. 1 PatG, Art. 52 Abs. 1 EPÜ). Patentgesetz und EPÜ geben (bewusst) keine Definition des Begriffs Erfindung. Die Rechtsprechung ist sich jedoch einig, dass eine Erfindung nur dann patentfähig ist, wenn sie eine Lehre zum technischen Handeln darstellt, also technischen Charakter besitzt. Zweck des Patentschutzes ist es nämlich, den technischen Fortschritt zu fördern. Der Bundesgerichtshof versucht folgende Definition von Technizität : Technisch ist eine Lehre zum planmäßigen Handeln unter Einsatz beherrschbarer Naturkräfte zur Erreichung eines kausal übersehbaren Erfolgs. 9 Der Technikbegriff ist jedoch nicht statisch, sondern muss sich der technologischen Entwicklung wie etwa der alle Bereiche der klassischen Technik durchdringenden Computerisierung anpassen. So wurde zum Beispiel auf den unmittelbaren Einsatz beherrschbarer Naturkräfte verzichtet und nur verlangt, dass die Erfindung auf technischen Überlegungen beruht. 10 8 Verordnung (EU) Nr. 1257/2012 über die Umsetzung der verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Schaffung eines einheitlichen Patentschutzes vom 17. Dezember 2012; Übereinkommen über ein einheitliches Patentgericht vom 11. Januar 2013. 9 BGH, GRUR 69, 672 Rote Taube. 10 BGH, GRUR 00, 498 Logikverifikation. 15

Kombinationen von technischen und nicht-technischen Merkmalen sind grundsätzlich patentfähig, 11 denn einem technischen Gegenstand kann seine Technizität durch Hinzufügen nicht-technischer Merkmale nicht genommen werden. Beispiel Ein besonders ästhetisch geformter Kotflügel bleibt aufgrund seiner technischen Eigenschaften wie Material und Oberfläche ein (auch) technischer Gegenstand. Wenn die Erfindung in irgendeiner Form ein technisches Mittel betrifft, reicht dies nach der neueren Rechtsprechung des EPA bereits aus. 12 Ob dieses Mittel bereits aus dem Stand der Technik bekannt ist oder nicht, darf bei der Frage der Technizität keine Rolle (mehr) spielen. Dies wird vielmehr nur bei der Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit berücksichtigt. Auch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat die Anforderungen zu Überwindung der Technizitätshürde deutlich herabgesetzt. 13 Die Prüfung der Technizität hat damit an Bedeutung verloren. Die Behandlung nicht-technischer Merkmale wird daher nun in vielen Einzelfällen in die Prüfung der Neuheit/erfinderischen Tätigkeit verlagert. 14 Neben dem technischen Charakter muss nach herrschender Meinung die Erfindung auch realisierbar und wiederholbar sein. Nur wenn die Lehre objektiv realisierbar ist, bereichert sie auch die Technik und führt zu einem konkreten Erfolg, wie es obige Technik-Definition verlangt. Daran fehlt es, wenn die Lehre gegen physikalische Gesetze verstößt oder einen reinen Wunsch darstellt, wie die berühmte Zeitreisemaschine. Man spricht auch vom Fehlen der technischen Brauchbarkeit. Das DPMA hat hierfür eigens eine Abteilung, die sich mit Fällen eines perpetuum mobile befasst. 11 BGH, GRUR 04, 667 Elektronischer Zahlungsverkehr. 12 EPA TBK T 253/03, GRUR Int. 05, 332 Auktionsverfahren/HITACHI. 13 BGH, GRUR 05, 141 Anbieten interaktiver Hilfe; BGH, GRUR 05, 143 Rentabilitätsermittlung; BPatG, GRUR 06, 43, Transaktion im elektronischen Zahlungsverkehr II; BGH, GRUR 10, 613 Dynamische Dokumentengenerierung; BGH, GRUR 15, 1184 Entsperrbild. 14 In der Rechtsprechung des EPA ist diese Verlagerung nahezu vollständig. Siehe Kapitel E, Exkurs: Softwareschutz durch Patent und Gebrauchsmuster. 16

Anmerkung Von diesen Fällen der objektiv fehlenden Möglichkeit der Realisierung der Erfindung ist jedoch das Erfordernis der Ausführbarkeit gemäß 34 Abs. 4 PatG (Art. 83 EPÜ) zu unterscheiden. Letzteres verlangt, dass die Erfindung so deutlich und vollständig offenbart wird, dass ein Fachmann sie ausführen könnte. Dies ist eine Anforderung an die Darstellung der Erfindung in der Patentanmeldung, während das Erfordernis der objektiven Realisierbarkeit die Erfindung als solche betrifft. Die Erfindung muss aber auch realisierbar bleiben, so dass der Erfolg gezielt und nicht nur zufällig jederzeit wiederholbar ist. Mit einem Patent wird ein Erfinder nur belohnt, wenn seine Erfindung auf Dauer die Technik bereichert. 2. Ausnahmen von der Patentierbarkeit a) Katalog von Nicht-Erfindungen als solche 1 Abs. 3, 4 PatG (Art. 52 Abs. 2, 3 EPÜ) enthält einen nicht-abschließenden beispielhaften Katalog von i. A. als nicht-technisch angesehenen Gegenständen, die daher als Nichterfindungen gelten und damit dem Patentschutz nicht zugänglich sind. Einige im Katalog enthaltende Gegenstände können jedoch durchaus technisch sein, so d. h. Programme für Datenverarbeitungsanlagen. Gestützt auf 1 Abs. 4 PatG, wonach die Gegenstände des Katalogs nur als solche als Nicht-Erfindungen gelten, interpretiert die BGH-Rechtsprechung den Katalog so, dass ein dort genannter Gegenstand dann nicht vom Patentschutz ausgeschlossen ist, wenn mit ihm ein konkretes technisches Problem mit technischen Mitteln gelöst wird. 15 Ausgeschlossen sind im Einzelnen: Entdeckungen, wissenschaftliche Theorien, mathematische Methode Beispiele die Relativitätstheorie; ein Verfahren zur numerischen Lösung von Differenzialgleichungen. 15 BGH, GRUR 02, 143 Suche fehlerhafter Zeichenketten; BGH, GRUR 05, 749 Aufzeichnungsträger; BGH, GRUR 10, 613,Dynamische Dokumentengenerierung; siehe auch Kapitel E, Exkurs: Softwareschutz durch Patent und Gebrauchsmuster. 17

Ästhetische Formschöpfungen Beispiele Kotflügel, Gemälde; Skulptur; Stoffmuster. Pläne, Regeln und Verfahren für gedankliche Tätigkeiten oder Spiele Beispiele Wiederholungs-Lernmuster zum besseren Behalten von Latein-Vokabeln; Spielregel für Kartenspiel. Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten (business methods) Beispiele Kundenbindungssystem; Rabattsystem; Werbemaßnahme; Mitarbeitermotivierung. Programme für Datenverarbeitungsanlagen Beispiele Programm zur Steuerung einer Werkzeugmaschine; Betriebssystemprogramm eines Computers; Programm zur Berechnung betriebswirtschaftlicher Kennzahlen. Wiedergabe von Informationen Beispiele Hörbuch; Schallplatte; Verfahren zur Wiedergabe von Fernsehbildern mit hoher Auflösung. Die genannten Gegenstände sind wie bereits oben erwähnt gemäß 1 Abs. 4 PatG jedoch nur dann vom Patentschutz ausgenommen, wenn für sie Schutz als solche begehrt wird, d. h. nach aktueller BGH-Rechtsprechung, wenn mit ihnen kein konkretes technisches Problem mit technischen Mitteln gelöst wird. Demnach wären von den oben genannten Beispielen der Kotflügel, das Programm zur Steuerung einer Werkzeugmaschine, das Betriebssystemprogramm eines Computers und das Verfahren zur Wiedergabe von Fernsehbildern mit hoher Auflösung dem Patentschutz grundsätzlich zugänglich. b) Gute Sitten, Pflanzensorten und Tierrassen Erfindungen, die gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen, sind nach 2 PatG (Art. 53a EPÜ) von der Patentierbarkeit ausgenommen. Darunter fallen u. a. biotechnologische Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen. In diesem Zusammenhang sei auf die Entscheidung G 2/06 16 der Großen Beschwerdekammer des EPA vom November 2008 verwiesen, die für ein beachtliches Medienecho sorgte. Gemäß dieser Entscheidung ist die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse (hier: embryonale Stammzellkulturen) verboten, die aus- 16 EPA GrBK G 2/06, ABl 2009, 306. 18

schließlich durch ein Verfahren hergestellt werden können, das zwangsläufig mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergeht. In der Entscheidung des EuGH vom 18.10.2011 legt dieser den Begriff des menschlichen Embryos, der in der Richtlinie 98/44EG über den Schutz von biotechnologischen Erfindungen enthaltend ist, weit aus. Der EuGH führt aus, dass jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist, und jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, ein menschlicher Embryo sei. Damit ist die Patentierbarkeit von Verfahren, die bereits durch Verbrauch von Embryonen erzeugte Stammzellen verwenden, ebenfalls verboten. 17 Für Pflanzensorten und Tierrassen werden nach 2a Nr. 1 PatG (Art. 53b EPÜ) zwar keine Patente erteilt; Pflanzensorten können aber anders als Tierrassen sog. Sortenschutz erhalten, sofern bestimmte Schutzvoraussetzungen erfüllt sind. 18 c) Chirurgische, therapeutische und Diagnostizierverfahren Schließlich sind chirurgische, therapeutische und Diagnostizierverfahren vom Patentschutz ausgeschlossen ( 2a Abs. 1 Nr. 2 PatG; Art. 53 c) EPÜ). Erfindungen, die ausschließlich aus einem solchen Verfahren bestehen, sind daher nicht patentfähig 19 anders als beispielsweise in den USA. Damit soll verhindert werden, dass die Ausübung des Arztberufes durch Patente eingeschränkt wird. III. Gegenstand der Erfindung 1. Wechselspiel Erfindungsgegenstand Schutzbereich Die Patentansprüche bestimmen zugleich den auf Patentfähigkeit zu prüfenden Gegenstand der Erfindung (subject-matter) ( 1 bis 5, 34 Abs. 3 17 EuGH Urt. v. 18. Oktober 2011 C-34/10, EuZW 2011, 908 Brüstle/Greenpeace 18 Siehe auch Kapitel D, Sortenschutzrecht. 19 EPA GrBK G 1/04, ABl 06, 334 Diagnostizierverfahren; EPA GrBK G 1/07. 19

Nr. 3 PatG; Art. 52 bis 57, 84 EPÜ) wie auch den Schutzbereich des Patents (scope of protection) ( 14 PatG; Art. 69 Abs. 1 EPÜ). Sie sind Drehund Angelpunkt für Erteilung bzw. Rechtsbeständigkeit und Durchsetzung des Patents. In Deutschland wird darüber an unterschiedlichen Gerichten/Behörden entschieden: über Erteilung/Rechtsbeständigkeit am DPMA/EPA bzw. BPatG und über Durchsetzung, d. h. Verletzung des Patents an den Zivilgerichten. Die Rechtswege laufen erst am Bundesgerichtshof vor demselben Spruchkörper zusammen, d. h. in der Nichtigkeitsberufung und der Revision im Verletzungsverfahren. In der Praxis bilden daher die Patentansprüche und deren Auslegung die Schnittstelle zwischen den beiden Rechtswegen und ihren Hauptakteuren, den Rechtsanwälten im Verletzungsverfahren und den Patentanwälten im Rechtsbeständigkeitsverfahren. Für die Auslegung der Patentansprüche gelten in beiden Verfahren die gleichen Grundsätze. 20 Dennoch versucht naturgemäß der Pateninhaber im Rechtsbeständigkeitsverfahren seine Patentansprüche eher eng auszulegen, so dass er gerade noch durch das vom Stand der Technik offen gelassenen Nadelöhr schlüpfen kann, während er diese im Verletzungsverfahren aufbläht und seine Patentansprüche möglichst weitgehend verstanden haben will, so dass das angegriffene Produkt des Konkurrenten unter den Schutzbereich fällt. Damit sind gegenläufige Argumentationen vorprogrammiert. Nur eine gute und enge Zusammenarbeit zwischen Rechts- und Patentanwalt führt hier letztlich zum Erfolg. Durch diese Doppelfunktion der Patentansprüche ist der Lohn einer Erfindung an die erfinderische Leistung gekoppelt: je grundsätzlicher oder bahnbrechender die Erfindung im Lichte des bereits Bekannten (Pioniererfindung), desto umfassender lässt sie sich in den Ansprüchen definieren. Die Ansprüche decken dann einen entsprechend weiten Schutzbereich ab. Umgekehrt zwingt der Stand der Technik kleine Erfindungen auch zu einem entsprechend eng definierten Anspruchsgegenstand und damit zu einem kleinen Schutzbereich. Damit regelt sich das System selbst. 21 Den verbleibenden Spielraum voll auszuschöpfen, ist die Kunst der auf diesem Gebiet spezialisierten Rechts- und Patentanwälte. 20 BGH, GRUR 04, 47 blasenfreie Gummibahn I. 21 Anders als z. B. ein staatlich gesteuertes Förderungs- oder Vergütungssystem. 20

2. Patentansprüche Der Gegenstand der Erfindung ist in den Patentansprüchen beschrieben. Er ist das, was die Erfindung zur Lösung des zugrunde liegenden Problems aus Sicht des Fachmanns tatsächlich, d. h. objektiv leistet. 22 Das Problem selbst gehört nicht zur Erfindung, sondern nur dessen Lösung. Was den Erfinder tatsächlich bewog, die Erfindung zu machen, dessen subjektive Sicht, Kenntnisse und Probleme spielen bei der Bestimmung des Erfindungsgegenstands keine Rolle. Maßgeblich ist nicht der reine Wortlaut, sondern der Wortsinngehalt oder besser technische Bedeutungsgehalt, den der Fachmann mit seinem Fachwissen am Anmelde- bzw. Prioritätstag dem Patentanspruch entnimmt, 23 und zwar im Gesamtzusammenhang aller Merkmale des Anspruchs. 24 Der Patentanspruch ist im Kontext des Patents zu lesen, d. h. immer und nicht nur bei Unklarheiten im Zusammenhang mit den anderen Ansprüchen, der Beschreibung und den Figuren ( 14 PatG; Art. 69 EPÜ). 25 Allerdings dürfen die dort beschriebenen Ausführungsbeispiele nicht zu einer einschränkenden Auslegung herangezogen werden. 26 Die Patentschrift stellt für die von ihr verwendeten Begriffe ihr eigenes Lexikon dar 27 und kann diese gleichsam umdefinieren. Das Verständnis dieser Begriffe im Lichte der Patentschrift, nicht der allgemeine technische Sprachgebrauch, ist maßgebend. Zur Auslegung kann auch der in der Patentschrift angesprochene Stand der Technik herangezogen werden, 28 beispielsweise zur Klärung der Bedeutung bestimmter im Anspruch verwendeter Fachbegriffe, da dieser nicht jedoch der allgemeine Stand der Technik die Formulierung des Anspruchs im Laufe des Erteilungsverfahrens ggf. beeinflusst hat. Ob dies auch für die auf dem Deckblatt des Patents genannten Druckschriften gilt, ist offen. 22 BGH, GRUR 81, 186 Spinnturbine II. 23 BGH, GRUR 89, 205 Schwermetalloxidationskatalysator. 24 BGH, Beschl. v. 29. Juni 2010, X ZR 193/03, Crimpwerkzeug III. 25 BGH, GRUR 89, 903 Batteriekastenschnur. 26 BGH, GRUR 04, 1023 Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung. 27 BGH, GRUR 99, 909 Spannschraube. 28 BGH, GRUR 87, 280 Befestigungsvorrichtung I. 21

Anmerkung zum Unterschied Gegenstand und Schutzbereich: Der Gegenstand bezieht sich auf den Begriffsinhalt eines Anspruchsmerkmals; zu ihm gehört nur das, was dieses Merkmal als solches selbst angibt. Der Schutzbereich bezieht sich auf den Begriffsumfang eines Merkmals und umfasst die Menge aller Gegenstände, die unter den Begriffsinhalt des Merkmals im Sinne eines Oberbegriffs fallen. Beispiel Unter den Schutzbereich des Merkmals Befestigungsmittel fallen u. a. Schrauben, Nägel, Nieten; diese gehören aber nicht zum Gegenstand. 3. Aufbau und Inhalt einer Patentanmeldung Patentanmeldungen bzw. die nach Erteilung veröffentlichten Patentschriften sind nach einem bestimmten Grundschema aufgebaut. Dies zu kennen erleichtert das Lesen und Verstehen des selbst für technisch Vorgebildete oft recht schwer zu verstehenden Inhalts. Auch kommt den einzelnen Abschnitten eine bestimmte rechtliche Bedeutung zu. So kann beispielsweise der Inhalt der einleitenden Darstellung des Standes der Technik in der Regel nicht als Offenbarungsquelle für spätere Anspruchsänderungen herangezogen werden. Einleitend bezeichnet die Patentschrift das technische Gebiet, auf dem die Erfindung angesiedelt ist. Danach schildert sie den dem Anmelder bereits bekannten bzw. den im Prüfungsverfahren vom Patentamt recherchierten und diskutierten Stand der Technik und führt damit auf das der Erfindung zugrundeliegende Problem hin. Das Problem, oft auch als Aufgabe bezeichnet, wird meist explizit genannt. Beim Verfassen einer Patentanmeldung ist darauf zu achten, dass die Aufgabe nicht bereits Elemente der Lösung, also der Erfindung, enthält. Die vom Anmelder in der Patentanmeldung und falls nicht im Laufe des Erteilungsverfahrens angepasst in der Patentschrift angegebene (subjektive) Aufgabe stimmt meist nicht mit der zu bestimmenden objektiven Aufgabe überein, die bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit heranzuziehen ist. 29 Die subjektive Aufgabe kann jedoch ein wichtiges Mittel zur Auslegung des Patentanspruchs bilden. 29 Siehe Aufgabe-Lösungs-Ansatz des EPA in Abschnitt A.IV.2.c.aa. 22

Anschließend wird die Erfindung auf drei Abstraktionsebenen beschrieben. Die allgemeinste und abstrakteste Umschreibung der Erfindung erfolgt in den sog. unabhängigen Ansprüchen (auch Hauptansprüche; independent oder main claims) und in den bevorzugte Ausgestaltungen der Erfindung beschreibenden abhängigen Ansprüchen (dependent claims). Die Ansprüche werden dann auf einer mittleren Abstraktionsebene in der Patentbeschreibung weiter erläutert (summary of the invention), oft unter Angabe der mit der Erfindung gegenüber dem Stand der Technik erzielten Vorteile. Dieser Teil ist sehr wichtig, da er neben den abhängigen Ansprüchen ein geeignetes Offenbarungsreservoir für später gegebenenfalls notwendig werdende Anspruchsbeschränkungen bildet. Vorteile in der Patentschrift sind jedoch eine sehr ambivalente Sache. Einerseits rücken sie die Bedeutung der Erfindung ins rechte Licht und stützen so die erfinderische Tätigkeit und damit die Rechtsbeständigkeit. Andererseits eröffnen sie im Verletzungsverfahren dem Beklagten gegebenenfalls das Verteidigungsargument, seine angegriffene Benutzungsform mache keinen Gebrauch von den Vorteilen und falle daher auch nicht unter deren Schutzbereich. Als niedrigste Abstraktion der Erfindungsbeschreibung schließt sich eine in der Regel auf Figuren Bezug nehmende detaillierte Beschreibung bevorzugter Ausführungsbeispiele (preferred embodiments) zur (konkreten) Realisierung der Erfindung an. 4. Anspruchskategorien Das Patentgesetz unterscheidet grundsätzlich zwei Kategorien von Erfindungen mit unterschiedlichen Schutzwirkungen: Erzeugniserfindungen und Verfahrenserfindungen ( 9 PatG). a) Erzeugnisanspruch Erzeugnisansprüche oder auch Sachansprüche (apparatus claims) sind insbesondere gerichtet auf Vorrichtungen, Stoffe oder Anordnungen, wie beispielsweise Maschinen, chemische Verbindungen oder elektronische Schaltungen. Der Erzeugnisschutz ist umfassend, d. h. er ist insbesondere nicht auf eine spezielle Verwendung der Sache oder einen speziellen Herstellungsweg beschränkt. Weil dies so ist, muss das Erzeugnis auch 23

ohne diese spezielle Verwendung (Zweckangabe) oder diesen speziellen Herstellungsweg patentfähig sein. 30 b) Verfahrensanspruch Verfahrensansprüche (method claims) schützen einen bestimmten Verfahrensablauf. Man kann grob zwischen Herstellungsverfahren mit einem Verfahrenserzeugnis am Ende (Beispiel: Verfahren zur Herstellung von Schwarzpulver) und Arbeitsverfahren (Beispiel: Verfahren zum Übertragen von Sprachdaten über eine Mobilfunkstrecke) unterscheiden. Sog. Verwendungsansprüche sind je nach ihrem Inhalt als Verfahrensansprüche oder Sachansprüche einzuordnen, meist 31 aber als Verfahrensansprüche (Beispiel: Verwendung von Olivenöl als KFZ-Kraftstoff ). Das gleiche gilt für Systemansprüche, die regelmäßig Sachansprüche darstellen (Beispiel: Mobilfunksystem mit einer Basisstation und mehreren Mobilstationen). Das Gebot der Rechtssicherheit bzw. Art. 84 EPÜ verlangt eine klare und deutliche Formulierung der technischen Anspruchsmerkmale. Unklarheit wird aber oft mit breit, d. h. umfassend verwechselt und gerügt. Das Merkmal farbig ist nicht unklar, sondern breit. Breite Anspruchsformulierungen sind nicht nur zulässig, 32 sondern geboten. Aus Sicht der eingangs skizzierten Belohnungstheorie hat der Erfinder als Gegenleistung für seine Bereicherung der Technik das Recht auf einen möglichst umfassenden Schutz seiner Erfindung. Die Grenze bildet der Stand der Technik, und zwar bei der Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit. Der Patentanspruch kann in einen Oberbegriff und ein Kennzeichen aufgeteilt werden, die durch die Formulierung dadurch gekennzeichnet, dass oder ähnliches voneinander getrennt sind ( 9 Abs. 1, 2 PatV; Regel 43 Abs. 1 AO EPÜ). Dem Oberbegriff sind alle Anspruchsmerkmale zugeordnet, die aus einer meist der nächstkommenden Entgegenhaltung bekannt sind, während das Kennzeichen die verbleibenden Merkmale der Erfindung enthält. In der Praxis führt diese zweiteilige Fassung 30 Ausnahme hierzu bildet der zweckgebundene Stoffschutz für Arzneimittel ( erste medizinische Indikation ) nach 3 Abs. 3 PatG (Art. 54 Abs. 5 EPÜ); siehe hierzu Abschnitt A.IV.1.f. 31 Aus der (zu formalistischen) Sicht der EPA-Prüfungsrichtlinien F IV 4.16 sogar immer. 32 BGH, GRUR 04, 47 Blasenfreie Gummibahn I. 24

jedoch manchmal zu komplizierten Merkmalsformulierungen und -umstellungen, so dass jedenfalls dann aus Klarheits- und damit Rechtssicherheitsgründen eine einteilige Fassung vorzuziehen ist. Um den breitest möglichen Schutz für den Anmelder sicherzustellen, ist es zulässig und ratsam, die Erfindung in all ihren Ausprägungen, d. h. insbesondere in den verschiedenen Anspruchskategorien zu beanspruchen. Zum Beispiel: die neue chemische Verbindung als Sachanspruch und ihr zugehöriges Herstellungsverfahren als Verfahrensanspruch; oder Sender, Empfänger und deren zugehöriges Übertragungsverfahren. Die Grenze setzt hier das Erfordernis der Einheitlichkeit ( 34 Abs. 5 PatG; Art. 82 EPÜ), das verlangt, dass die in einer Anmeldung enthaltenen Erfindungen eine einzige gemeinsame allgemeine erfinderische Idee verwirklichen. Das Prinzip lautet: Eine Erfindung eine Anmeldung eine Gebühr, und soll verhindern, dass sich clevere Erfinder mehrere Erfindungen in einer Anmeldung für nur eine Amtsgebühr recherchieren, prüfen und schützen lassen. IV. Schutzvoraussetzungen Nach 1 PatG (Art. 52 Abs. 1 EPÜ) werden nur diejenigen Erfindungen mit einem Patent belohnt, d. h. durch ein Patent geschützt, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Diese drei wesentlichen Schutzvoraussetzungen erläutern wir im Folgenden. 1. Neuheit Eine Erfindung muss neu (new) sein. Bereits bekannte Erkenntnisse und Ideen bereichern die Technik nicht. Hierfür soll es auch keine Belohnung geben. Nach 3 Abs. 1 PatG (Art. 54 Abs. 1 EPÜ) gilt eine Erfindung als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik (prior art) gehört. a) Maßgeblicher Zeitpunkt Prioritätsrecht Der maßgebliche Zeitpunkt dafür, was zum Stand der Technik gehört und damit bei der Beurteilung der Neuheit (novelty) der Erfindung als bekannt angenommen wird, also der Stichtag, ist in der Regel der Anmeldetag der 25

Patentanmeldung, d. h. der Tag des Eingangs der Patentanmeldung beim Patentamt (First-To-File-Prinzip). Er bestimmt den Zeitrang der Patentanmeldung. Auf den tatsächlichen Zeitpunkt, an dem die Erfindung gemacht bzw. vollendet wird (First-To-Invent-Prinzip), kommt es anders als bis vor kurzem noch in den USA 7 nicht an. Dies vereinfacht die Bestimmung des maßgeblichen Zeitrangs erheblich. Die kleinste Zeiteinheit ist dabei der Tag. Die genaue Uhrzeit wird nicht berücksichtigt. Zwei am selben Tag von verschiedenen Anmeldern eingereichte Patentanmeldungen gelten als gleichzeitig eingereicht und stehen sich nicht entgegen. Ebenso wenig ein Dokument aus dem Stand der Technik, das erst am Anmeldetag veröffentlicht wird. Der Zeitrang der Patentanmeldung kann aber auch vor dem Anmeldetag liegen, wenn die Priorität einer älteren sog. Erstanmeldung in Anspruch genommen wird ( 40, 41 PatG; Art. 87 bis 89 EPÜ, Art. 4 PVÜ). Die Erstanmeldung kann eine ältere deutsche Patent- oder Gebrauchsmusteranmeldung sein (innere Priorität) oder eine Anmeldung in einem Mitgliedsstaat der PVÜ (Unionspriorität), wenn in ihr dieselbe Erfindung wie in der Nachanmeldung offenbart ist und sie vom selben Anmelder (oder seinem Rechtsnachfolger) stammt. Durch die wirksame Inanspruchnahme der Priorität wird die Nachanmeldung so gestellt, als ob sie am Anmeldetag der älteren Erstanmeldung, dem sog. Prioritätstag, eingereicht worden wäre. Der Zeitrang verschiebt sich somit auf den Prioritätstag. Dieses Recht gilt nur innerhalb von zwölf Monaten ab Prioritätstag. Das Prioritätsrecht gestattet dem Anmelder also nach der Erstanmeldung seiner Erfindung eine einjährige Überlegzeit, um zu entscheiden, ob und in welchen Ländern er weiteren Patentschutz ersuchen will, ohne dabei eine zeitliche Schlechterstellung in Kauf nehmen zu müssen. Bei der älteren Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wird, muss es sich um die weltweit erste Anmeldung dieser Erfindung handeln, von deren Anmeldetag ab die zwölfmonatige Prioritätsfrist läuft. Das Aneinanderreihen von Prioritäten zu sog. Kettenprioritäten, um die zwölfmonatige Prioritätsfrist zu verlängern, indem die Priorität einer älteren Anmeldung beansprucht wird, die ihrerseits bereits eine Priorität beansprucht, ist nicht zulässig. Allerdings begründet ein über die Offenbarung der älteren Anmeldung hinausgehender Überschuss in einer Nachanmeldung wieder ein auf diesen Überschuss gerichtetes Prioritätsrecht. 26

Das spätere Schicksal der älteren Anmeldung, also ob sie etwa zurückgenommen wird oder zum Patent führt, ist ohne Bedeutung, solange sie nur wirksam einen Anmeldetag nach dem nationalen Recht des Staates, in dem sie eingereicht worden ist, begründet. Ist jedoch eine ältere deutsche Patentanmeldung (nicht hingegen eine ältere Gebrauchsmusteranmeldung) noch beim Patentamt anhängig, so gilt sie mit Abgabe der Prioritätserklärung als zurückgenommen ( 40 Abs. 5 PatG). Eine Patentanmeldung kann auch die Prioritäten mehrerer älterer Anmeldungen mit unterschiedlichen Anmeldetagen in Anspruch nehmen, jedoch pro Patentanspruch nur eine einzige Priorität. Den Patentansprüchen der Nachanmeldung kommen dann gegebenenfalls unterschiedliche Zeitränge zu. Der jeweilige Zeitrang ist dann der Anmeldetag derjenigen älteren Anmeldung, in der der Gegenstand des jeweiligen Patentanspruchs zum ersten Mal vollständig offenbart ist. Eine Kombination der Offenbarungen der verschiedenen älteren Anmeldungen zur Deckung des Gegenstands eines einzigen Patentanspruchs ist nicht möglich. In einem solchen Fall erhält der Patentanspruch den Zeitrang des Anmeldetags der Nachanmeldung. 33 b) Stand der Technik Der Stand der Technik umfasst alle Kenntnisse, die vor dem Anmeldetag bzw. Prioritätstag der Anmeldung durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit (irgendwo auf der Welt) zugänglich gemacht worden sind ( 3 Abs. 1 PatG, Art. 54 Abs. 2 EPÜ). Zum schriftlichen Stand der Technik zählen insbesondere die von den Patentämtern veröffentlichten Patentanmeldungen (Offenlegungsschriften) bzw. Patentschriften, sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen, Fachbücher, veröffentlichte Industriestandards, Manuskripte, Zeichnungen, Werbeprospekte und Angebote, Betriebsanleitungen etc., in jeder beliebigen Sprache. 33 BGH, GRUR 02, 146 Luftverteiler; EPA GrBK G 2/98, GRUR Int. 02, 267. 27

Mündliche Beschreibungen können beispielsweise sein: Vorträge, Vorlesungen, Reden, Erläuterungen bei Werksbesichtigungen oder auf Messen, Radio- und Fernsehsendungen, Werbeveranstaltungen etc. Diese müssen nicht schriftlich aufgezeichnet sein. Zu den Benutzungen oder auch sog. offenkundigen Vorbenutzungen (public prior use) gehören das Herstellen oder Gebrauchen der Erfindung, Vorführungen zu Demonstrationszwecken, beispielsweise auf einer Messe, das Ausstellen in einem Museum, das Anbieten zum Kauf etc. Wo auf der Welt die Kenntnisse veröffentlicht werden, ist ohne Belang (absoluter Neuheitsbegriff). Ob der Erfinder den Stand der Technik kannte, hätte kennen sollen, tatsächlich nicht kannte oder in bestimmten Fällen überhaupt nicht hätte kennen können, ist unerheblich (objektiver Neuheitsbegriff). Auch in zeitlicher Hinsicht gibt es keine Beschränkungen. Eine einmalige Veröffentlichung ist ausreichend: Einmal Stand der Technik, immer Stand der Technik. Öffentliche Zugänglichkeit. Öffentlich sind die Kenntnisse dann, wenn sie einem unbegrenzten Personenkreis und damit auch den interessierten Fachleuten zugänglich sind. Mit Öffentlichkeit ist also nicht die breite Öffentlichkeit oder gar der Mann auf der Straße gemeint. Es muss die nicht so entfernte Möglichkeit vorhanden sein, dass beliebige Dritte und damit auch Sachverständige eine ausreichende Kenntnis von der neuheitsschädlichen Tatsache erhalten. Dies kann unmittelbar dadurch geschehen, dass ein unbegrenzter Personenkreis die neuheitsschädliche Tatsache direkt selbst wahrnehmen kann, oder mittelbar dadurch, dass sie nur einzelne wahrnehmen, bei denen die Möglichkeit besteht, dass ihre Erkenntnis an beliebige Dritte weiterdringt. 34 Es kann daher die Kenntnisnahme durch einen einzigen Sachverständigen, der seine Kenntnis weitergeben kann, oder ein einziger Verkauf eines erfindungsgemäßen Produkts genügen. Die (bloße theoretische) Möglichkeit der Kenntnisnahme durch beliebige Dritte genügt. Ob Dritte tatsächlich Kenntnis erlangt haben, ist ohne Belang. 35 34 BGH, GRUR 66, 484 Pfennigabsatz. 35 BGH, GRUR 62, 518 Blitzlichtgerät. 28

Beispiel Ein in einer Bibliothek registriertes Buch ist öffentlich zugänglich und gehört zum Stand der Technik, auch wenn es nachweislich niemals ausgeliehen und gelesen wurde. Ist der Personenkreis, der Zugriff auf die Kenntnisse hat, jedoch beschränkt, fehlt es an der Öffentlichkeit, etwa wenn sichergestellt ist, dass die Kenntnisse nicht über diesen eingegrenzten Personenkreis wie etwa befreundete Wissenschaftskollegen oder Lizenznehmer hinausdringen. Dies gilt auch dann, wenn im Einzelfall der Personenkreis relativ groß ist. Je größer dieser Kreis ist, desto größer ist jedoch die Gefahr, dass er nicht dicht hält und die Kenntnisse dadurch öffentlich werden. Eine implizite oder explizite Geheimhaltungsverpflichtung (confidentiality obligation) der Empfänger der mitgeteilten Kenntnisse kann die öffentliche Zugänglichkeit ausschließen, wenn durch sie Dritte zuverlässig von der Kenntnisnahme ausgeschlossen werden. Eine implizite Geheimhaltungsverpflichtung kann in der Regel zwischen den Beteiligten eines gemeinsamen Entwicklungsprojekts angenommen werden. Ein Bruch einer bestehenden Geheimhaltungsverpflichtung macht die Kenntnisse jedoch öffentlich zugänglich und damit zum Stand der Technik. Zugänglich ist eine technische Kenntnis dann, wenn die objektive Möglichkeit besteht, dass der Fachmann das Wesen der Erfindung erkennen kann. Diese Erkennbarkeit der Erfindung für den Fachmann ist insbesondere bei offenkundigen Vorbenutzungen von Bedeutung. So ist etwa die Zusammensetzung und Struktur einer benutzten Substanz dann öffentlich zugänglich, wenn der Fachmann sie ohne unzumutbaren Aufwand feststellen kann. 36 c) Neuheitsprüfung aa) Einzelvergleich der Dokumente Die Neuheitsprüfung besteht in einem Einzelvergleich des Inhalts jeder Veröffentlichung (Entgegenhaltung) getrennt mit dem beanspruchten Gegenstand der zu prüfenden Patentanmeldung beziehungsweise des Patents. Nur wenn der Fachmann den beanspruchten Gegenstand bereits einer einzigen Entgegenhaltung (beziehungsweise Vorbenutzung, Vor- 36 EPA GrBK G 1/92, GRUR Int. 93, 698. 29

trag, etc.) entnimmt, fehlt die Neuheit. Ein Anspruch ist also dann neuheitsschädlich getroffen, wenn alle Merkmale des Anspruchs in einem Dokument/Vorbenutzung offenbart sind. Wo und wie die Merkmale dort offenbart sind, ist unerheblich, solange sie der Fachmann nur als zusammengehörig versteht. So können sie in einer veröffentlichten Patentschrift den Ansprüchen, der Beschreibung, der Zusammenfassung, aber auch den Zeichnungen entnommen werden. Eine Kombination der Offenbarungsgehalte mehrerer Dokumente, um auf den beanspruchten Gegenstand zu kommen, ist nicht zulässig. 37 Dies ist eine Frage der erfinderischen Tätigkeit. Sind in einem Dokument zwei alternative Ausführungsbeispiele angegeben, müssen auch diese getrennt für die Neuheitsprüfung betrachtet werden, jedenfalls hinsichtlich ihrer alternativen Merkmale. bb) Offenbarungsgehalt eines Dokuments Was ist nun der Inhalt (Offenbarungsgehalt) einer Druckschrift? Zum Offenbarungsgehalt eines Dokuments gehört alles das, was ihr ein Fachmann auf dem betreffenden technischen Gebiet mit seinem allgemeinen Wissensstand (am Anmeldetag bzw. Prioritätstag 38 der zu prüfenden Anmeldung) unmittelbar und eindeutig entnimmt. Der Offenbarungsgehalt ist somit nicht auf seinen Wortlaut beschränkt (fotografische Neuheit), sondern umfasst auch Merkmale, die in dem Dokument zwar nicht ausdrücklich genannt sind, aber für den Fachmann vom Inhalt mit erfasst sind (implizite Offenbarung). Während das EPA eher zum fotografischen Neuheitsbegriff tendiert, also strenge Maßstäbe anlegt, ist der Bundesgerichtshof großzügiger und traut dem Fachmann mehr zu: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 39 gehören zum Offenbarungsgehalt auch solche Abwandlungen, die nach dem Gesamtzusammenhang für 37 Ausnahme: Ein Dokument bezieht ausdrücklich den Inhalt eines anderen Dokuments mit in seinen Offenbarungsgehalt ein. Beispiel: Die Metallhalterung besteht aus der für solche Halterungen in Dokument X angegebenen Legierung 38 Einige Beschwerdekammern des EPA (z. B. T 205/91, ABl 97 SonderA 16) stellen bei der Prüfung auf Neuheit (nicht jedoch bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit) unzutreffend auf die Kenntnisse des Fachmanns zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entgegenhaltung ab was aber in der Praxis wohl nur selten eine Rolle spielt. 39 BGH, GRUR 95, 330 Elektrische Steckverbindung. 30

den Fachmann derart naheliegen, dass sie sich ihm bei aufmerksamer, weniger auf die Worte als auf ihren erkennbaren Sinn achtenden Lektüre ohne weiteres erschließen, so dass er sie in Gedanken gleich mitliest. Grundsätzlich gilt: Der Spezialbegriff nimmt den allgemeinen Begriff (Oberbegriff) neuheitsschädlich vorweg. Beispiel: Eine Entgegenhaltung offenbart den Spezialbegriff Schraube und trifft damit das allgemeinere Anspruchsmerkmal Befestigungsmittel neuheitsschädlich. Umgekehrt gilt das nicht. Ist eine allgemeine Lehre (Befestigungsmittel) bekannt, kann in der speziellen Ausgestaltung (Schraube) durchaus eine sog. abhängige 40 Erfindung liegen. Dies ist z. B. auch bei Auswahlerfindungen der Fall: Wurde z. B. für eine Beschichtung bereits allgemein die Verwendung von Metallen offenbart, kann die (spezielle) Auswahl von Silber eine neue (und ggf. auch erfinderische) Beschichtung darstellen. Es gilt ein einheitlicher Offenbarungsbegriff: Die Maßstäbe und Grundsätze dafür, was ein Fachmann einem Dokument entnimmt, gelten gleichermaßen für Dokumente des Standes der Technik wie für das Erfordernis derselben Erfindung für die wirksame Beanspruchung einer Priorität, d. h. für die Frage, ob der Offenbarungsgehalt der Prioritätsanmeldung den beanspruchten Gegenstand in der Nachanmeldung stützt, 41 sowie für die Frage, ob nach Einreichen einer Patentanmeldung vorgenommene Änderungen an den Patentansprüchen vom Offenbarungsgehalt der ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen gedeckt sind. 42 d) Ältere Anmeldungen 3 Abs. 2 PatG (Art. 54 Abs. 3 EPÜ) definiert noch eine besondere Art von Stand der Technik, sog. ältere Anmeldungen (prior patent applications). Dies sind Patentanmeldungen (nicht Gebrauchsmusteranmeldungen), deren Anmeldetag bzw. Prioritätstag zwar vor dem Zeitrang der Erfindung liegt (deshalb älter ), die aber erst an oder nach diesem Zeitrang veröffentlicht worden sind (in der Regel 18 Monate nach ihrem Prioritätsbzw. Anmeldetag). Das heißt, vor dem Zeitrang der angemeldeten Erfin- 40 Abhängig deshalb, da ihre Benutzung gleichzeitig auch eine Benutzung der allgemeineren (älteren) Erfindung bedeutet. 41 Siehe Abschnitt A.IV.1.a. 42 Siehe Einspruchs- bzw. Nichtigkeitsgrund unzulässige Änderung in Abschnitt A.VII.1.c. 31