Peter Knorr Richter am Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtliche Praxis Veranstaltungsreihe des Verwaltungsgerichts Freiburg 2. Besprechungsfall 06.03.2007 "Auto contra Denkmalschutz" (Baurecht, Fortsetzungsfeststellungsklage, Baunachbarklage, Denkmalschutz) Sachverhalt Die A erwarb im Januar 2003 ein mit einer Doppelhaushälfte bebautes Grundstück in der "Gartenstadt" von W. Die vor dem Ersten Weltkrieg erbaute "Gartenstadt" ist als Sachgesamtheit ein Kulturdenkmal im Sinne von 2 DSchG. Prägend für die in einem durchgehenden architektonischen Konzept erbaute "Gartenstadt" sind u. a. die Grünzonen (Nutz- und Ziergärten) vor, zwischen und hinter den Häusern sowie die in besonderer Weise gestalteten Fassaden und Giebelwände der Doppel- bzw. drei- bis viergliedrigen Reihenhäuser. Die Häuser stehen an den jeweiligen Straßen auf einer Linie und wahren durchgehend einen gleichmäßigen Abstand zu diesen Straßen. Am 01.03.2006 stellte die A bei der Stadt W einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung für eine Garage, die im Vorgartenbereich ihres Grundstücks errichtet werden soll. Die im Baugenehmigungsverfahren beteiligte Untere Denkmalschutzbehörde versagte ihre Zustimmung zu diesem Bauvorhaben, weil die geplante Garage das Erscheinungsbild des Gebäudes beeinträchtige und der Eingriff in die Vorgartenzone das denkmalgeschützte Ensemble verletze. Die Stadt W lehnte schließlich die Baugenehmigung mit Bescheid vom 31.07.2006 aus den Gründen des Denkmalschutzes sowie deshalb ab, weil die Lage der Garage im Vorgarten außerhalb der durch faktische Baulinien in diesem Gebiet markierten überbaubaren Grundstücksfläche liege. Diese Baulinien ergäben sich aufgrund der auf einer Linie parallel zu den Straßen angeordneten Baukörper und die dadurch bewirkte Trennung zwischen den überbaubaren Grundstücksflächen und den nicht überbaubaren (Vor-)Gärten. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die A Klage gegen W mit dem Ziel der Erteilung einer Baugenehmigung für ihre Garage. Nach Klageerhebung trat für die "Gartenstadt" ein Bebauungsplan in Kraft, der unter anderem entlang den Häuserfronten Baulinien festsetzte und darüber hinaus die textliche Festsetzung enthielt, dass Garagen außerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche unzulässig sind. Begründet wurde der Bebauungsplan mit dem Ziel, die "Gartenstadt" in seiner historischen Form zu erhalten. Die A meint, ihr Bauvorhaben müsse trotz des Bebauungsplans genehmigt werden, jedenfalls hätte ihr vor Inkrafttreten des Bebauungsplans die Baugenehmigung erteilt müssen. Wegen der Nichterteilung der Baugenehmigung vor Inkrafttreten des Bebauungsplans beabsichtigt sie, gegenüber der Stadt W Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Aufgabe: 1. Welche Anträge empfiehlt das Verwaltungsgericht der A als sachdienlich? 2. Wie wird das Verwaltungsgericht über die Anträge entscheiden? Fallvariante: Der A wird am 31.07.2006 die beantragte Baugenehmigung von der Stadt W erteilt. Der in der "Gartenstadt" wohnende B ist darüber empört. Er erhebt gegen die Baugenehmigung nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage, weil er der Meinung ist, die genehmigte Garage störe das harmonische Ensemble und verstoße gegen den geltenden Bebauungsplan. Aufgabe: Wie wird das Verwaltungsgericht über die Klage des B entscheiden?
Lösungsskizze - 2 - Aufgabe 1: 1.1 Die A will eindeutig eine Baugenehmigung für ihre Garage und damit den Erlass eines Verwaltungsakts. Ein solches Begehren wird mit der Verpflichtungsklage geltend gemacht ( 42 Abs. 1 VwGO). Damit werden inzidenter auch die ablehnenden Bescheide Gegenstand des Verfahrens (inzidente Anfechtungsklage; siehe Bosch/Schmidt, Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren, 8. Aufl. 2005, S. 132). Die A sollte somit in etwa den Antrag stellen, den Bescheid der Beklagten vom... und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom... aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der A die mit Antrag vom... beantragte Baugenehmigung zur Errichtung einer Garage auf dem Grundstück FlSt.-Nr.... der Gemarkung W zu erteilen. 1.2 Vor einer materiell-rechtlichen Prüfung ist unklar, ob der im Lauf des Gerichtsverfahrens in Kraft getretene Bebauungsplan "Gartenstadt" dem Bauvorhaben der A entgegensteht. Bei einer Verpflichtung auf Erteilung einer Baugenehmigung kommt es nämlich - wie regelmäßig bei Verpflichtungsklagen - auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an (Bosch/Schmidt, a.a.o., S. 314 ff.). Es wäre denkbar, dass die von A beantragte Garage vor Inkrafttreten des Bebauungsplans baurechtlich zulässig war, jetzt jedoch unzulässig ist. Unter Umständen könnte es für die A deshalb sinnvoll sein, dass das Verwaltungsgericht die Ablehnung der Baugenehmigung für rechtswidrig erklärt. Um diesem Begehren Rechnung zu tragen, müsste die A beantragen, festzustellen, dass die Ablehnung der Baugenehmigung im Bescheid der Beklagten vom... in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Freiburg vom... rechtswidrig war und die A einen Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung zur Errichtung einer Garage auf dem Grundstück FlSt.-Nr.... der Gemeinde W gemäß ihrem Antrag vom... hatte. 1.3 Schließlich muss die A sich überlegen, in welchem Verhältnis die beiden Anträge zueinander stehen. In den meisten Fällen - so wohl auch hier - wird der Feststellungsantrag nur dann gewollt sein, wenn die Baugenehmigung im Ergebnis nicht erteilt werden kann, dass heißt, wenn die Verpflichtungsklage erfolglos bleibt. Dann liegt es nahe, den Verpflichtungsantrag als Hauptantrag und den Feststellungsantrag lediglich für den Fall der Abweisung der Verpflichtungsklage, das heißt als Hilfsantrag, zu stellen (zur Zulässigkeit von Haupt- und Hilfsanträgen siehe Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, vor 128 RdNr. 20).
- 3 - Aufgabe 2 (Zulässigkeit und Begründetheit der Klage): I. Hauptantrag (Verpflichtungsantrag) 1. Zulässigkeit der Klage Lt. Sachverhalt keine Probleme; deshalb erübrigt sich eine Erörterung. 2. Begründetheit der Klage Ausgangsnorm: 113 Abs. 5 VwGO 2.1 Erforderlichkeit einer Baugenehmigung für die Garage 2.1.1 - Grundsatz: 49 Abs. 1 LBO ("alle baulichen Anlagen sind genehmigungspflichtig") - Ausnahmen: - verfahrensfreie Anlagen nach 50 LBO; Garagen sind nicht in der Liste der verfahrensfreien Vorhaben enthalten (siehe Anhang zu 50 Abs. 1 LBO). - ebenfalls kein Kenntnisgabeverfahren nach 51 LBO, weil A einen Bauantrag gestellt hat (siehe 51 Abs. 7 LBO). 2.2 Genehmigungsfähigkeit (baurechtliche Zulässigkeit) der Garage Anspruchsnorm: 58 Abs. 1 Satz 1 LBO. Danach besteht ein Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung, wenn dem Vorhaben keine von der Baurechtsbehörde zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen. 2.2.1 Verstoß gegen Bauordnungsrecht (LBO)? Laut Sachverhalt gibt es hier keine zu prüfenden Gesichtspunkte. 2.2.2 Verstoß gegen Bauplanungsrecht (BauGB und Nebengesetze, u a. Bau- NVO)?
- 4-2.2.2.1 Hier: Verstoß gegen die Festsetzung der Baulinien im Bebauungsplan (siehe 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, 23 Abs. 1 und 2 BauNVO; siehe hierzu Dürr, Baurecht, 11. Aufl. 2004, RdNrn. 68 und 99) - Eine (ausnahmsweise) Zulassung nach 23 Abs. 5 BauNVO kommt hier nicht in Betracht, da laut Sachverhalt im Bebauungsplan anderes festgesetzt worden ist, nämlich, dass keine Garage auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen errichtet werden darf. 2.2.2.2 Befreiung gemäß 31 Abs. 2 BauGB? Hier: Nein. Grundzüge der Planung sind berührt. Die erforderliche Auslegung des Bebauungsplans ergibt, dass die Baulinien hier Grundzüge der Planung sind. Denn der Bebauungsplan verfolgt das Konzept, die alte "Gartenstadt" mit ihren Vorgärten und der ungestörten Ansicht der Gebäudefassaden zu erhalten. Ergebnis: Das Bauvorhaben der A ist unzulässig. Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag unbegründet. II. Hilfsantrag (Fortsetzungsfeststellungsklage) 1. Zulässigkeit (einer Klage nach 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) 1.1 Hat sich der Verwaltungsakt (die Baugenehmigung) erledigt? Streng genommen liegt keine Erledigung vor. Doch wird nach herrschender Meinung in entsprechender Anwendung von 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO eine Erledigung angenommen bei Änderung der Rechtslage, zum Beispiel durch Inkrafttreten eines Bebauungsplans (Bosch/Schmidt, a.a.o., S. 341). 1.2 (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse Das ist jedes vernünftigerweise schutzwürdige Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art (BVerwG, Beschluss vom 24.10.2006, NVwZ, 2007, 227). Fallgruppen (siehe Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, 113 RdNrn. 136 ff.): - Wiederholungsgefahr
- Rehabilitationsinteresse - 5 - - Amtshaftungsinteresse, wenn Erledigung erst nach Klageerhebung eingetreten ist (Bosch/Schmidt, a.a.o., S. 339) - typische Fälle kurzfristiger Erledigungen - spezielle und intensive Grundrechtseingriffe. Hier: Die A hat ein ernsthaftes Interesse an der Verfolgung von Amtshaftungsansprüchen angemeldet, die nicht offensichtlich aussichtslos sind (Kopp/Schenke, a.a.o., 113 RdNrn. 136 ff.; Bosch/Schmidt, a.a.o., S. 338 f.), und Erledigung (Rechtsänderung) ist erst im Lauf des Gerichtsverfahrens eingetreten. 2. Begründetheit des Hilfsantrags Ausgangsnorm: 58 Abs. 1 Satz 1 LBO 2.1 Verstoß gegen Bauplanungsrecht 2.1.1 Hier: 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB Die Garage fügt sich in Bezug auf die überbaubare Grundstücksfläche, die hier (vor Inkrafttreten des Bebauungsplans) durch faktische Baulinien bestimmt ist, nicht ein. 2.1.2 Abweichung nach 34 Abs. 3a BauGB kommt nicht in Betracht, da das Bauvorhaben kein Gewerbe- oder Handwerksbetrieb ist. 2.2 Verstoß gegen Bauordnungsrecht (LBO)? Laut Sachverhalt gibt es hier keine zu prüfenden Gesichtspunkte. 2.3 Sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften Das sind alle öffentlich-rechtlichen Spezialvorschriften, die kein eigenes Genehmigungsverfahren vorsehen (Dürr, a.a.o., RdNrn. 217 ff. und 225). Dazu gehört auch das Denkmalschutzgesetz (siehe 7 Abs. 3 DSchG). Hier: Die Bebauung des Vorgartens und die Versperrung der Sicht auf die Gebäudefassade beeinträchtigen das Kulturdenkmal "Gartenstadt" erheblich. Deshalb hat die untere Denkmalschutzbehörde die Zustimmung zu Recht versagt (vgl. 7 Abs. 3, 8 Abs. 1 Nr. 2 DSchG). Denkmalschutzrecht steht demgemäß entgegen der Erteilung der Baugenehmigung entgegen.
- 6 - Ergebnis: Das Bauvorhaben der A war auch schon vor Inkrafttreten des Bebauungsplans unzulässig. Die Klage ist auch mit ihrem Hilfsantrag unbegründet. Fallvariante: I. Zulässigkeit der Klage des B 1. Klageart: Anfechtungsklage (gegen [begünstigenden] Verwaltungsakt mit [belastender] Drittwirkung) 2. Klagebefugnis: Wohl gegeben, da B als Bewohner der Gartenstadt möglicherweise in seinen Rechten verletzt sein kann ( 42 Abs. 2 VwGO; siehe Bosch/Schmidt, a.a.o., S. 148 ff.). II. Begründetheit der Klage des B Ausgangsnorm: 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO Voraussetzungen für Begründetheit: 1 Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts (hier der Baugenehmigung) Liegt vor (siehe oben). 2. Rechtsverletzung des B 2.1 Rechtsverletzung wegen Verstoßes gegen Bauplanungsrecht? Maßgeblich: Schutznormtheorie ("Will die Norm Dritten [Nachbarn] ein klagbares Recht einräumen?"; siehe Dürr, a.a.o., RdNrn. 258 ff.) Für den Bereich des Bebauungsplans gilt: Festsetzungen eines Bebauungsplans sind grundsätzlich nicht nachbarschützend (siehe Dürr, a.a.o., RdNrn. 269 ff.).
2.1.1 Ausnahmen: - 7 - - Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung (Baugebietsart) - Festsetzungen über seitliche Baugrenzen (gegenüber dem Nachbargrundstück) - Wenn sich der Nachbarschutz (im Wege der Auslegung) aus dem Plan selbst ergibt, zum Beispiel: - aus dem Wortlaut der Festsetzung, - aus der Begründung des Bebauungsplans oder - aus den Materialien (Gemeinderatsprotokolle u. a.). Hier: Die Baulinien dienen allein städtebaulichen und damit öffentlichen Interessen. 2.2 Rechtsverletzung wegen Verstoßes gegen Denkmalschutzrecht? Denkmalschutz dient nur öffentlichen Interessen (siehe 2 Abs. 1 DSchG). Ergebnis: Die Klage des B ist wegen fehlender Verletzung eigener Rechte unbegründet.