Die virtuelle Schule Chancen und Gefahren

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Dieter Euler Die virtuelle Schule Chancen und Gefahren Der Blick auf das Vortragsthema zeigt: Nichts ist im Hinblick auf die neuen Medien leichter, als sich schwierig auszudrücken! Denn wer von uns kann schon genau sagen, was eine virtuelle Schule ist? Ich will daher der Versuchung widerstehen, in die Imponiersprache der Informatiker zu fallen, die man häufig nicht verstehen, sondern nur nachahmen kann. Nach der Devise, dass die Phantasie der Wahrheit oft näher ist als die Fakten, will ich Sie vielmehr zunächst einladen, mit mir einen Blick in eine mögliche Zukunft zu werfen. Für die einen wird dieser Blick ein Schreckgespenst darstellen, für die anderen hingegen offenbart er vielleicht eine erstrebenswerte Innovation. 1 Reise in eine mögliche Zukunft... Wir betreten eine berufliche Schule (irgendwo in einem österreichischen Gewerbepark). Sie haben gehört, dass diese Schule tausende von Schülern unterrichtet insofern wundern Sie sich, dass das Schulgebäude nicht viel grösser ist als eine durchschnittliche Sporthalle. Beim Eintreten vernehmen Sie eine seltsame Ruhe kein Lärm von einem Pausenhof, kein Geschrei auf den Fluren, kein Tosen hinter den Türen vermeintlicher Klassenzimmer. An einer Tür lesen Sie die Aufschrift Electronic Teaching Pool IV und treten mit gespannter Höflichkeit ein! Drinnen sehen Sie vier Computerarbeitsplätze, die durch Stellwände voneinander getrennt sind. Vor den Bildschirmen entdecken Sie jeweils eine Person mit einem Headphone wie Sie später erfahren, entstammen diese Lehrkräfte noch dem letzten Jahrgang ausgebildeter Wirtschaftspädagogen (an der WU Wien), die Folgegeneration wurde von Microsoft, Cisco und Lotus in einem Distance- Learning-Kurs auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie bezeichnen sich nicht mehr als Lehrer oder Wirtschaftspädagoge, sondern sind learning consultants, knowledge navigators oder fast schon wieder konventionell und sympathisch verständlich Lernstewards. Der äussere Anschein erinnert an eines jener Call-Center, in dem genervte oder unsichere Konsumenten von freundlichen Stimmen in die richtigen Absatzwege gelenkt werden. Nein, nicht ganz, denn die Diktion der Äusserungen erinnert dann doch wieder etwas an die Schule: Gut, Richard, Sie sollten sich aber noch einmal die 2. Spalte in der Übersicht ansehen, dort finden Sie etwas über die Haftung in der GmbH.... Oder: Josef, wie hoch ist das Mindestkapital einer AG? Offensichtlich Wirtschaftslehre-Unterricht für Anfänger! Wo aber sind die Schüler? Sie treten näher und sehen passfotogross fünf Gesichter auf dem Bildschirm, die aus dem Bildschirm schauen. Auch sie haben einen Kopfhörer auf, dies ist deutlich zu erkennen. Ob sie hingegen gelangweilt oder motiviert, ausgeschlafen oder müde sind, dies ist aufgrund der graphischen Auflösung kaum er- 1

kennbar. Schnell wird Ihnen der Zusammenhang klar: Die Schüler sitzen in ihren Ausbildungsbetrieben fernab der Schule und sind per Videokonferenz mit ihrem Lehrer verbunden. Desktop-Teleteaching nennt sich diese Form des Unterrichts die Lehrinhalte sind wohlvertraut, nur die ganze Lernumgebung erscheint etwas gespenstig. Die Schüler scheinen sich jedoch schon längst mit der veränderten Situation arrangiert zu haben: Einer hat gerade sein Frühstücksbrot ausgepackt, der andere setzt die Literflasche Cola an, während ein anderer auch schon mal einen Meter zur Seite entflieht und so aus dem Bild verschwindet. Nach einer Zeit schaltet der Lernsteward den Chat-Modus an, nimmt sein Headphone ab und begrüsst Sie mit dem Hinweis: So zwischendurch ist es gut, wenn die Schüler unter sich etwas Small-Talk betreiben, vielleicht tauschen sie auch die eine oder andere Hausarbeit über das Netz aus! Das Gespräch beginnt, und sie erfahren, dass sie soeben Zeuge eines Projektes namens EINSTEIN waren, das ein Nachfolgeprojekt von PLATO darstellt und mit dem EU-Projekt LEONARDO verbunden ist (sie fragen sich, was die prominenten Namensgeber wohl über die Verbindung zu einem solchen Projekt gesagt hätten); mit der neuen Net-Software Facemail 4.0 die ruckeligen Bilder endgültig verschwinden werden; die Schüler auch auf einen Content-Pool zugreifen können, sich über Chats und eine Newsgroup austauschen, im Application-Sharing gemeinsame Papiere erstellen, die der Lehrer sich downloaden kann und nicht zuletzt die Prüfungen online über eine Audio- und Videokonferenz stattfindet. Zudem sei im nächsten Schuljahr auch ein asynchrones Teletutoring vorgesehen. Sie ahnen es: Wieder eine neue Fachsprache, mit deren Hilfe in den Schulen knappe Ressourcen für unverzichtbare Projekte begründet werden und über die die Informatik-Experten sich von den übrigen im Kollegium abzugrenzen suchen. Auf dem Bildschirm ist es mittlerweile recht lebendig geworden. Einer der Schüler zeigt ein Plüschtier, ein anderer ein Heft mit Bildern, ein dritter zieht Grimassen auch das Netz erlaubt offensichtlich einen informellen Austausch. Mit einem kurzen: Ich muss wieder ins BVC (Business Video Conferencing)... verabschiedet sich der Lernsteward, setzt seinen Kopfhörer auf und übernimmt mit der Maus wieder die Kommunikationsführung. Graz, Salzburg, Innsbruck können sie mich hören? schliesslich warten noch einige weitere Rechtsformen der Unternehmung auf die Schüler. 2 Interpretationen und Polarisierungen Sie haben vielleicht ein schnelles Urteil über diese Form des Lehrens und Lernens auf der Zunge. Fragend-entwickelnder Unterricht der schlimmsten Sorte, oder die Schüler werden an einem elektronischen Nasenring durch den Stoff geführt.... 2

Vielleicht bringe ich Ihr Urteil ins Wanken, wenn ich ein paar denkbare Phasen dieses Unterrichts schildere: Da übersendet der Lehrende den Schülern eine Fallaufgabe, die sie zunächst in Einzelarbeit aufnehmen und lösen sollen. Einer der Schüler präsentiert seine Lösung über den Bildschirm, der Lehrer moderiert die Fallbesprechung. Oder: Die Schüler bearbeiten eine Aufgabe in Einzelarbeit. Der Lehrende kann den Bildschirm eines jeden Schülers einblenden und dabei in den Chat- Modus schalten. In diesem Fall ist er nur noch mit dem einzelnen Schüler verbunden (während die anderen an ihren Aufgaben weiterarbeiten). Er sieht, ob die Aufgabenstellung verstanden wurde und kann eine gezielte Beratung geben, falls er es für notwendig erachtet. Am Ende schaltet er wieder in den Talk-Modus oder überspielt zum Ende der Sequenz eine Musterlösung an die Schüler, vielleicht verbunden mit vertiefenden Problemstellungen als Hausaufgaben. Sie haben sicherlich längst bemerkt, dass wir schrittweise den Weg von der Phantasie in die Realität gegangen sind. Viele der Darstellungen stammen aus einem Projekt, das derzeit an Berufsschulen in Hamburg u.a. mit der deutschen Telekom durchgeführt wird. In ihrer dreijährigen Ausbildung besuchen die beteiligten Industriekaufleute (insgesamt 11) nicht mehr regelmäßig die Berufsschule, sondern absolvieren einen großen Teil ihrer schulischen Ausbildung in virtueller Form. Die Berufsschule sehen sie über die Zeit nur noch während der 6 7 Präsenzseminare, die zwischen den virtuellen Phasen vorgesehen sind. Es wird berichtet, dass nicht nur der Fachunterricht, sondern auch etwa der Deutschunterricht in virtueller Form absolviert wird. Die Entscheidung für ein solches Projekt folgt wie so häufig derzeit im Kontext von E-Learning nicht aus pädagogischen, sondern primär aus ökonomischen Gründen. Die Telekom sucht neue Absatzmärkte für ihre Produkte und strebt eine längere Präsenz ihrer Auszubildenden im Betrieb an. Zudem ist in ihrer Sicht E-Learning nicht nur eine Ausbildungsmethode, sondern zugleich auch ein zukunftsbedeutsamer Inhalt, der en passant über learning-by-doing vermittelt wird. Und wo liegen die Interessen der Schulen? Sägen sie sich nicht den Ast ab, auf dem sie sitzen, d.h. machen sie sich nicht überflüssig und betreiben durch die Beteiligung an einem solchen Projekt nicht ihre eigene Abschaffung? Mit diesen Fragen habe ich den Punkt erreicht, an dem sich die pädagogischen Geister in der Diskussion schnell scheiden. Entsprechend lassen sich diese Fragen sehr gegensätzlich beantworten: Da ist zum einen die grundsätzliche Infragestellung des pädagogischen Sinns einer solchen didaktischen Strategie. So wird etwa darauf hingewiesen, mit Multimedia sei es so ähnlich wie mit einem Multivitamin-Saft man weiß zwar nicht so recht, welche Bestandteile er genau beinhaltet, aber man geht 3

prinzipiell von einer positiven Wirkung aus. Oder konkreter: Es wird darauf hingewiesen, dass jede Form der sozialen Interaktion einer virtuellen Pädagogik überlegen sei. Einzig ökonomische Gründe sprächen für eine virtuelle Schule. Dem steht eine bis ins Euphorische reichende Zustimmung zu solchen didaktischen Konzepten gegenüber. Inhalte könnten anschaulicher präsentiert werden, neue Formen der Interaktion machten das Lernen motivierender und effektiver und schließlich sei es möglich, gezielter auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler einzugehen. Verfolgt man die Diskussionen, dann gewinnt man zuweilen den Eindruck, man befinde sich inmitten eines neuen pädagogischen Glaubenskampfes. Nun würde ich ein Urteil in dieser Frage jedoch ungern über die Theologie, sondern lieber über den Zugriff auf die Theorie finden. Insofern erscheint es mir nunmehr angebracht, die Beispiele in einen grösseren Zusammenhang zu stellen, um aus dieser Perspektive eine Einschätzung zu formulieren. Wo stehen wir also im Hinblick auf E-Learning bzw. die virtuelle Schule? 3 Neue Medien zwischen Potenzialität und Aktualität Es ist in der Diskussion über die Neuen Medien prinzipiell zu unterscheiden zwischen ihrem Potenzial und den bereits erfolgten oder zumindest prototypisch erkennbaren Realisationsformen. Ich würde vor diesem Hintergrund die Situation wie folgt beschreiben: Multimedia und Telekommunikation bieten auch für das Lehren und Lernen neue Gestaltungspotenziale. Insbesondere in der Weiterbildung und im Hochschulbereich, weniger in den Schulen (das Eingangsbeispiel stellte eine der Ausnahmen dar), werden diese Potenziale in vielen Pilotprojekten derzeit erprobt. 1 Wie bei allen Innovationsprozessen entscheidet sich der Weg von der Potenzialität zur Aktualität, über die Gestaltung des Implementationsprozesses. Ob die programmierte Unterweisung der 60- und 70er-Jahre, das computerunterstützte Lernen der 80-er Jahre oder die bisherigen Erfahrungen des multimedialen und telekommunikativen Lernens in den 90er-Jahren aufgenommen werden immer wurden didaktische Potenziale beschworen, realisiert wurden jedoch zumeist die ökonomisch günstigen, didaktisch aber anspruchslosen Lösungen. Es ist derzeit offen, ob wir eine Neuauflage dieser Erfahrung auf einem höheren 1 Die Forschungssituation ist dabei lückenhaft und insofern bestenfalls in der Lage, heuristische Hinweise für die Praxisgestaltung zu geben. Zwar existiert eine lange Tradition der lernpsychologischen Medienforschung, doch werden die Ansätze der Komplexität des didaktischen Feldes zumeist nicht gerecht. Angesichts dieser für ein didaktisches Handeln konstitutiven Komplexität des Handlungsfeldes stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Evaluierbarkeit komplexer Lernumgebungen (vgl. EULER 1998). Dazu tritt die hohe Verfallsrate der Technik, so dass nach jeder gründlichen (und zeitraubenden) Untersuchung die jeweilige Technik schon wieder obsolet ist, und die Befunde vor dem Hintergrund eines neuen technischen Bezugssystems nur noch eine begrenzte Aussagekraft besitzen. 4

technischen Niveau erleben, oder ob sich die Fehlentwicklungen der Vergangenheit wiederholen werden. Vor diesem Hintergrund will ich nunmehr den folgenden Fragen nachgehen: Realisationskonzepte: Welche didaktischen Konzepte des multimedialen und telekommunikativen Lernens werden aktuell erprobt? Und dabei ansatzweise: Welche Erfahrungen können aus den Erprobungen gesichert werden? Zielbezüge: Die mediengestützten Konzepte sind kein Selbstzweck, sondern sie sind letztlich erst begründbar, wenn sie ein innovatives Plus im Hinblick auf die Unterstützung erstrebenswerter Ziele bieten. Daher: Welche der derzeit drängenden didaktischen Ziele könnten mit dem Einsatz von Multimedia und Telekommunikation in der Berufsbildung (besser) erreicht werden? Implementationsfaktoren: Welche Faktoren beeinflussen die Umsetzung des multimedialen und telekommunikativen Lernens in den unterschiedlichen Organisationskontexten der Berufsbildung? 3.1 Realisationskonzepte Die derzeit verfolgten Pilotprojekte verbinden die Neuen Medien mit Innovationsbestrebungen in unterschiedlicher Reichweite, wobei idealtypisch drei Entwicklungsrichtungen unterschieden werden können: Entwicklungsrichtungen Neue Medien als Addition zu bestehenden Komponenten des Lehr-Lernprozesses Neue Medien als Auslöser für die Entwicklung neuer Lernumgebungen Neue Medien als Auslöser für die Gestaltung der kulturellen und organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens Gestaltungsschwerpunkte Medien Didaktische Konzepte Kulturen / Strukturen Abbildung: Angestrebte Reichweite von Innovationen beim Einsatz der Neuen Medien Neue Medien als Addition zu bestehenden Komponenten des Lehr-Lernprozesses. In diesem Kontext soll der bestehende Organisationsrahmen des Lehrens und Lernens unverändert bleiben und lediglich durch zusätzliche Lernund Informationssoftware angereichert werden. Prototypisch für diesen Ansatz wäre etwa die Aufbereitung von Lerninhalten über eine Lernsoftware oder das Internet anstelle von Printmedien. Neue Medien als Auslöser für die Entwicklung neuer Lernumgebungen, teilweise mit neuen Zielbezügen. In diesem Rahmen entstehen neue didaktische Konzepte und Lernumgebungen, mit denen angestrebte Lernziele ver- 5

meintlich besser erreicht werden können als über konventionelle Lehr-Lernarrangements. Die zentralen Konzepte werden weiter unten dargestellt. Neue Medien als Auslöser für die Gestaltung der kulturellen und organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens. In diesem Kontext werden die Konzepte des multimedialen und telekommunikativen Lernens aufgenommen, um Lehren und Lernen in neue Kulturen und Strukturen einzupassen. In kultureller Hinsicht wird beispielsweise über die Verstärkung von Formen des selbstgesteuerten Lernens versucht, die Bildungsverantwortung auf die Mitarbeiter zu verlagern, oder in den Unternehmensbereichen eine Kultur des eigenverantwortlichen Lernens aufzubauen, die von den Führungskräften unterstützt wird. In organisatorischer Hinsicht werden beispielsweise auf Unternehmens- oder regionaler Ebene Selbstlernzentren und Lernplattformen aufgebaut, die den Mitarbeitern ein eigenverantwortliches und bedarfsgerechtes Lernen ermöglichen. 2 In beiden Fällen werden die Neuen Medien zu einem Instrument des Bildungsmanagements. Über die drei Stufen weiten sich die Innovationsringe zunehmend aus und erhöhen die Reichweite der Veränderung. Im Folgenden soll zunächst die zweite Ebene skizziert werden. Die neuen Lehr-Lernformen zeigen sich in einem ersten Schritt als eine Erweiterung des Bestehenden. So wie das Auto anfangs noch der Pferdekutsche ähnelte und erst schrittweise eine eigene Gestalt annahm, setzt auch das mediengestützte Lernen an den bekannten Lernformen an und entwickelt erst mit der Zeit sein spezifisches Profil. Diese Erweiterung des Bestehenden äußert sich zunächst in einer neuen Begrifflichkeit: Teleteaching, Teletutoring, Telekooperation und mediengestütztes Selbstlernen. Jeder Begriff bezeichnet den Grundtypus einer Lehr-Lernform, der durch die spezifische didaktische Ausgestaltung als Lernumgebung für die o.g. Zielprojektion nutzbar gemacht werden kann. 2 In diesem Zusammenhang existieren zahlreiche missverständliche Überzeichnungen, die häufig mit dem Schlagwort der just-in-time-qualifizierung (als Gegensatz zu einem Lernen-auf-Vorrat ) verbunden sind. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass Lernen sich sowohl auf Inhalte beziehen kann, die kein unmittelbares Pendant im Arbeitsprozess besitzen, als auch auf solche Inhalte, die erst bei Bedarf aktiviert werden müssen. So wären beispielsweise für Bankkaufleute als Orientierung grundlegende Kenntnisse über Finanzierungsarten aufzubauen, die Marktkonditionen zu einzelnen Finanzierungsarten wären hingegen einer aktuellen Recherche vorbehalten. 6

Teleteaching Teletutoring Telekooperation Mediengestütztes Selbstlernen M u l t i m e d i a - P l a t t f o r m Problemlösen in Gruppen Lehrgespräch Unterstützte Einzelarbeit Selbstlernen Fremdgesteuertes Lernen Selbstgesteuertes Lernen Abbildung: Grundtypen (mediengestützter) Lehr-Lernformen Die vier unterschiedenen Grundtypen bezeichnen idealtypische Konzepte, die sich aus der Perspektive von Lernenden und Lehrenden über eine didaktische Kernidee beschreiben lassen: Grundtyp Teleteaching Teletutoring Telekooperation Mediengestütztes Selbstlernen Perspektive des Lernenden Aneignung von Wissen durch die aktive Rezeption von (virtuellen) Dozentendarbietungen Erarbeitung von Wissen mit Unterstützung durch einen Teletutor und / oder die Einbettung in eine,virtuelle Lerngemeinschaft Problemlösen im Rahmen von (Präsenz- und) Telekooperation, zumeist in Gruppenkontexten Selbstgesteuerte Erarbeitung von Wissen; Bearbeitung von Aufgaben- und Problemstellungen mit Hilfe von Lernmedien, ggf. in Anbindung an Lerngruppen Perspektive des Lehrenden Vermittlung von definierten Lehrinhalten mit der Möglichkeit von Rück- und Nachfragen Unterstützung der Wissenserarbeitung der Lernenden durch das Angebot bzw. die Einforderung von Teledialogen (fachliche Hilfen, Rückmeldungen, Aufforderungen u.a.) Moderation und Koordination der Kooperationsprozesse in unterschiedlicher Eingriffsintensität Entwicklung bzw. Auswahl geeigneter Lernmedien; Organisation einer sozial-kommunikativen Einbettung des mediengestützten Lernens Abbildung: Beschreibung der Grundtypen aus der Perspektive von Lernenden und Lehrenden Im Folgenden sollen zunächst die Grundidee sowie einige Befunde aus Piloterprobungen im Hinblick auf die Grundtypen skizziert werden.... Teleteaching Grundidee Teleteaching kann vom Schreibtisch ( Desktop-teaching ) oder aus einem Seminarraum bzw. Studio heraus erfolgen. Der Lehrende ist nicht präsent, sondern er kommuniziert mit den Lernenden über die Telekommunikationsnetze. Die Vortragseinheiten können zudem aufgezeichnet und asynchron als sog. Lecture-on-Demand für die Lernenden verfügbar gemacht werden. Aktuell werden u.a. in Weiterbildung und Personalentwicklung ( Business-TV ) zahlreiche Pilotanwendungen erprobt. 7

Erfahrungen / Thesen Die synchrone Kommunikation stellt derzeit noch hohe technische Anforderungen, wenn die Lernenden interaktiv in die Lehre einbezogen werden sollen. In einer Evaluation verschiedener Teleteaching-Veranstaltungen zeigten sich folgende Probleme 3 : Zahlreiche technische Schwierigkeiten. In der Ausgestaltung des Teleteaching werden die didaktischen Potenziale im Hinblick auf Veranschaulichung und Interaktivität nur selten genutzt. Es gibt nachdrückliche Hinweise darauf, dass das Kommunikationsniveau zwischen Dozenten und Lernenden weiter sinkt. Die transparenzschaffende Öffentlichkeit der Teleteaching-Übertragung begrenzt bei einem Teil der Lehrenden die Bereitschaft zur Teilnahme. Das Medium setzt neue Kommunikationsregeln: gewöhnungsbedürftige Sprachverzögerungen und der Umstand, dass das gleichzeitige Sprechen allein das akustische Verstehen unmöglich macht, erfordert von den Teilnehmern eine strenge Kommunikationsdisziplin.... Teletutoring Grundidee Das Konzept des Teletutoring verbindet das selbstgesteuerte Lernen mit der Möglichkeit, bei Bedarf auf die Unterstützung durch einen personalen Teletutor oder durch andere Lernende im Rahmen einer virtuellen Lerngemeinschaft via Newsgroup / Chat zurückgreifen zu können. D.h. es werden entweder bilateral über einen Tutor oder multilateral über eine Newsgroup Fragen und Lösungsentwürfe eingebracht oder eine Rückmeldung eingefordert. Das Netz wird sozusagen zum medialen Notausgang bei einem auftretenden Kommunikationsbedarf. Bei den Lernenden könnte auf diese Weise die Fähigkeit gefördert werden, gezielt Fragen zu stellen. Die Telekommunikation zwischen Lernenden und Teletutor erfolgt dabei synchron oder asynchron. Neben der technischen Grundlage (Text-Mail, Voice-Mail, Videobild) und der Organisationsform (synchron, asynchron) ist die Zahl der angeschlossenen und zu betreuenden Teilnehmer für die Qualität des Teletutoring von Bedeutung. Erfahrungen / Thesen Die technisch vermittelte Kommunikation besitzt eine spezifische Aura. Durch den Ausfall einzelner Merkmale einer Face-to-Face-Kommunikation verläuft sie i.d.r. anonymer und damit sanktionsfreier als diese, was zu unterschiedlichen Wirkungen bei den Kommunizierenden führen kann. Die Analyse von Mail-, Chatgroup- und Videokonferenzkommunikation liefert Anhaltspunkte dafür, dass sich Formen des entpersonalisierten Teledialogs angstfreier, experimentierfreudiger und enthemmter vollziehen. Das vergleichsweise geringe Maß an sozialer Kontrolle reduziert zum einen die unmittelbare Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, zum anderen werden die Äußerungen der Kommunikationspartner als unverbindlicher und daher weniger fordernd empfunden. Auch fehlt der Rückmeldung auf eigene Äußerungen die Sanktionskraft, die etwa dem personalen Feedback durch einen Lehrenden eigen ist. Telekommunikation wird zudem häufig als statusnivellierend charakterisiert, weil die sozialen Kontexthinweisreize fehlen. Nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkten nonverbalen Kommunikationsebene verläuft der Dialog zumindest in der Anfangsphase zumeist stärker aufgaben- und weniger bezie- 3 Vgl. MAYR 1999. 8

hungsorientiert. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass viele der festgestellten Effekte verschwinden, wenn länger eingespielte Gruppen untersucht werden. In Gruppen, die über einen längeren Zeitraum hinweg zusammenarbeiten, werden z.t. Statusunterschiede aufrechterhalten und eine soziale Identität entwickelt, mit der wiederum der normative Einfluss steigt. 4 Es ist eine offene Frage, inwieweit die technisch bedingte Formalisierung der Kommunikation wichtige Dimensionen des Lernens zurückdrängt oder nur in andere Bahnen lenkt. TENBERG weist auf die Bedeutung der informellen Kommunikation hin, die sich jenseits der Hauptstränge von Lehren und Lernen ereignet. Sie kann dem Lernenden dazu dienen, wesentliche Kontextinformationen über die Mitlernenden und den Lehrenden zu erwerben (z.b. Selbstkundgabe von Interessen, Engagement, Unsicherheit), inhaltlich nicht oder falsch Verstandenes zu klären, sich der eigenen Lernfortschritte zu vergewissern u.a.m. Im virtuellen Raum fehlen die Direktheit, die Unausweichlichkeit und die Verbindlichkeit der Kommunikation, d.h. die Rolle des Einzelnen wird optional, er kann sich der Kommunikation in einem höheren Maße entziehen. Dieser Sachverhalt kann sehr unterschiedlich auf den Lernenden wirken, d.h. die reduzierte soziale Intensität und informelle Kommunikation bzw. die erhöhte Anonymität können je nach Präferenz von einem Lernenden entweder als hilfreich oder auch als störend für das Lernen beurteilt werden. Die Lernenden nutzen eine Newsgroup häufig nur als Informationsquelle, sie reagieren selten auf die eingestellten Fragen. Die Newsgroup wird weniger zur Erörterung offener Fragen, sondern zum Abrufen vermeintlich richtiger Antworten benutzt (Verstärkung einer Nehmer-Haltung). Die Qualität der Beiträge in einer Newsgroup ist ohne externe Unterstützung zumeist niedrig (Gefahr der Verbreitung von Diletantismus). Newsgroups sollten daher durch Tutoren bzw. Moderatoren koordiniert und immer wieder neu belebt werden. Ein solcher Moderator hätte die Aufgabe, durch Fragen und Impulse die Diskussionen zu entfachen, Teilnehmer zu Beiträgen aufzufordern, diskrepante Beiträge zusammenzufassen und für die weitere Diskussion aufzubereiten, Zwischenergebnisse festzuhalten u.a.m. Bei synchronen Kommunikationsmedien wie dem Chat laufen die Äußerungen der Teilnehmer häufig gleichzeitig und ohne Bezug aufeinander. Entsprechend wird die Kommunikation schnell unübersichtlich und qualitativ unbefriedigend. Demgegenüber erlauben asynchrone Medien ein höheres Maß an Reflexion und Austausch.... Telekooperation Grundidee Als konstitutives Merkmal der Telekooperation soll die gemeinsame Entwicklung einer Problemlösung gelten. 5 Das Problem wird über eine größere räumliche Distanz mit Hilfe der Telekommunikationsnetze bearbeitet. Technisch erfolgt der Austausch i.d.r. über Mail (asynchron) oder Videokonferenz (synchron). Die Telekooperation wird im Rahmen eines problemorientierten Lernens durch eine mehr oder weniger komplexe Lernaufgabe getragen (etwa eine Fallstudie), die in Anlehnung an konstruktivistische Lernmodelle als (zumeist ar- 4 5 REINMANN-ROTHMEIER / MANDL 1999, S. 33 mit Bezugnahme auf LEA / SPEARS. Aus dem Schulbereich sei exemplarisch der Austausch zwischen deutschen und israelischen Schülern über den Holocaust genannt, der eingeleitet wurde über die gemeinsame Lektüre von Kurzgeschichten von Ida Fink, die als polnische Jüdin das Warschauer Ghetto und schließlich den Holocaust überlebte (vgl. HANSEN 1997). 9

beitsteilige) Gruppenaufgabe definiert wird. Durch die Nutzung multimedialer Möglichkeiten (z.b. Videosequenzen) kann die Aufgabe mit hoher Authentizität eingeführt werden. Sie kann mit einem hohen oder niedrigen Anleitungsgrad verbunden werden (z.b. Zeitplan, Arbeitsplanung, Informationsquellen). Erfahrungen / Thesen Zentral für den positiven Verlauf der Telekooperation ist die Grundlegung einer geeigneten Problemstellung. Das Problem muss kooperativ bearbeitbar sein, wobei sich im Idealfall die unterschiedlichen Wissensressourcen der Teilnehmer so ergänzen, dass der Leistungsvorteil einer Gruppenlösung zum Tragen kommen kann. Je komplexer, mehrdeutiger, offener und abstimmungsbedürftiger die Problemstellung ist, desto reichhaltiger sollten die Möglichkeiten des Kommunikationsumfeldes beschaffen sein. Während für einfache und eindeutige Aufgaben ein textbasierter Austausch ausreichen kann, erfordern komplexe Probleme eher eine videobasierte Kommunikation, ggf. ergänzt durch Face-to-Face-Kontakte. Die im Kontext des Teletutoring skizzierten Aussagen über die Kommunikationsprozesse gelten im übertragenen Sinne auch für die Telekooperation. Wenn sich die Gruppenmitglieder nicht persönlich kennen, sind zunächst eine geringe Statusorientierung in der Kommunikation und eine vergleichsweise hohe Aufgabenorientierung erwartbar. Der Kommunikationsfluss zwischen den Gruppen vollzieht sich i.d.r. schwerfälliger als in Face-to-Face-Situationen, zudem kann es zu einer Parteienbildung innerhalb der Gruppen an den Standorten kommen. Ferner besteht eine erhöhte Gefahr des Abbruchs der Kommunikation bei auftretenden Konflikten in der gemeinsamen Arbeit. Diese Tendenzen schwächen sich ab, wenn sich die Telekooperation über einen längeren Zeitraum vollzieht bzw. durch reichhaltige Kommunikationsumgebungen (z.b. Videokonferenz) getragen wird. Des Weiteren wurde beobachtet, dass sich die Teilnehmer in virtuellen Szenarien auf die veränderten Kommunikationsbedingungen einstellen und Kompensationsstrategien im Hinblick auf den Sprecherwechsel einsetzen. So verfassen sie im Vergleich zu Face-to-Face-Situationen zwar wenige, dafür aber vergleichsweise lange Äußerungen. Der Koordinationsaufwand im Hinblick auf den Umgang mit der Technik ist zu Beginn der Telekooperation beträchtlich, wenn die Lernenden mit der Technik noch nicht vertraut sind (z.b. durch Aufschreiben der Gedanken bei Mails, Ausrichten der Kommunikation auf die technischen Apparaturen bei Video). Entsprechend kann die inhaltliche Arbeit an der Problemstellung in den Hintergrund treten. Mit zunehmender Dauer und Gewöhnung lässt dieser Belastungsfaktor nach. Die Erkenntnisse über den Verlauf und den Erfolg des Lernens im Rahmen der Telekooperation sind insgesamt noch gering. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Gruppenerfolg und dem Lernerfolg der Gruppenmitglieder. Einzelne Untersuchungen konzentrierten sich auf die Frage, in welchem Maße (auch verglichen mit der Face-to-Face- Gruppenarbeit) geteiltes bzw. ungeteiltes Wissen im kooperativen Prozess der Problemlösung zum Einsatz kommen. Eine Studie von GRÄSEL u.a. führt zu dem Ergebnis, dass die Lernenden in der telekooperativen Problembearbeitung vergleichweise selten auf ihr Vorwissen zurückgreifen. Stattdessen arbeiten sie primär mit den (für alle bekannten) Informationen aus der Problemvorgabe. FISCHER / MANDL bestätigen den begrenzten Einsatz von ungeteiltem Wissen, sehen darin aber kein Spezifikum der Telekooperation, sondern erkennen es gleichermaßen als ein wesentliches Merkmal beim kooperativen Problemlösen in Face-to-Face-Situationen. Als Konsequenz aus den identifizierten kritischen Ereignissen ließe sich u.a. empfehlen, dass die Teilnehmer an der Telekooperation wie schon im Rahmen einer sozial-kommunikativen Gruppenarbeit auf die spezifischen Anforderungen vorbereitet werden sollten. So könnte vor der ersten oder zwischen aufeinanderfolgenden Sitzungen bewusst 10

auf mögliche Schwierigkeiten eingegangen, es könnten Kommunikationsregeln eingeführt oder Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf kritische Ereignisse erörtert werden. Entsprechend ist es i.d.r. erforderlich, dass virtuelle Seminare nicht nur in ihrer sachlichen, sondern auch in ihrer kommunikativen Dimension betreut und koordiniert werden. Entsprechend könnten sich die Impulse des Lehrenden sowohl auf die Unterstützung der sachlichen Problemlösungsprozesse als auch auf die Gestaltung der Kommunikationsprozesse konzentrieren. Wie schon bei den Newsgroups, können auch virtuelle Seminare durch die Inszenierung geheimer Rollen (z.b. Antreiber, Provokateur, Motivator) beeinflusst und unterstützt werden.... Mediengestütztes Selbstlernen (individuell / in Gruppen) Grundidee Für ein Lehrgebiet (Fach / Lernfeld u.a.) wird ein Bestand an grundlegenden Lernressourcen definiert und im Rahmen einer Multimedia-Plattform verfügbar gehalten. Diese Lernressourcen stellen eine elektronische Mediothek dar, sie erweitern das Potenzial an traditionellen Materialien (z.b. Bücher, Skripte, Aufgabensammlungen) um neue Formen. In besonderer Weise sind solche Medien angesprochen, die über Printmedien hinausgehen oder die einer kontinuierlichen Aktualisierung unterliegen. Sie können unterschiedliche didaktische Funktionen wahrnehmen: Anschauliche Präsentation von Lerninhalten, Überblick und Zusammenfassung über ein Lerngebiet, Anregung und Strukturierung des Selbststudiums. Im Einzelnen: Unterschiedliche Varianten einer Lehr- bzw. Informationssoftware, die häufig auch miteinander verknüpft sind: Die für einzelne Teilgebiete geeigneten (selbst- bzw. fremdproduzierten) Angebote an Lehrsoftware (z. B. die Vielzahl von Tutorials und Simulationsprogrammen im Bereich der Ökonomie, Informatik oder Naturwissenschaften). 6 Problemrelevante Informationen aus dem Web, Arbeitsmaterialien, Literaturlisten sowie Volltext-Literaturquellen. Videosequenzen, Animationen, Simulationen und andere Medien zur Veranschaulichung bestimmter Sachverhalte (im darbietenden Sinne oder zur Einführung einer Fall- / Problemaufgabe). Fragen, Übungsaufgaben, Problemstellungen unterschiedlicher Komplexität, die als Ausgangsimpuls zur Erarbeitung neuer Lerninhalte, zu deren Übung oder als Anwendungstransfer auf praxisbezogene Problemsituationen die- 6 In diesem Zusammenhang erscheint hervorhebenswert, dass sich die Grenze zwischen Lernen und Unterhaltung zunehmend verwischt (sog. Edutainment ). Dies zeigt sich u.a. am Fernsehen, wo klassische Bildungsangebote (z.b. Telekolleg) von immer mehr Sendern aus dem Fernsehen verbannt und ins Internet verlagert werden. Bildungs botschaften werden demgegenüber in Spielhandlungen verpackt und als Unterhaltung dargeboten. Aus didaktischer Perspektive stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie Spiel, Unterhaltung und Lernen zielbezogen miteinander verbunden werden können. 11

nen. Eine Variante bilden auch die sog. web-quests 7. Die Medien bilden den Bezugspunkt für die Gestaltung der Lernprozesse, wobei das Lernen individuell oder im Rahmen von Lerngruppen erfolgen kann. Zudem kann das mediengestützte Selbstlernen in klassische Formen der Präsenzlehre integriert werden. Erfahrungen / Thesen Eine Kernfrage im Rahmen des mediengestützten Selbstlernens ist der Grad an Offenheit bei der Einführung der Aufgaben- und Problemstellungen. Je offener die Lernumgebung, desto höhere Anforderungen stellt ihre Bewältigung an die Selbstlernkompetenz der Lernenden. Die Anforderungen im Hinblick auf eine stärkere Selbststeuerung des Lernprozesses trifft bei einem bedeutenden Teil der Lernenden zunächst auf gegenteilige Lerngewohnheiten. Das selbstgesteuerte Lernen dürfte in besonderer Weise jene Lernenden bevorzugen, die bereits eine hohe Lernmethodenkompetenz ausgebildet haben, insofern einen Polarisierungseffekt bewirken. Zur Abfederung könnte der Selbststeuerungsgrad schrittweise erweitert werden, d.h. insbesondere zu Beginn des Lernens wären verstärkt personale Unterstützungen bereitzustellen (z.b. Tutoren, guided tours als Einführung in das Lerngebiet, flankierende Veranstaltungen zur Entwicklung notwendiger Methoden- und Sozialkompetenzen). Vor diesem Hintergrund drückt die Frage, inwieweit instruktive oder konstruktive bzw. vermittlungs- oder entdeckungsorientierte Strategien des Lehrens und Lernens zu präferieren sind, einen falschen Gegensatz aus. Korrespondierend zu den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen können beide Strategien ihre Berechtigung besitzen, d.h. sie stehen nicht konträr zueinander, sondern können sich sinnvoll ergänzen. Es ist bei vielen Lernenden von einer begrenzten Bereitschaft auszugehen, sich dem vermeintlichen Mehr an Anstrengung (im Rahmen einer möglichst arbeitsökonomischen Vorbereitung auf die Prüfung) unterziehen zu wollen. Insbesondere die eigenständige Informationsrecherche (z.b. im Internet) bedarf i.d.r. eines hohen Anreizes, bevor sich die Lernenden einem solchen Aufwand aussetzen. In jedem Fall muss die Prüfung auf die geforderten Kompetenzen abgestimmt sein. Das Angebot an multimedialer Lernsoftware ist zwar beträchtlich, aber nur wenige Programme sind als Fertigprodukt einsetzbar. Entweder repräsentieren sie inhaltlich nur teilweise die angestrebten Lerninhalte, und / oder sie besitzen wesentliche methodische Schwächen. Vor diesem Hintergrund bedarf der Einsatz von Lehrsoftware zumeist eine Anpassung an die verfolgte Lehrkonzeption. Demgegenüber besteht ein hoher Aufwand in der Entwicklung solcher Medien, die die spezifischen Potenziale der Technik ausschöpfen und über die zumeist verbreiteten textbasierten Medienangebote hinausgehen (z.b. Lehrsoftware mit einem hohen Anteil an Video- oder Interaktionssequenzen). Die Frage nach der Qualität von Lernsoftware kann nicht nur im Hinblick auf die medialen Merkmale beantwortet werden, sondern sie ist auch im Kontext der Anwendungsbedingungen zu beurteilen. Die Entwicklung didaktischer Materialien (z.b. kurze Lehreinheiten, Portale mit geeigneten Web-Adressen) kann selbst kooperativ im Rahmen von Projekten (unter Einbeziehung von Lernenden) organisiert werden. 7 Vgl. ABPLANALP 1999. Eine web-quest besteht i.d.r. aus einer Einführungsinformation, einer anregenden Problemstellung, einer Beschreibung des Prozesses zur Erarbeitung einer Problemlösung und einer Auswahl geeigneter Informationsquellen. Die Analogie zu einem netzbasierten Leittext drängt sich auf. 12

Fazit: Auch wenn die Pilotansätze primär das technisch Machbare und weniger das didaktisch Innovative zeigen, so lässt die Darstellung der Grundtypen sowohl die didaktischen Potenziale als auch die Grenzen in ihrer Umsetzung erkennen. Die Grenzen bestehen zusammengefasst in zwei Punkten: Die technikzentrierte Betrachtung lässt einen Teil des immanenten didaktischen Potenzials noch ungenutzt (vgl. Teleteaching). Die Einbettung in umfassende Lernumgebungen, sowohl im Sinne der Verknüpfung einzelner Grundtypen als auch der Verbindung von sozialen Präsenz- und medialen Selbstlernphasen, erfordert die Integration der Einzelansätze in eine gesamtdidaktische Konzeption. Die neuen Medien werden nicht additiv den bestehenden Medien hinzugefügt, sondern mit den personalen Lehr- und Beratungsangeboten verzahnt. Mit anderen Worten: Die technischen Potenziale müssen ziel- und zielgruppenbezogen inszeniert werden! Es geht also letztlich darum, die Neuen Medien nicht als besseres Buch oder als Alternative zum Overheadprojektor einzusetzen, sondern sie zur Weiterentwicklung der didaktischen Qualität einer Bildungsmaßnahme oder Institution zu nutzen. Oder um das oben verwendete Bild wieder aufzunehmen: Das Auto gleicht nicht mehr so sehr der Pferdekutsche, sondern es erhält ein eigenes Profil. Die didaktische Arbeit erschöpft sich nicht darin, alte Lehrgewohnheiten auf eine neue Technik zu übertragen, sondern die neuen didaktischen Potenziale für die Erreichung aktueller Ziele nutzbar zu machen. Eine didaktische Perspektive auf die Neuen Medien wird sich nicht darauf begrenzen, das passende Medium zu suchen, sondern das Medium für die didaktischen Ziele passend zu machen. 3.2 Zielbezüge Welche Zielbezüge können in diesem Zusammenhang aufgenommen und durch die Anwendung der neuen Medien verfolgt werden? Ohne auf die Besonderheiten einzelner Fächer, Berufsfelder oder Institutionen einzugehen, will ich einige Bezüge aufnehmen und thesenartig mit Formen des multimedialen und telekommunikativen Lernens verknüpfen: Es wird (eigentlich schon seit Jahrzehnten) kritisiert, dass sich Schule und Unterricht weithin auf die Vermittlung und Prüfung von atomisiertem Faktenwissen beschränken, hingegen anspruchsvollere kognitive Lernziele auf der Ebene des kritischen Denkens und der Anwendung des Wissens auf praktische Problemstellungen zu kurz kommen. Als empirische Normalform eines solchen Unterricht dominiert zumeist das eng geführte, gelenkte Lehrgespräch. Als Ergebnis entstände zumeist ein träges Wissen, das zwar in Prüfungen reproduziert, in der Praxis hingegen häufig nicht angewendet werden kann. 13

Das selbstgesteuerte, interaktive Lernen kommt demgegenüber meist zu kurz. So gelinge es nur begrenzt, bei den Lernenden eine aktive Lernhaltung aufzubauen und das interaktive, kooperative Lernen zu kultivieren. Schließlich werden die Lernenden nur begrenzt als Mitverantwortliche und Gestalter von Schule und Betrieb gefordert. Entsprechend werden die für viele Berufsfelder so zentralen Kompetenzen wie Verantwortungsbereitschaft und Sozialkompetenzen nur punktuell angesprochen und gefördert. Inwieweit kann durch den Einsatz der Neuen Medien ein Beitrag zur besseren Ansprache dieser Ziele geleistet werden? Ich will mich auf drei exemplarische Hinweise beschränken: 1. Multimedia und Telekommunikation ermöglichen neue Formen der kognitiven Aneignung von Lerninhalten! a) Möglichkeiten der anschaulichen Präsentation von Lerninhalten durch Integration von Film, Standbild, Animation, Audio und Text in einem einzigen Medium. Durch die Integration von Video- und Audiosequenzen können beispielsweise emotionale und affektive Aussagen besser transportiert werden, etwa bei der Darbietung von Fallstudienmaterial. Die Anschaulichkeit kann auch dadurch wachsen, dass die medialen Darstellungen durch den Lernenden unterbrochen oder wiederholt aufgerufen werden können. b) Neue Formen der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden (z.b. Teletutoring, Newsgroup, virtuelle Seminare). c) Möglichkeiten einer Individualisierung der Wissensaneignung und des Selbstlernens durch eine raum- und/oder zeitunabhängige Bereitstellung der Lerninhalte und ihre Erarbeitung nach individuellen Lerngeschwindigkeiten (z.b. Learning-on-Demand, Teleteaching, mediengestütztes Selbstlernen). 2. Multimedia und Telekommunikation ermöglichen Lernumgebungen, die stufenweise die Entwicklung von Formen des selbstgesteuerten Lernens bzw. der Lernmethodenkompetenz unterstützen! Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass Lernmethodenkompetenz bei vielen Lernenden in der Berufsbildung nicht als Voraussetzung, sondern als eine eigenständige Zieldimension des Lernens verstanden werden muss. 8 Vor diesem Hintergrund wird das spezifische Potenzial der neuen Medien darin gesehen, die Lernprozesse so zu arrangieren, dass selbst- und fremdgesteuerte Lernschritte zielgruppengerecht miteinander verbunden werden. Ausgehend von einer aufgebauten Problemstellung können über Multimedia (z.b. hypermediale Hilfesysteme, Internet-Ressourcen) bzw. Telekommunikation (z.b. Teletutor) Unterstützungsangebote für den Lernprozess bereitgestellt 8 So ist bekannt, dass Formen des (mediengestützten) selbstgesteuerten Lernens insbesondere solchen Personen Schwierigkeiten bereiten, die ein begrenztes Vorwissen über den Lerninhalt, rezeptive Lerngewohnheiten sowie eine geringe Lerndisziplin besitzen, eher unsicher und ängstlich sind (Misserfolgsmotivation) und hohe soziale Kontaktbedürfnisse mit dem Lernen verbinden. Der Grad an Selbststeuerung hängt mithin ganz wesentlich von den Lernvoraussetzungen ab es ist wie in der Medizin: je nach Situation kann eine bestimmte Dosis eines Medikaments gesundheitsfördernd oder krankheitsverstärkend wirken! 14

werden, die der Lernende bei Bedarf bzw. beim Scheitern seiner selbstgesteuerten Lernversuche nutzen kann. Die besondere Leistungsfähigkeit wird dabei nicht in der Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens an sich gesehen hier stände eine Vielzahl anderer Methoden zur Verfügung, sondern in der raum- und zeitunabhängigen Bereitstellung von gestuften Hilfsangeboten. 3. Die Telekommunikation ermöglicht (neue) kooperative Lernumgebungen, in denen auch ein Zugang zu Kommunikationspartnern hergestellt wird, der ansonsten nur mit einem hohen Aufwand realisierbar wäre! Zum einen: Multimedial und telekommunikativ unterstütztes Lernen muss nicht isoliertes, zurückgezogenes Lernen bedeuten, sondern es kann in eine Lerngemeinschaft eingebettet werden und zudem durch Tutoren u.a. betreut werden. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für die Gestaltung von Kommunikation und Gruppendynamik. Das Eingangsbeispiel mag einen ersten Hinweis auf die Varianten einer kommunikativen Einbettung gegeben haben. Zum anderen: Im Rahmen einer technisch vermittelten Kommunikation können Lehrende und Lernende miteinander verbunden werden, bei denen die Kontaktaufnahme ansonsten einen vergleichsweise hohen Aufwand erforderte. So können Lernende beispielsweise mit Menschen aus anderen Ländern kommunizieren, in den Dialog mit räumlich weit entfernt sitzenden oder nur schwer zugänglichen Experten bzw. Lehrenden treten oder mit Lernenden aus anderen Organisationen kooperativ eine Problemstellung bearbeiten. Damit kann zum einen die Erfahrungsbasis beim Lernen erhöht werden, zum anderen können sich Formen der sozialen in eine technisch vermittelte Kommunikation verlagern und insofern die Intensität der unmittelbaren sozialen Erfahrungen reduzieren. Inwieweit die entstehenden Formen einer technisch vermittelten Kommunikation im Rahmen von Lernprozessen auch Potenziale zur Entwicklung von Sozialkompetenzen besitzen, ist derzeit eine offene Frage. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich will nicht die bestehende didaktische Praxis global verdammen, um in bewusster Polarisierung die Neuen Medien als Heilsbringer zu inszenieren. Vielmehr sehe ich sie als Anlass und als Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer Optionen mit erweiterten Möglichkeiten, getreu dem Motto: Die beste Methode ist der kontinuierliche Methodenwechsel. In diesem Kontext wird der Lehrende seine Rolle teilweise neu definieren müssen; er wird dabei vielleicht auch zu der Erkenntnis kommen, dass insbesondere die stupiden und ritualisierten Formen des Unterrichts (z.b. die quizartigen Formen des gelenkten Lehrgesprächs) ihre Berechtigung verlieren. Möglicherweise wird bei diesen Überlegungen deutlich, dass der Computer in bestimmten Aspekten der Lernunterstützung (z.b. in der Aufbereitung und Darstellung der Lehrinhalte) gleichwertig ist während der Lehrende in den anspruchsvolleren kommunikativen Bereichen unverändert seine Überlegenheit behält. Eine solche Betrachtung führt dann zu einer differenzierten Antwort auf die emotionalisierte Frage 15

nach der Zukunft des Lehrenden: Wird er nun überflüssig oder nicht? Beides ist richtig: Er besitzt in der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben eine starke digitale Konkurrenz, während er mehr Zeit bekommt, sich in professioneller Form auf die anspruchsvolleren, herausfordernden (und manche Lehrende heute überfordernden) Aufgaben im intellektuellen, kommunikativen und affektiven Bereich zu konzentrieren. Eine solche Erkenntnis scheint im Übrigen nicht unbedingt überraschend zu sein, denn sie vollzieht das nach, was sich in anderen Lebens- und Berufsbereichen schon fast eine Kalenderweisheit darstellt: Die Technik nimmt die einfachen Aufgaben ab und fordert dem Menschen ab, sich auf höheren Anspruchsebenen neu zu positionieren. Denken Sie beispielsweise an die Banken, in denen der Kassierer zunehmend durch den Geldautomaten und die Datentypistin im Giroverkehr durch das Homebanking ersetzt wird zugleich werden jedoch dem Bankmitarbeiter anspruchsvolle Kompetenzen einer kundenorientierten Beratung abverlangt. 3.3 Implementationsfaktoren Der Weg von der Potenzialität zur Realisation folgt im Hinblick auf ein konkretes Anwendungsfeld einem spezifischen Implementationsprozess. Dessen Qualität entscheidet darüber, ob die Potenziale versanden oder zu einem innovativen Plus im Hinblick auf die Förderung der oben skizzierten Zielprojektionen führen. Im Folgenden sollen daher einige der kulturellen und strukturellen Rahmenbedingungen skizziert werden, die sich im Kontext der Implementierung von mediengestützten, netzbasierten Lernumgebungen als wesentlich gezeigt haben: Implementationsressourcen Die Aussage, dass nicht nur für die Entwicklung, sondern auch für die Implementierung neuer Medien bzw. Lernumgebungen Ressourcen vorgesehen werden müssen, erscheint trotz ihrer Selbstevidenz erwähnenswert. Dazu zählen zunächst Personalressourcen in Form von wirksamen Fach- und Machtpromotoren, die das Projekt in der Organisation vorantreiben. Daneben sind Zeitressourcen einzuplanen, die u.a. für die kontinuierlichen Informationen der Betroffenen, das Eingehen auf wahrnehmbare Widerstände und Einwände, die Evaluation der Erprobungen und die Rückmeldung über Erfolge und Mißerfolge anfallen. Ressourcen für die Bestandspflege In technikgestützten Gestaltungsfeldern ist zu gewährleisten, dass die Ersatzbeschaffung bzw. Bestandspflege in notwendigem Maße erfolgen. Eine überaltete oder defekte Hardwareausstattung (z.b. in Schulen) kann dazu führen, dass mit hohem Aufwand entwickelte Lernumgebungen aufgrund der fehlenden technischen Voraussetzungen nicht umsetzbar sind. Kompatibilität der Konzepte mit Curricula und Prüfungen Entwicklung der Lehrkompetenz Die skizzierten Konzeptionen versetzen den Lehrenden in neue Rollen. Das didaktische Handeln als Teletutor, Teleteacher, Katalysator von Telekoope- 16

ration oder Formen des mediengestützten Selbstlernens erfordern neue Lehrkompetenzen, die im Rahmen der Lehrerbildung erst ansatzweise entwickelt werden. 9 Gestaltung der Lernkultur Ein schwer greifbarer Bereich ist die Beeinflussung der Lernkultur. Damit sind die Gewohnheiten und Einstellungen angesprochen, die sich traditionell mit dem Lernen verbinden. Dies betrifft auf Seiten der Lernenden die Veränderung der Vorstellung, dass Lernen primär rezeptiv und fremdgesteuert erfolgt. Im Einzelnen wird es darum gehen, die Lernenden schrittweise an ein selbstgesteuertes Lernen heranzuführen, auf dem Weg dorthin zwar Unterstützung anzubieten, diese dann aber möglichst früh abzubauen. Die Gestaltung der Lernkultur besitzt darüber hinaus noch weitere Facetten. So sind für ein selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Lernen die zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen zu sichern. Im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung bedeutet dies die Gewährleistung von Lernplätzen, an denen ein konzentriertes und ungestörtes Lernen möglich ist. Es bedeutet ferner die Akzeptanz des Lernens im Arbeitskontext, d.h. der Mitarbeiter darf sich nicht erwischt fühlen, wenn er vom Vorgesetzten oder von Kollegen beim Lernen beobachtet wird. Ferner muss der Status entsprechender Lernformen aufgebaut und gesichert werden: Solange etwa Führungskräfte in Präsenzseminaren weitergebildet werden, die Mitarbeiter sich hingegen primär mediengestützt weiterbilden sollen, könnte der Status des mediengestützten Lernens leiden. 4 Abschluss Je nach Perspektive mögen Sie die Darstellungen an der Grenze zwischen Potenzialität und Aktualität als Ermunterung oder mit Erschrecken aufnehmen. In jedem Fall bieten die Neuen Medien dem Lehrenden einen Anlass zur Überprüfung des pädagogischen Selbstverständnisses. Mit den Neuen Medien stehen wir nach Programmierter Unterweisung, dem Sprachlabor, Computer-Based-Training u.a.m. wieder einmal am alten Anfang: Es existieren erneut Potenziale für das Lernen, aber ob sich daraus für die Berufsbildung dauerhaft und in der Breite neue Realitäten entwickeln, scheint mir noch nicht entschieden zu sein. Insofern mache ich hier Schluss, ohne das Thema zu beenden! 9 Mittlerweile existiert eine Vielzahl von Weiterbildungsangeboten unterschiedlicher Dauer und Intensität; vgl. die Marktübersicht in managerseminare, September 2000, S. 74 75. Viele der Angebote besitzen selbst Komponenten des Online-Lernens. 17

Wem der Blick in die Zukunft nicht weitreichend genug erscheint, dem seien noch einige Erweiterungen hinzugefügt: Schon heute können Sie sich mit 3-D-Brillen und Datenanzügen ausstatten und beispielsweise in einen virtuellen Boxkampf oder in ein mittelalterliches Duell eintreten. Da sowohl der Druck- als auch der Geruchssinn stimuliert werden kann, verlangt die Wahrnehmung eines Unterschieds zur realen Wirklichkeit schon viel Phantasie. Wäre es da nicht der nächste Schritt, neben den audio-visuellen Kanälen der eingangs genannten Bildschirmlektion auch weitere Sinnesreize zu aktivieren. Es muss ja nicht der verräterische Geruch des Bohnerwachses sein, der an den Schulflur erinnert und emotionale Befindlichkeiten der Freude oder der Beklemmung auslöst. Schon gar nicht ist an die Wiedereinführung des Rohrstocks gedacht. Aber warum sollte es nicht möglich sein, mit Hilfe dieser Technik Lernprozesse an betrieblichen Apparaturen, mit vertrauten oder schwierigen Gesprächspartnern oder sogar in menschlichen Grenzerfahrungen auszulösen? Wäre das nicht ein Beitrag zur konstruktivistischen Didaktik, die einen so grossen Wert auf die Herstellung von multiplen Perspektiven auf die Lerngegenstände legt? Der nächste Schritt wäre die Definition von Avataren, die von den Lernenden als Repräsentanten der eigenen Person in die virtuelle Schule geschickt werden. Avatare erhalten durch die Schüler eine eigene Identität, mit der sie sich in den Räumen bewegen und handeln. Sie lernen anhand der Erfahrungen, die ihre virtuellen Stellvertreter in der virtuellen Welt machen... Oder denken Sie an die Möglichkeit der Kommunikation mit chat-botts virtuelle Gesprächspartner, die analog Weizenbaums ELIZA einen Dialog führt, bei dem der personale Gesprächspartner vor dem Computer nicht merkt, dass es sich um eine Maschine handelt. 18