Kinder mit psychischen Störungen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Sind Zwangsmassnahmen legitim?
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- Judith Bachmeier
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1 Kinder mit psychischen Störungen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Sind Zwangsmassnahmen legitim? PD Dr. iur. Sandra Hotz, Rechtsanwältin Institut für Familienforschung und -beratung, Universität Freiburg Lehrbeauftragte an den Universitäten Zürich, Basel 15. November 2017, Bern
2 INHALTSÜBERSICHT 1. Einleitung 2. Rechtsgrundlagen des Persönlichkeitsschutzes 3. Fürsorgerische Unterbringung einer minderjährigen Person 4. Schlussworte und Diskussion
3 KONTEXT (1) Seit 1. Januar 2013 ist das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (Art ZGB) in Kraft. Es löst das alte Vormundschaftsrecht ab. Vor 1981 gab es noch kein einheitliches Vormundschaftsrecht in der Schweiz. Rechtshistorisch sind die sog. administrativen Versorgungen ein düsteres Kapitel. Zweck des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts: Selbstbestimmung der betroffenen Personen soll gestärkt werden Solidarität in der Familie soll gestärkt werden Hilfe bedürftigen Personen zur Seite zu stehen, wenn ihre Interessen nicht anderweitig ausreichend gewahrt sind
4 KONTEXT (2) Behörden Eltern Schule Kind Med. Fachperson
5 KONTEXT (3) Rechtsgebiete Anspruch des Kindes auf Gegenüber wem? Persönlichkeitsrecht: körperliche/psychische Integrität Selbstbestimmung, Mitwirkung alle Personen Familienrecht: Betreuung, Erziehung Eltern Kindesschutzrecht: Medizinrecht: Schutz bei Kindeswohlgefährdung; Unterstützung, Beistand med. Betreuung, Pflege; Informed Consent KESB Med. Fachperson Schulrecht/ Inklusionskonzept Staat/Behörden
6 RECHTSGRUNDLAGEN DES PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (1) 1. Verfassungs- und völkerrechtlicher Rahmen Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit Art. 10 Abs. 2 BV: Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden ( ) rechtmässiger Freiheitsentzug mit dem Ziel, eine Krankheit zu verhindern ( ) sowie bei psychisch Kranken ( ) Soll die Freiheit eingeschränkt werden, braucht es neben gesetzlicher Grundlage, ein gewichtiges öffentliches Interesse und Verhältnismässigkeit.
7 RECHTSGRUNDLAGEN DES PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (2) Leitprinzip des Kindeswohls als öffentliches Interesse Art. 3 UN-KRK: Art. 11 Abs. 1 BV, Art. 41 Abs. 1 lit. g BV, Art. 67 BV Art. 12 UN-KRK Kindeswohl durch die Mitwirkungsrechte Konkretisierungen Art. 9 UN-KRK: Kind darf nicht gegen den Willen der Eltern von diesen getrennt werden, es sei denn es liege ein gerichtlich überprüfbarer Entscheid vor und die Trennung sei zum Wohle des Kindes Art. 20 UN-KRK: Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung gelöst wird ( ) hat Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates. Art. 25 UN-KRK: Kind hat ein Recht auf regelmässige Überprüfung der von der Behörde gewährten Behandlung
8 RECHTSGRUNDLAGEN DES PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (3) 2. Zivilrecht Art. 28 ZGB Schutz der Persönlichkeit (1) Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen. (2) Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist. Rechtfertigende Einwilligung & Informed Consent (kant. Patienten- /Gesundheitsgesetze): Stellvertreterentscheide, ggf. hypothetische Einwilligung Selbstbestimmungsrecht (UF) & Mitwirkungsrecht (UUF)
9 RECHTSGRUNDLAGEN PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (4) Art. 16 ZGB Urteilsfähigkeit Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, die nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln. Prinzip der Relativität UF ist bewusst nicht festgelegt nach Alter Terminus der psychischen Störungen richtet sich nach medizinischen Kriterien (DSM V, IDC-10); med. Fachperson beurteilt, ob UF/UUF. Rechtlich entscheidet ein Gericht bzw. eine Behörde in Anwendung von Art. 16 ZGB Art. 450e ZGB: Pflicht zu einem gerichtlichen Entscheid auf med. Gutachten
10 RECHTSGRUNDLAGEN PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (5) Art. 19c ZGB Höchstpersönliche Rechte (1) Urteilsfähige handlungsunfähige Personen üben ihre Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbständig aus; vorbehalten bleiben Fälle, in welchen das Gesetz die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorsieht. (2) Für urteilsunfähige Personen handelt der gesetzliche Vertreter, sofern nicht ein Recht so eng mit der Persönlichkeit verbunden ist, dass jede Vertretung ausgeschlossen ist.
11 RECHTSGRUNDLAGEN PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ (6) Zusammenfassend besagt Persönlichkeitsrecht allgemein, dass 1.) urteilsfähige Minderjährige grundsätzlich selbst über ihre medizinische Behandlung entscheiden, denn das ist ein höchstpersönliches Rechte. Verletzungen können nach Art. 28ff. ZGB (ggf. Art. 307 ZGB) geltend gemacht werden. 2.) urteilsunfähige Minderjährige im Entscheidungsprozess höchstpersönliche Angelegenheiten, zu ihrer Diagnose und der Wahl und Ort ihrer Therapie stets miteinzubeziehen sind und ihre Wünsche aufgrund ihres Mitwirkungsrechts als Teil des Persönlichkeitsrechts zu berücksichtigen sind.
12 RECHTSGRUNDLAGEN PERSÖNLICHKEITSRECHT (7) Mitwirkungsrechte des minderjährigen Person als Teil des Persönlichkeitsrecht stehen jenseits von Selbst- oder Fremdbestimmung Keine Urteilsfähigkeit nötig geltend machen; zur Aufsichtsbehörde
13 ÜBERSICHT DER MASSNAHMEN NACH KINDES(SCHUTZ)RECHT urteilsfähige Minderjährige nicht urteilsfähige Minderjährige entscheidet über Medizinische Behandlung Vorsorge per Pat verfügung Gericht anrufen: Art. 314b II ZGB (k)ein freiwilliger Eintritt in Klinik (Art. 427 ZGB) falls nötig/erwünscht: ergänzend/ ersetzend Gesetzliche Massnahmen zur Vertretung Eltern: Stellvertreterentscheide nach Art. 301 ff. ZGB (K)eine Klinikeinweisung nach Art. 310 I ZGB nötig? Behördliche Massnahmen Im Rahmen einer Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts Art. 310 ZGB Fürsorgerische Unterbringung sinngemäss n. Art. 314b ZGB i.v.m. Art. 426ff. ZGB Kindsvertretung n. Art. 314a bis Abs. 2 Ziff.1 ZGB (insb. FU) oder
14 FÜRSORGERISCHE UNTERBRINGUNG MINDERJÄHRIGER (1) Wer darf die minderjährige Person fürsorgerisch unterbringen? Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) im Rahmen der Aufhebung der Aufenthaltsbestimmungsrecht Art. 310 Abs. 1 ZGB Mehrheitlich bejaht wird auch, dass med. Fachpersonen Minderjährige auch einweisen dürfen aufgrund ihrer kantonalen Kompetenz zum FU (Art. 429 ZGB max. 6 Wo); Rolle der Eltern? Bei einer ärztlichen Einweisung die Zustimmung der Eltern nach Art. 310 ZGB nötig; ansonsten braucht es einen Behördenentscheid (inkl. Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts); Notfälle abgesehen. bzw. es besteht eine Mitteilungspflicht 35 II EG KESR ZH
15 FÜRSORGERISCHE UNTERBRINGUNG MINDERJÄHRIGER (2) Aufhebung des Aufenthaltsbestimmungsrechts nach Art. 310 ZGB Die Kindeswohlgefährdung ist nicht anders abwendbar. Gemäss Kindesschutzrecht n. Art. 314b ZGB finden die Bestimmungen zur FU nach Art. 426ff. ZGB sinngemäss Anwendung; und es wird wenn nötig, eine Rechtsvertretung für das Kind bestellt (Art. 314abis Abs. 2 Ziff. 1 ZGB) Vgl. FU nach Art. 426 ff. ZGB: urteilsunfähige/urteilsfähige minderjährige Person will nicht eintreten in eine geschlossene Einrichtung oder psychiatrische Klinik (Art. 314b ZGB) Behandlungs- und Betreuungsbedürftigkeit & keine andere Möglichkeit
16 FÜRSORGERISCHE UNTERBRINGUNG MINDERJÄHRIGER (3) Verfahrensregeln der FU nach Art. 430 ff. ZGB Med. Fachpersonen müssen die betroffene Person persönlich untersuchen (keine Ferndiagnosen, keine Fremddiagnosen der Angehörigen) Befunde, Gründe und Zweck der Unterbringung erklären Benachrichtigung einer nahestehenden Person/Vertrauensperson Untersuchungsentscheid ergeht schriftlich Beschwerderechte; auch von Angehörigen (Art. 439 ZGB; vgl. 450e) Art. 314b Abs. 2 ZGB: Anfechtungsrecht des urteilsfähigen Minderjährigen; inkl. für med. Zwangsbehandlung und Beschränkung der Bewegungsfreiheit n. Art. 439 Abs. 1 Ziff. 4, 5 ZGB) Behördenkontrolle (Art. 431 ZGB) KESB muss FU periodisch prüfen: 6 Monate nach Einweisung, 6 Monate danach, dann jährlich.
17 FÜRSORGERISCHE UNTERBRINGUNG MINDERJÄHRIGER (4) Bestimmungen zur medizinischen Behandlung gelten auch sinngemäss Erstellen eines Behandlungsplan und Zustimmung (Art. 433 ZGB) Erstellung eines schriftlichen Behandlungsplans durch die behandelnde Ärztin (Abs. 1) Zustimmung der Patientin nach gehöriger Aufklärung über die Gründe, den Zweck, die Art, die Modalitäten, die Risiken und Nebenwirkungen usw. (Abs. 2 und Abs. 3) urteilsfähige Minderjährige Art. 19c ZGB urteilsunfähige Minderjährige Art. 304 ZGB 2. Erstellen eines Behandlungsplans ohne Zustimmung (Art. 434 ZGB)? Ob sich eine Kompetenz des Chefarzt/-ärztin ohne Zustimmung der Eltern ergeben kann, Ist fraglich; und wird in der Lehre mehrheitlich verneint.
18 ZUR DISKUSSION... 1) Gemessen an der Tragweite des rechtlichen Eingriffs, ist ein allgemeiner Verweis auf Art. 426ff. ZGB erstaunlich wenig präzise; zumal das Beziehungsgeflecht noch komplexer ist als bei der FU einer volljährigen Person. Es ist etwa unklar, wo die Grenzen des Stellvertreterentscheides der Eltern liegen ) Jede Form der Zwangsmassnahme müsste rechtlich begründet im Kindeswohl liegen und unerlässlich sein. Was im Kindeswohl liegt, muss, Notfälle vorbehalten, umfassend geprüft und besprochen werden. - Wie wird das rechtlich und praktisch prozedural gewährleistet? Wird wirklich jede andere Massnahme geprüft, können das bspw. Ärztinnen/Ärzte (Ressource)? 3.) Kindeswohl als öffentliches Interesse: Wie wird mit empirischen Kenntnissen umgegangen, die belegen, dass ein Klinikaufenthalt/Therapieform nicht im Kindeswohl ist? Wie wird evaluiert, ob FU zum Wohlbefinden beigetragen hat? -
19 RECHTLICHE LÖSUNGSANSÄTZE Konzept der Intersektionalität Die Tatsache, dass diverse höchstpersönliche Recht des Kindes in mehreren wesentlichen Lebensbelangen (Gesundheit/Familie/Behörden) betroffen sind, sollte im Recht noch besser abgebildet werden. 1.) Materialer Ansatz: Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des Kindes als Persönlichkeitsrechte im Prozedere ausdrücklich festschreiben. 2.) Prozeduraler Ansatz Ablauf ergänzend in Leitlinien festhalten.
20 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
21 Zwei Diskussionsbeispiele Nora, 12 J., geht nicht mehr zur Schule. Sie wurde in der Schule ausgegrenzt und litt am Leistungsdruck. Es wird eine Erschöpfungsdepression diagnostiziert. Konkret manifestiert sich diese u.a. an Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen. Nora möchte zu Hause bleiben und schlafen. Die Eltern und die behandelnde Ärztin möchte Nora lieber in die Klinik einweisen. Mirco, 17 J., leidet an Schizophrenie. Die Wahnvorstellungen lassen sich mit Medikamenten relativ gut regulieren. Ausnahmsweise wird er gewalttätig. Er und seine Eltern möchten nicht, dass er stationär behandelt werden muss und die Eltern kümmern sich um Mirco. Die ältere Schwester S. findet nun aber (nicht zu Unrecht), dass die Eltern sehr erschöpft wirkten. Sie möchte, dass Mirco in einer Klinik unterbracht wird, damit sich v.a. ihre Eltern wieder erholen können.
22 WAS SIND ZWANGSMASSNAHMEN? Arten der Freiheitsbeschränkungen Freiheitsentziehende Massnahmen Einweisung in Klinik/Heim (Art. 426ff. ZGB) Strafvollzug, Polizeigewahrsam Zwangsmassnahmen in der Klinik Medizinische Zwangsbehandlung Art. 434 ZGB z.b. Ruhigstellen durch Medikation Bewegungseinschränkende Massnahmen vgl. Art ZGB mechanische, elektronische, pflegerische Massnahmen Freiheitsbeschränkende Massnahmen ohne Bewegungseinschränkung (Integrität) z.b. Drogenverbot
23 MEDIZINISCHE BEHANDLUNG (1) ambulante Behandlung nach der Einweisung in die Klinik Kantonales Recht massgeben Somatische Behandlung n. Art. 304 ZGB resp. Art. 378 ZGB Behandlungsplan erstellen Art. 433ff. ZGB Erklären der Behandlung in der Einrichtung (Zweck, Wirkungen, Nebenwirkungen & Alternativen ) Vertrauensperson ist wenn möglich beizuziehen Zustimmung zum Behandlungsplan Art. 433 ZGB Keine Zustimmung, Art. 434 ZGB 1) Urteilsfähige Patientin/Patient: keine Behandlung! 2) Urteilsunfähige Person: Pat Verfügung massgebend Chefärztin ordnet nach Rücksprache mit Eltern Massnahme schriftlich an (Art. 434 ZGB)
24 PERSÖNLICHKEITSSCHUTZ URTEILSUNFÄHIGER EINRICHTUNG Allgemeiner Persönlichkeitsschutz (ZGB 28) Recht auf Bewegungsfreiheit Recht auf physische/p sychische Integrität Recht auf Intim- und Privatsphäre Spezifische Bestimmungen KESR, sinngemäss nach Vogelpaar mitnehmen, Drogenverbot Vgl. Art. 382 ZGB Post öffnen Postgeheimnis Art. 386 ZGB Einschliessen in Zimmer, Sturzhose Bewegungseinschränkung Art. 383 ff. ZGB Ruhig stellendes Medikament (Bewegungseinschränkung) Verletzung der körper-lichen Integrität = Zwangsbehandlung Art. 383 ff. ZGB oder Art. 377 bzw. Art. 434
25 ZUM LEBEN IN EINER EINRICHTUNG (1) Willen/Wünsche Berücksichtigung der Wünsche der betroffenen Person (Art. 382 Abs. 2 ZGB) Wunschäusserung der urteilsfähigen oder urteilsunfähigen Person Im konkreten Zeitpunkt oder prospektiv In einem Vorsorgeauftrag, einer Patientenverfügung oder auch sonstwie erkennbar Betreffend: Zimmereinrichtung, Essgewohnheiten, Schlafgewohnheiten, Körperpflege, Seelsorge, ggf. Sterbebegleitung usw.
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