11 Grundfragen. I. Kollektives Arbeitsrecht. 1. Regelungsgegenstand
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- Nora Eberhardt
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1 11 Grundfragen I. Kollektives Arbeitsrecht 1. Regelungsgegenstand Das kollektive Arbeitsrecht umfasst das Tarifrecht und das Mitbestimmungsrecht im weitesten Sinne. Tarifrecht meint Koalitionsrecht, Tarifvertragsrecht, Schlichtungsrecht und Arbeitskampfrecht, Mitbestimmungsrecht das Mitbestimmungsrecht im engeren Sinne, das Betriebsverfassungsrecht und das Personalvertretungsrecht. 1 Kollektives Arbeitsrecht Tarifrecht Mitbestimmungsrecht Koalitionsrecht Tarifvertragsrecht Schlichtungsrecht Arbeitskampfrecht Mitbestimmungsrecht i.e.s. Betriebsverfassungsrecht für Arbeitnehmer (ohne leitende Angestellte) Betriebsverfassungsrecht für leitende Angestellte Personalvertretungsrecht Tarifrecht und Mitbestimmungsrecht regeln die Beteiligung der Arbeitnehmer durch ihre Vertreter an der Gestaltung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Das geschieht teilweise durch eigene Institutionen, die von außen auf die Willensbildung der Unternehmer einwirken Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen, teilweise durch Mitwirkung in den Unternehmensorganen Aufsichtsrat und Vorstand oder Geschäftsführung bei deren Willensbildung. Die Mitgestaltung von außen erfolgt durch Vereinbarung mit den Unternehmern oder durch Zustimmung zu ihren Entscheidungen. Hierfür stellt das kollektive Arbeitsrecht eigene Vertragstypen zur Verfügung: den Tarifvertrag auf der einen, die Betriebs-, 2 W. Hromadka, F. Maschmann, Arbeitsrecht Band 2, DOI / _11, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
2 2 11 Grundfragen Sprecherausschuss- und Dienstvereinbarung sowie die Regelungsabrede auf der anderen Seite. 2. Regelungsfragen 3 Das kollektive Arbeitsrecht muss in Parallele zum Bürgerlichen Recht folgende Fragen regeln: Vergleich Bürgerliches Recht / Kollektives Arbeitsrecht Rechtsträger Mittel rechtlicher Gestaltung Streitentscheidung Bürgerliches Recht natürliche Person juristische Person einseitiges Rechtsgeschäft Vertrag ordentliche Gerichte Schiedsgerichte Tarifrecht (Koalition) Tarifvertragspartei Tarifvertrag (Sozialpartnervereinbarung) Arbeitsgerichte Schiedsgerichte Schlichtung Betriebsverfassungsund Personalvertretungsrecht Betriebsverfassungsund Personalvertretungsorgane (Zustimmung) Regelungsabrede Betriebsvereinbarung/ Sprecherausschussvereinbarung/ Dienstvereinbarung Arbeitsgerichte Verwaltungsgerichte Einigungsstellen 4 5 (1) Wer ist Rechtsträger, d.h. wer kann Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen usw. abschließen und die Beteiligungsrechte im Rahmen der Betriebsverfassung wahrnehmen? Im Bürgerlichen Recht ist das die Frage nach Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit. Im Tarifrecht ist diese Frage Gegenstand des Koalitions-, im Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht des Organisationsrechts. (2) Welches sind die Voraussetzungen und die Wirkungen kollektivrechtlicher Regelungen? Im Bürgerlichen Recht befassen sich damit die Rechtsgeschäfts- und die Vertragslehre. Im Tarifrecht beantwortet diese Frage das Tarifvertragsrecht, im Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht das Recht der Vereinbarungen. Dabei gilt im Kollektivarbeitsrecht eine Besonderheit. Tarifverträge, Betriebs-, Sprecherausschuss- und Dienstvereinbarungen regeln nicht nur das Verhältnis der Vertragsparteien, von denen immer mindestens eine eine Kollektivmacht ist, miteinander, sondern auch zu Dritten: den Gewerkschaftsmitgliedern, der Belegschaft, ausnahmsweise auch zu Außenseitern. Die genannten Kollektivverträge sind Normenverträge.
3 I. Kollektives Arbeitsrecht 3 Kollektivvereinbarungen Tarifvertrag Betriebsvereinbarung Parteien Arbeitgeber, Arbeitgeberverband Gewerkschaft(en) Arbeitgeber Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat, Konzernbetriebsrat Rechtsnatur privatrechtlicher Normenvertrag privatrechtlicher Normenvertrag Abschluß schriftliche Vereinbarung schriftliche Vereinbarung Inhalt schuldrechtliche und normative Regelungen schuldrechtliche und normative Regelungen Normative Regelung a) Inhalt alles, was Inhalt des Arbeitsvertrages sein kann alles, was Inhalt des Arbeitsvertrages sein kann b) Regelungsgegenstand Inhalt, Abschluss, Beendigung der Arbeitsverhältnisse, betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen, gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien Inhalt, Abschluss, Beendigung der Arbeitsverhältnisse, betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen c) Kontrolle Rechtskontrolle Rechtskontrolle, nach Ansicht des BAG zusätzlich abstrakte und konkrete Billigkeitskontrolle d) Normadressaten Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Mitglieder von Tarifvertragsparteien sind, und der Arbeitgeber, der Partei des Tarifvertrages ist e) Wirkung unmittelbar und zwingend unmittelbar und zwingend f) abweichende Abmachung Betriebsvereinbarung: bei Öffnungsklausel; Arbeitsvertrag bei Öffnungsklausel oder günstigerer Regelung Unverbrüchlichkeit Verzicht nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich; keine Verwirkung; Ausschlussfristen nur bei Vereinbarung im Tarifvertrag Nachwirkung Weitergeltung mit unmittelbarer, aber nicht zwingender Wirkung Beendigung Zeitablauf; Zweckerreichung; Aufhebungsvertrag; ordentliche Kündigung, wenn vereinbart; außerordentliche Kündigung bei Nichteinigung über Abschluss oder Änderung Schlichtung, wenn vereinbart Arbeitskampf Arbeitgeber und Arbeitnehmer des Betriebs, Unternehmens oder Konzerns mit Ausnahme der leitenden Angestellten Arbeitsvertrag bei Öffnungsklausel oder individuell oder kollektiv günstigerer Regelung Verzicht nur mit Zustimmung des Betriebsrats; keine Verwirkung; Ausschlussfristen u. Abkürzung der Verjährung nur bei Vereinbarung im Tarifvertrag o. in einer Betriebsvereinbarung mitbestimmte Regelung: Weitergeltung; teilmitbestimmte Regelung, wenn aus sich heraus handhabbare Regelung; mitbestimmungsfreie Regelung: Beendigung, sofern nichts anderes vereinbart ist Zeitablauf; Zweckerreichung; Aufhebungsvertrag; ordentliche Kündigung, wenn Vertrag nicht für eine konkrete einmalige Angelegenheit gewollt; außerordentliche Kündigung; Wegfall der Geschäftsgrundlage in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten: Einigungsstelle; sonst Entscheidung durch den Arbeitgeber; Einigungsstelle nur, wenn vereinbart
4 4 11 Grundfragen 6 7 (3) Wie werden Konflikte zwischen den Tarif- und Betriebsparteien entschieden? Im Bürgerlichen Recht entscheiden die ordentlichen Gerichte oder die Schiedsgerichte. Im Arbeitsrecht entscheiden Rechtsstreitigkeiten die Arbeitsgerichte, im Tarifrecht teilweise auch Schiedsgerichte. Regelungsstreitigkeiten, d.h. Streitigkeiten über Fragen der Gestaltung von Arbeitsbedingungen, entscheidet im Tarifrecht die tarifliche Schlichtungsstelle, im Betriebsverfassungs- und im Personalvertretungsrecht die Einigungsstelle, eine betriebliche Schlichtungsstelle. Der Spruch der tariflichen Schlichtungsstelle ist allerdings nur verbindlich, wenn die Tarifparteien sich ihm vor- oder nachher unterwerfen. Tun sie das nicht, so muss eine Lösung notfalls durch Arbeitskampf gefunden werden. Der Privatautonomie entsprechen nach herkömmlichen Verständnis Tarif- und Betriebsautonomie. Zwischen Privat- und Kollektivautonomie sowie zwischen Tarif- und Betriebsautonomie bestehen aber qualitative Unterschiede. Geht man davon aus, dass nach unserem Verfassungssystem alle Legitimation aus zwei Quellen fließt aus der Freiheit des einzelnen Menschen und aus dem Willen des Volkes, dann kann es eine originäre dritte, intermediäre Kollektivautonomie nicht geben. Originär gestaltungsbefugt sind nur der Staat und die Arbeitsvertragsparteien. Tarif autonomie und Betriebs autonomie sind entweder der Staatsgewalt (Delegation) oder der Privatautonomie (Mandat) zuzuordnen. Im ersten Fall bewirkt die Kollektivautonomie Fremdbestimmung, im zweiten verwirklicht sie Selbstbestimmung. Die Tarifautonomie fließt aus der Privatautonomie. Arbeitgeber und Arbeitnehmer verschaffen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften durch ihren Beitritt das Mandat und damit die Legitimation zu ihrem Handeln. Die Betriebsautonomie beruht auf staatlicher Delegation. Die Arbeitnehmer legitimieren nicht mit Abschluss des Arbeitsvertrags die Arbeit des Betriebsrats, und sie legitimieren sie auch nicht durch Beteiligung an der Wahl. Dieser Unterschied muss sich beim Umfang der jeweiligen Regelungsmacht auswirken Kollektivrecht und Privatautonomie 8 9 Das kollektive Arbeitsrecht ist kein Selbstzweck. Es ist Hilfsmittel, um die im Arbeitsverhältnis typischerweise gestörte Vertragsparität auszugleichen und die Interessen des Einzelnen mit denen der Gesamtheit in Einklang zu bringen. Ersteres geschieht typischerweise durch das Tarifrecht, letzteres durch das Betriebsverfassungsrecht. Die Kollektivautonomie erlaubt es, auch im Arbeitsrecht an dem Vertrag als der Idealform selbstbestimmter Gestaltung festzuhalten. Da sich die Kollektivautonomie aus der Unterstützungsfunktion für die Privatautonomie rechtfertigt, muss sie in dieser ihre Grenzen finden. Das Günstigkeitsprinzip schafft die not- 1 Zu Vorstehendem Picker, NZA 2002, 761 (insbes. 768).
5 I. Kollektives Arbeitsrecht 5 wendige Öffnung. Gewerkschaften und Betriebsräte sind stärkere Verhandlungspartner als die Arbeitnehmer, so dass ihren Vereinbarungen eine größere Gewähr für einen gerechten Interessenausgleich zukommt. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung enthalten deshalb zwingendes Recht, das nicht zu Lasten der Arbeitnehmer abbedungen werden kann. Zumindest ungenau ist es aber, wenn den Kollektivverträgen eine größere Richtigkeitsgewähr zugeschrieben wird 2. Die Kollektivmächte haben nicht per se das richtige Bewusstsein, und sie hätten auch kein Recht, den Arbeitnehmern ihr Bewusstsein aufzuzwingen. Gewerkschaften und Betriebsräte verdanken ihre Existenzberechtigung den Dienstleistungen, zu denen sie berufen sind, und daran sind die Ergebnisse ihrer Arbeit zu messen. Gerade die jüngste Zeit hat das Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv- und Privatautonomie deutlich gemacht. Abertausende von Arbeitgebern und Arbeitnehmern haben die höhere Gerechtigkeit von Tarifverträgen als existenzbedrohende Bevormundung empfunden, der sie sich durch Tarifflucht entzogen. Im Interesse der Rechtskultur bedarf es hier einer neuen Justierung. Die Diskussion darüber wird vor allem unter den Stichworten gesetzliche Öffnungsklauseln, Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips und Abschaffung des 77 Abs. 3 BetrVG geführt 3. Ziel einer möglichen Reform muss es sein, den Vorrang echter Selbstbestimmung sicherzustellen und dabei einen gerechten Ausgleich der Interessen nicht nur im einzelnen Arbeitsverhältnis und innerhalb der Belegschaft, sondern letztlich zwischen allen Gruppen der Bevölkerung sicherzustellen. Dabei kann es nicht um Radikallösungen gehen. Gewerkschaften und Betriebsräte und damit das Kollektivarbeitsrecht sind unverzichtbar, solange es Arbeitnehmer und ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt Tarifvertrag und Mitbestimmung in der Praxis Trotz der Tarifflucht arbeiten 80 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Wirtschaftszweigen, für die es Tarifverträge gibt. Soweit die Tarifverträge nicht normativ den Inhalt des Arbeitsverhältnisses bestimmen (s. 13 Rn. 237 ff.), gelten sie in der Regel durch Bezugnahme im Arbeitsvertrag (s. 13 Rn. 252 ff.). Betriebsräte gibt es nur in gut 15 % der betriebsratsfähigen Betriebe. In diesen Betrieben sind 2/3 der Arbeitnehmer tätig. Während in Groß- und Mittelbetrieben die allermeisten Arbeitnehmer den Schutz durch Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung genießen, sieht es in Kleinbetrieben, und hier wiederum vor allem in den Neuen Bundesländern, vielfach anders aus BAG , NZA 2006, 1112, Hromadka, NZA 1996, 1233 ff.
6 6 11 Grundfragen Tarifbindung 4 und Existenz einer Belegschaftsvertretung nach Betriebsgröße (2005) 5 Anteil Betriebe mit... Beschäftigten in % Westdeutschland mehr als 1000 Betriebe gesamt mit TV und BR 4,9 27,3 61,8 78,7 90,7 11,4 mit TV ohne BR 41,5 32,3 12,4 6,6 3,9 38,6 ohne TV mit BR 1,1 5,2 11,4 10,1 4,2 2,2 ohne TV ohne BR 52,5 35,2 14,3 4,6 1,2 47,8 Alle Betriebe in Ostdeutschland Mit TV und BR 5,3 28,3 54,4 73,8 89,4 11,7 Mit TV ohne BR 22,9 23,2 11,3 8,4 2,8 22,5 ohne TV mit BR 1,0 7,3 16,3 9,1 4,9 2,7 ohne TV ohne BR 70,8 41,2 18,1 8,7 2,9 63,1 alle Betriebe in ,2 181 II. Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen 1. Duales System der Arbeitnehmervertretung 12 Zwischen den beiden Schutzmächten der Arbeitnehmer, den Gewerkschaften und den Belegschaftsvertretern letztere sind gemeint, wenn hier pars pro toto von Betriebsräten gesprochen wird gibt es keine klare Aufgabentrennung. Zwar liegt der Schwerpunkt der Arbeit der Gewerkschaften in der Vereinbarung materieller Arbeitsbedingungen auf überbetrieblicher Ebene, während die Betriebsräte in erster Linie bei den Arbeitsbedingungen im Betrieb mitbestimmen. Neben den Verbandstarifverträgen stehen aber mit steigender Tendenz Unternehmenstarifverträge, und in den Betrieben und Unternehmen gibt es neben Betriebsvereinbarungen über Ordnungsfragen zahlreiche Betriebsvereinbarungen über Sozialleistungen. Der zuständige 1. Senat des BAG fördert die Betriebsautonomie zu Lasten der Tarif- und vor allem der Privatautonomie. 2. Zusammenarbeit und Konkurrenz 13 Das Verhältnis von Gewerkschaften und Betriebsräten ist durch Zusammenarbeit gekennzeichnet; die meisten Betriebsratsmitglieder sind zugleich Gewerkschaftsmitglieder. Der Gesetzgeber hat den Gewerkschaften die Unterstützung der Betriebsräte übertragen. Die Gewerkschaften sind den Betriebsräten nicht überge- 4 Hier wird nicht zwischen Branchen- und Firmen-/Haustarifverträgen unterschieden. 5 Quelle: IAB-Betriebspanel 13. Welle West, 10. Welle Ost.
7 II. Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen 7 ordnet; die Betriebsräte sind nicht ihr verlängerter Arm im Betrieb. Das kann schon deshalb nicht sein, weil die Gewerkschaften ihre Mitglieder vertreten, die Belegschaftsvertretungen aber alle Arbeitnehmer im Betrieb. Das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Betriebsräten ist aber auch zumindest potentiell nicht frei von Spannungen. Beide Institutionen sind Arbeitnehmervertretungen und kommen einander deshalb notwendigerweise gelegentlich ins Gehege. Die Entstehung der Betriebsräte haben die Gewerkschaften mit einem lachenden und einem weinenden Auge gesehen. Die Betriebsräte boten die Möglichkeit zu mehr Einfluss in den Betrieben, aber sie spalteten auch die Arbeitnehmervertretung, und das war historisch gesehen für viele Arbeitgeber mit ein Grund, sich mit dem Gedanken der Betriebsverfassung anzufreunden. Zu einer Existenzfrage für die Gewerkschaften wurde die Rätebewegung ausgangs des 1. Weltkriegs; ihr verdanken die Betriebsräte, die zuvor als Arbeiterausschüsse bezeichnet wurden, ihren Namen. Die Weiche zur Erhaltung der privatwirtschaftlichen Ordnung, die Seinsbedingung sowohl für die Unternehmen als auch für die Gewerkschaften als Gegenmacht ist, wurde im sogenannten Novemberabkommen 6, einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, gestellt. In diesem Abkommen erkannten die Arbeitgeber die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeitnehmer an; zugleich stimmten sie der Einrichtung von Arbeiterausschüssen zu. Der Gesetzgeber setzte die Vereinbarung noch im selben Jahr in eine Verordnung um 7. Das Betriebsrätegesetz von stellte die Betriebsverfassung dann auf eine gesetzliche Grundlage. Zugleich begrub es den Rätegedanken. Wütende Proteste während der Beratungen, die zahlreiche Menschenleben forderten, zeugen von der Tragweite dieser Entscheidung. Der Gesetzgeber hat das Spannungsverhältnis zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten dadurch aufgelöst, dass er die Regelung von Arbeitsbedingungen durch Betriebsvereinbarung immer dann sperrt, wenn über eine Frage ein Tarifvertrag besteht oder üblicherweise abgeschlossen wird ( 77 Abs. 3 BetrVG). Der Tarifvertrag genießt Vorrang gegenüber ungünstigeren Betriebsvereinbarungen; darüber hinaus können die Betriebspartner die Tarifregelung auch nicht durch Betriebsvereinbarung aufstocken oder auf die Nichtorganisierten ausdehnen. Die Betriebsräte sollen sich nicht als beitragsfreie Ersatzgewerkschaft gerieren und den Gewerkschaften nicht die Show stehlen können. In der Praxis stößt diese umfassende Sperre weithin auf Unverständnis. Teilweise wird sie wegen der Vielzahl der Zuwiderhandlungen sogar als obsolet betrachtet. Eine Erscheinung der letzten Jahre ist es, dass auch zu Lasten der Arbeitnehmer durch Betriebsvereinbarung von Tarifverträgen abgewichen wird V , RArbBl 1918, VO über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom , RGBl. II S RGBl. S. 147.
8 8 11 Grundfragen 3. Ausblick 16 Reichold hat das duale System der Arbeitnehmervertretung als den Sonderweg einer verspäteten Nation bezeichnet, die auf Wirtschaftsfriedlichkeit setzte, weil sie keine Streitkultur entwickelt hat 9. In der Tat hat die geringe Zahl der Streiks in Deutschland nicht zuletzt eine Ursache in dem Kampfverbot für die Betriebspartner. Anfang 2002 erließ die EG eine Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft 10, nachdem schon 1994 eine andere Richtlinie Betriebsräte für gemeinschaftsweit operierende Unternehmen und Unternehmensgruppen 11 eingeführt hatte. Diese Richtlinie wurde 2009 novelliert 12. Es sieht so aus, als werde der deutsche Weg mit seiner Mittellage zwischen staatlicher Rechtssetzung und gesetzlicher Konfliktregelung zum Normalweg in der Europäischen Union. Der Gedanke der sozialen Geborgenheit wäre dann der deutsche Beitrag zum Staatstypus der westlichen Demokratie 13. III. Änderung von Arbeitsbedingungen und Betriebsübergang Kollektivarbeitsrecht und Individualarbeitsrecht bilden erst in ihrem Zusammenspiel das Regelwerk für das Arbeitsverhältnis. Wegen der Hilfsfunktion des Kollektivarbeitsrechts gibt es zwischen ihm und dem Individualarbeitsrecht zahlreiche Berührungspunkte. Das wird besonders deutlich bei der Änderung von Arbeitsbedingungen und beim Betriebsübergang. Bei der Änderung von Arbeitsbedingungen geht es um die Frage, ob und inwieweit individualrechtliche Regelungen außer durch neue individualrechtliche Regelungen auch durch Kollektivrecht geändert werden können und umgekehrt, und innerhalb des Kollektivarbeitsrechts, wie sich der Tarifvertrag einerseits und Betriebsvereinbarungen, Sprecherausschussvereinbarungen und Dienstvereinbarungen andererseits zueinander verhalten. Beim Betriebsübergang geht es umgekehrt um die Aufrechterhaltung der bisherigen Arbeitsbedingungen; dabei bedient sich der Gesetzgeber teilweise der Umwandlung von Kollektivarbeitsrecht in Individualarbeitsrecht. Nach dem Betriebsübergang stellt sich dann wieder die Frage der Änderung von Arbeitsbedingungen; der Gesetzgeber hat sie hier teilweise etwas anders als im allgemeinen Arbeitsrecht beantwortet. 9 Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht, 1995, S RL 2002/14/EG v , ABl. Nr. L 80 v , S RL 94/45/EG v , ABl. Nr. L 254 v , S. 64, umgesetzt durch das EBRG v , BGBl. I S RL 2009/39/EG v , ABl. Nr. L 122 v , S. 28; diese wird die RL 94/45/EG zum ablösen. 13 Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1974, S. 32 f.
9 IV. Arbeitsstreitigkeiten 9 IV. Arbeitsstreitigkeiten Arbeitsstreitigkeiten sind Streitigkeiten, die das Arbeitsverhältnis im weitesten Sinne betreffen. Dazu gehören sowohl Streitigkeiten aus dem Individualarbeitsrecht als auch aus dem Kollektivarbeitsrecht. Arbeitsstreitigkeiten können die Schaffung oder die Anwendung einer Regelung zum Inhalt haben. Im ersten Fall handelt es sich um Regelungsstreitigkeiten, im zweiten um Rechtsstreitigkeiten. Regelungsstreitigkeiten sind auf die Schaffung neuen Rechts gerichtet, ihnen liegt ein Interessenstreit zugrunde. Rechtsstreitigkeiten betreffen die Auslegung und Durchsetzung bestehenden Rechts; hier wird um Rechtsfragen gestritten. Bei Interessenstreitigkeiten kommen im allgemeinen mehrere Lösungen in Betracht; welche davon gewählt wird, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die Entscheidung steht im Handlungsermessen der Beteiligten. Für Rechtsstreitigkeiten gibt es idealtypisch nur ein richtiges Ergebnis; nur dieses eine ist rechtmäßig. Der Richter hat die richtige Lösung im Wege der Erkenntnis zu finden Beispiel: Ob in einem Unternehmen mit festen Anfangs- und Endzeiten gearbeitet wird oder in Gleitzeit, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Streitigkeit über die Arbeitszeitgestaltung ist folglich eine Regelungsstreitigkeit. Wann und wie lange gearbeitet werden darf, wann Pausen und Ruhezeiten einzulegen sind, richtet sich nach dem Arbeitszeitrecht. Der Umfang der Regelungsbefugnis ist also eine Frage der Rechtmäßigkeit, ein Streit darüber eine Rechtsstreitigkeit. Das geltende Recht weist die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten den Arbeitsgerichten zu. Nur in wenigen Fällen können private Schiedsgerichte angerufen werden. Die Schlichtung ist im Tarifrecht den privaten Schlichtungsstellen und im Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht den Einigungsstellen übertragen. Ein behördlicher Schlichter kann nur ausnahmsweise tätig werden. Die Gerichte entscheiden sowohl über Einzel- als auch über Gesamtstreitigkeiten, die Schlichtungsstellen nur über Gesamtstreitigkeiten. Die konsequente Trennung von Rechts- und Regelungsstreitigkeiten gibt es erst seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vorher konnten die Schlichtungsausschüsse teilweise auch über Rechtsfragen entscheiden, z. B. über den Kündigungsschutz nach dem Betriebsrätegesetz 1920; umgekehrt konnten Gewerbe- und Kaufmannsgerichte als Einigungsämter schlichtend tätig werden. Personelle Querverbindungen zwischen Gerichtsbarkeit und Schlichtung bestehen heute dadurch, dass in etwa 90 % der Fälle Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit als Vorsitzende der Einigungsstelle tätig werden. Während Rechtsstreitigkeiten grundsätzlich mit einer verbindlichen Entscheidung, einem Urteil oder einem Beschluss, enden, ist der Schlichtungsspruch im Tarifrecht nur verbindlich, wenn die Parteien sich ihm vorher allgemein oder für den konkreten Fall unterwerfen oder wenn sie ihn im nachhinein annehmen, im Betriebsverfassungs- und im Personalvertretungsrecht nur, wenn das Gesetz das
10 10 11 Grundfragen vorsieht (sog. erzwingbare Mitbestimmung). Für die Fälle unverbindlicher Schlichtung stellt das Recht andere Lösungsmechanismen zur Verfügung: Im Tarifrecht ist das der Arbeitskampf, im Betriebsverfassungs- und im Personalvertretungsrecht das Entscheidungsrecht des Arbeitgebers. Schlichtung Regelungsstreit (= Interessenstreitigkeit) Schaffung neuen Rechts Handlungsermessen Zweckmäßigkeit Gesamtstreitigkeiten privates Verfahren (Ausnahme: staatliche Schlichtung) Schlichtungsspruch unverbindlich (Ausnahme: Unterwerfung oder Annahme) Arbeitsgerichtliches Verfahren Rechtsstreit (= Streit über Rechtsfragen) Anwendung bestehenden Rechts Erkenntnis Rechtmäßigkeit Einzel- und Gesamtstreitigkeiten staatliches Verfahren (Ausnahme: Schiedsverfahren) Urteil/Beschluss verbindlich
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