I. Materielle Voraussetzungen für das Vorliegen eines Tarifvertrags
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- Barbara Schmid
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1 Übungsfall Der 57jährige Xaver Anzinger (A) ist seit fast 20 Jahren in dem Papier verarbeitenden Betrieb der Firma Alois Beyhl (B) als Kraftfahrer beschäftigt und Mitglied der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft e.v. (ver.di). 490 Im Betrieb geht das Gerücht um, dass die Firma B beabsichtige, Personaleinsparungen vorzunehmen. A befürchtet, davon betroffen zu werden und wendet sich deshalb an den Vertrauensmann der Gewerkschaft ver.di. Dieser teilt ihm mit, dass zwischen der Gewerkschaft ver.di sowie dem Arbeitgeberverband der Papier verarbeitenden Industrie, dem auch die Firma B angehört, unlängst eine schriftliche»allgemeine Vereinbarung zum Schutz der Arbeitsplätze«getroffen wurde, in der es u.a. heißt:»einem Arbeitnehmer, der das 52., aber noch nicht das 65. Lebensjahr überschritten hat und der dem Betrieb mindestens 5 Jahre angehört, kann nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden.«a möchte wissen, ob er mit seiner Entlassung rechnen muss. Nachdem Sie im vorigen Kapitel schon erfahren haben, dass Tarifverträge von Gewerkschaften und einzelnen Arbeitgeberverbänden (auch: einzelnen Arbeitgebern!) 491 geschlossen werden, wollen wir anhand dieses Falls die wichtigsten Voraussetzungen für das Vorliegen eines Tarifvertrags betrachten sowie etwas über seinen Inhalt und Aufbau erfahren. Welche Rechtsfolge würde eintreten, sofern die Regelung der»allgemeinen Vereinbarung...«wirksam und A somit davon betroffen ist? (Überlegen Sie! Fall ggf. nochmals genau lesen!) Da A die altersmäßigen und zeitlichen Voraussetzungen der Regelung erfüllt, wäre eine ordentliche Kündigung nach 620 II, 622 BGB nicht möglich! In Betracht käme nur eine außerordentliche Kündigung nach 626 BGB. Als»wichtiger Grund«für eine Kündigung nach 626 BGB sind Personaleinsparungsmaßnahmen grundsätzlich nicht anzuerkennen. Sofern die»allgemeine Vereinbarung«auch für A gilt, hätte er also keine Entlassung zu befürchten. Die betreffende Regelung der»allgemeinen Vereinbarung«könnte auf das Arbeitsverhältnis des A Anwendung finden, wenn es sich dabei um eine Rechtsnorm eines Tarifvertrags handeln würde (vgl. 4 I TVG). Lesen Sie zunächst 4 I 1 TVG 492. Zu prüfen ist also insbesondere, ob es sich bei der»allgemeinen Vereinbarung«um einen Tarifvertrag handelt. 302 I. Materielle Voraussetzungen für das Vorliegen eines Tarifvertrags 1. Vertragsabschluss Wie jeder Vertrag kommt auch der Tarifvertrag nur zustande, wenn zwei sich deckende Willenserklärungen vorliegen, d.h. Angebot und Annahme Papier verarbeitende Betriebe gehörten früher zur Zuständigkeit der»ig Medien Druck und Papier«, die inzwischen (vgl. Rn. 296) in»ver.di«aufgegangen ist. 491 Nicht von der BDA! 492 dtv-arbg Nr
2 Welche allgemeinen Vorschriften für das Zustandekommen eines Vertrags gelten, wissen Sie hoffentlich noch!? Antwort: Fußnote 493! Wer in unserem Fall das Angebot gemacht hat und wer es angenommen hat, können wir aus dem Sachverhalt nicht ersehen. Jedenfalls steht fest, dass eine der Parteien, sei es der Arbeitgeberverband oder die Gewerkschaft ver.di, ein Angebot gemacht hat und dass dieses von der anderen Partei angenommen wurde. Andernfalls wäre es nicht zu einer Vereinbarung gekommen! Auch eine»vereinbarung«kann als Tarifvertrag zu bewerten sein, wenn sie der Sache nach als solcher anzusehen ist Tariffähigkeit der Vertragsparteien Die Tariffähigkeit ergibt sich aus 2 TVG, insbesondere aus Abs. 1 (lesen!). Ist diese Voraussetzung für unseren Fall erfüllt? Die Gewerkschaft ver.di ist eine Gewerkschaft, der Arbeitgeberverband der Papier verarbeitenden Industrie eine Vereinigung von Arbeitgebern. Daneben ist auch der einzelne Arbeitgeber, ob er organisiert ist oder nicht, tariffähig. So genannte»spitzenorganisationen«können gem. 2 II TVG (lesen!) Tarifverträge abschließen, wenn sie eine entsprechende Vollmacht der ihnen angeschlossenen Verbände haben (was bei der BDA s.o., Rn. 297 grundsätzlich nicht der Fall ist). Nach 2 III TVG können sie auch selbst Partei eines Tarifvertrages sein, wenn der Abschluss von Tarifverträgen zu ihren satzungsmäßigen Aufgaben gehört; allerdings darf diese Befugnis nicht wie bei der CGZP (s.o., Rn. 296) auf einen Teil des Organisationsbereichs der Mitgliedsgewerkschaften beschränkt werden oder darüber hinaus gehen Inhalt des Tarifvertrags a) Schuldrechtlicher Teil Gem. 1 I TVG (lesen!) regelt der Tarifvertrag zunächst die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich vom (schuldrechtlichen) Einzel-Arbeitsvertrag. Dieser schuldrechtliche (auch: obligatorische) Teil des Tarifvertrags enthält also keine»rechtsnormen«496, sondern vertragliche Vereinbarungen, deren Verletzung z.b. schuldrechtliche Ansprüche auf Erfüllung, Schadensersatz, Unterlassung oder eine fristlose Kündigung zur Folge haben kann. Die beiden wichtigsten schuldrechtlichen Pflichten sind die»friedenspflicht«und die»durchführungs-«bzw.»einwirkungspflicht« ff. BGB! Vgl. Wörlen/Metzler-Müller, BGB AT, Rn. 287 ff. 494 BAG, AZR 272/05, AP Nr. 37 zu 1 TVG; BAGE 110, 164 (171) ( AZR 232/03); BAGE 87, 45 (56) ( AZR 872/95). 495 Die CGZP ist nicht als Spitzenorganisation i.s.v. 2 III TVG anzusehen, s. BAG, ABR 19/10, NZA 2011, 289. Die von ihr geschlossenen Tarifverträge sind daher unwirksam; die betroffenen Leiharbeiter können rückwirkend»equal Pay«(s. Rn. 102a) fordern, ohne an die im Entleiherbetrieb geltenden Ausschlussfristen (s. Rn. 62a) für die Geltendmachung gebunden zu sein, BAG, AZR 7/ Wörlen/Metzler-Müller, BGB AT, Rn. 4 ff.,
3 I. Materielle Voraussetzungen für das Vorliegen eines Tarifvertrags Die Friedenspflicht trifft beide Parteien und dient der Wahrung des Arbeitsfriedens. Sie hat zum Inhalt, dass während der Laufzeit eines Tarifvertrags keine erneuten Verhandlungen über denselben Gegenstand mit Hilfe eines Arbeitskampfes 497 erzwungen werden können 498 (»relative Friedenspflicht«). Hinweis: Durch Absprachen der Parteien ist eine Erweiterung der Friedenspflicht dahingehend möglich, dass ohne gegenständliche Begrenzung jegliche Kampfmaßnahmen während der Dauer des Tarifvertrags verboten sind (»absolute Friedenspflicht«). Die Durchführungs- bzw. Einwirkungspflicht besagt, dass die Tarifvertragsparteien für das tarifmäßige Verhalten ihrer Mitglieder und für die Durchführung tariflicher Abreden durch die Mitglieder zu sorgen haben. 499 b) Normativer Teil Nach 1 I TVG (nochmals lesen!) enthält der Tarifvertrag ferner»rechtsnormen«, die 307 den Inhalt, den Abschluss oder die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. Die Wirkung dieses normativen Teils des Tarifvertrags legt 4 I 1 TVG (lesen!) fest: Die Rechtsnormen des Tarifvertrags regeln unmittelbar und zwingend (in der Wirkungsweise also wie ein nicht dispositives Gesetz) die einzelnen Arbeitsverhältnisse zwischen den Mitgliedern der Tarifvertragsparteien. 500 Im Einzelnen unterscheidet man Inhaltsnormen, Abschlussnormen, Beendigungsnormen, Betriebsnormen, betriebsverfassungsrechtliche Normen sowie Normen über gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien. 501 Welcher in 1 I und 4 I TVG angesprochene Regelungsbereich wird von der»allgemeinen Vereinbarung«in unserem Übungsfall erfasst? (Überlegen Sie!) Da es um die Frage der Kündigung von bestimmten Arbeitnehmern geht, geht es um die»beendigung von Arbeitsverhältnissen«! Somit sind in unserem Fall die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Tarifvertrags erfüllt. c) Aufbau von Tarifverträgen Tarifvertragswerke sind zumeist in mindestens zwei Teile unterteilt, in einen Manteltarifvertrag und einen Lohn- bzw. Gehaltstarifvertrag: 308 Der Manteltarifvertrag enthält vor allem Bestimmungen über die Gehaltsgruppen und über die Eingruppierung, außerdem über verschiedene Zulagen, über tarifliche Sonderzahlungen sowie über Bezüge im Krankheitsfall, über Arbeitszeit, Urlaub, Kündigungsfristen und Kündigungsschutz. Der Gehaltstarifvertrag regelt die Gehälter in den jeweiligen Gruppen in ihrer genauen Höhe, die Auszubildendenvergütungen, das Mindesteinkommen von Außen- 497 Dazu mehr im nächsten Kapitel. 498 Otto, Rn Vgl. Michalski, Rn Brox/Rüthers/Henssler, Rn Einzelheiten und Beispiele dazu finden Sie z.b. bei Brox/Rüthers/Henssler, Rn. 674 ff. 141
4 dienstangestellten, die Verantwortungs- und Sozialzulagen der Höhe nach sowie die Spesen. Die Laufzeit von Gehalts- oder Lohntarifverträgen beträgt i.d.r. ein Jahr, die von Manteltarifverträgen meist drei Jahre. 309 II. Formelle Wirksamkeitsvoraussetzungen für den Tarifvertrag 1. Schriftform Gem. 1 II TVG bedürfen Tarifverträge der Schriftform! Diese Form wurde im Übungsfall bei der»allgemeinen Vereinbarung«eingehalten Tarifzuständigkeit Neben der Tariffähigkeit muss auch die Tarifzuständigkeit der Parteien gegeben sein. Das bedeutet, dass sie nur für Regelungen von Arbeitsverhältnissen zuständig sind, die in ihren sachlichen und räumlichen Aufgabenbereich fallen. Im Einzelnen ergeben sich Zuständigkeiten aus den Satzungen der jeweiligen Berufsverbände. 502 Kompetenzstreitigkeiten werden dadurch vermieden, dass die meisten Gewerkschaften nach dem»industrieverbandsprinzip«organisiert sind. 503 Das bedeutet einerseits, dass die Einzelgewerkschaften für alle Arbeitnehmer ihres Industriezweigs zuständig sind, auch wenn diese branchenuntypische Berufe ausüben. So ist z.b. die IG Metall (wie auch die CGM) nicht nur für die Metallberufe zuständig, sondern sie vertritt auch das Küchenpersonal der Betriebskantinen in metallverarbeitenden Unternehmen. Anderseits darf aufgrund dessen eine nach dem Industrieverbandsprinzip organisierte Gewerkschaft keinen Tarifvertrag für die Angehörigen eines anderen Industriezweigs schließen. In jüngerer Zeit haben einige kleinere, nach dem Berufsverbandsprinzip organisierte sog.»spartengewerkschaften«durch eigene Tarifabschlüsse von sich reden gemacht. Zu nennen sind hier insbesondere die Piloten-»Vereinigung Cockpit«, die»unabhängige Flugbegleiter Organisation«(UFO) 504, die Ärztegewerkschaft»Marburger Bund«und die»gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer«(GDL). Sie nehmen nur die Interessen der in ihnen zusammengeschlossenen Berufsgruppe wahr 505 und ihre Tarifverträge konkurrieren (dazu sogleich bei Rn. 312b!) insbesondere mit denen der DGB-Gewerkschaften. Hinweis: Sofern ein (Klausur-)Sachverhalt keinen besonderen Hinweis enthält, kann man von einer satzungsmäßigen Zuständigkeit nach dem Industrieverbandsprinzip als Normalfall ausgehen. 311 III. Tarifautonomie Die Befugnis der Tarifvertragsparteien, gem. 4 I 1 TVG im normativen Teil des Tarifvertrags in eigener Zuständigkeit (»autonom«) Rechtsnormen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung gegenüber den tarifgebundenen Arbeitnehmern und Ar- 502 Michalski, Rn Brox/Rüthers/Henssler, Rn. 649; Otto, Rn Die Gewerkschaftseigenschaft der UFO hat das BAG bestätigt, s. BAGE 113, 82 ( ABR 51/03). 505 Zur Vertiefung s. z.b. Preis II,
5 IV. Tarifgebundenheit beitgebern erlassen zu können, ergibt sich aus der in Art. 9 III GG garantierten Tarifautonomie. Diese wird begrenzt durch die ebenfalls von Art. 9 III GG geschützte negative Koalitionsfreiheit der so genannten Außenseiter, die gerade nicht in eine Gewerkschaft eintreten wollen. Unzulässig sind daher tarifliche Regelungen, die in ihrer Wirkung einem (unzulässigen) Vertrag zu Lasten Dritter entsprechen, weil sie etwa den Arbeitgeber verpflichten, nur Gewerkschaftsmitglieder einzustellen (Absperrklauseln) oder ausschließlich Gewerkschaftsmitgliedern bestimmte Vergünstigungen oder Mehrleistungen zu gewähren (qualifizierte Differenzierungsklauseln). 506 Zulässig sind hingegen einfache Differenzierungsklauseln, bei denen die Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft zwar Tatbestandsmerkmal ist, die es andererseits dem Arbeitgeber aber nicht verbieten, die Vergünstigungen auch Außenseitern zu gewähren. 507 Weitere Grenzen der Tarifautonomie werden durch höherrangiges Recht bestimmt, sofern dieses nicht dispositiv 508 ist. Höherrangiges Recht gegenüber dem normativen Teil eines Tarifvertrags ist z.b. das BGB. Da das BGB selbst in 624 den Ausschluss der ordentlichen Kündigung zulässt, bewegt sich die Regelung der»allgemeinen Vereinbarung«in unserem Übungsfall im Rahmen der Tarifautonomie und ist somit zulässig. IV. Tarifgebundenheit Tarifverträge können innerhalb ihres Geltungsbereichs grundsätzlich nur Wirkung gegenüber»tarifgebundenen«entfalten (Ausnahmen: 3 II, 5 IV TVG lesen!). Wer tarifgebunden ist, ist durch den Gesetzgeber bestimmt: Tarifgebunden sind gem. 3 I TVG (lesen!) die Mitglieder der Tarifvertragsparteien bzw. der einzelne Arbeitgeber, der mit der Gewerkschaft einen Tarifvertrag geschlossen hat. Auf Arbeitnehmerseite sind demnach nicht alle Arbeitnehmer der Unternehmen der Branche, sondern nur die Mitglieder der jeweiligen Gewerkschaft tarifgebunden! Es kommt in der Praxis sehr häufig vor, dass auch mit nichttarifgebundenen Arbeitnehmern (sog.»außenseitern«) die Geltung eines Tarifvertrages im Arbeitsvertrag vereinbart wird. In diesem Fall gilt der Tarifvertrag nicht normativ (was das bedeutet, haben Sie eben bei Rn. 307 gelesen!), sondern nur aufgrund dieser arbeitsvertraglichen Abrede, die als Bezugnahmeklausel bezeichnet wird. 509 Was könnte dahinter stecken, wenn sich ein Arbeitgeber zu einem solchen für ihn nachteiligen Schritt entschließt? Überlegen Sie! Damit will der Arbeitgeber i.d.r. die nichttarifgebundenen Arbeitnehmer den tarifgebundenen gleichstellen, 510 um keine Anreize für einen Gewerkschaftsbeitritt zu schaffen und um innerhalb des Betriebs einheitlich vorgehen zu können Vgl. BAGE 20, 175 ( GS 1/67). 507 BAGE 130, 43 ( AZR 64/08), Rn. 31 ff., 34 ff. S. dazu z.b. Junker, Rn. 471 ff.; Pallasch, 28 I 4 b. 508 Dazu Wörlen/Metzler-Müller, BGB AT, Rn. 283 ff. 509 Mehr dazu z.b. bei Brox/Rüthers/Henssler, Rn. 717 f.; Pallasch, 28 III 3; ein Beispiel dazu gibt Junker, Rn Vgl. BAGE 116, 326 ( AZR 536/04). Aus dem Vertragswortlaut und/oder den Begleitumständen bei Vertragsschluss müssen sich aber hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es um eine Gleichstellung gehen soll; denn andernfalls bleibt wegen der Unklarheitenregelung des 305c Abs. 2 BGB der Verweis auf den Tarifvertrag auch nach einem Austritt aus dem 143
6 312 a 312b 313 Ferner kann das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung die normative Wirkung eines Tarifvertrages auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber erstrecken ( 5 IV TVG). Erforderlich ist allerdings u.a. ein Vorgehen im Einvernehmen mit dem paritätisch mit Arbeitgeberund Gewerkschaftsvertretern besetzten Tarifausschuss ( 5 I TVG). Nach dem 2009 neu gefasste Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) 511 kann daneben die Geltung tariflicher Mindestlöhne und anderer Arbeitsbedingungen auch durch Rechtsverordnung auf alle Arbeitnehmer bestimmter Branchen ( 4, 10 f. AEntG) ausgedehnt werden. Erfasst werden dabei nicht nur aus dem Ausland entsandte Arbeitnehmer ( 3 AEntG), sondern auch regelmäßig im Inland Beschäftigte ( 1, 7 I; 8 I AEntG lesen!). In tarifvertragsfernen Branchen, in denen die beiden geschilderten Wege zur Schaffung verbindlicher Mindestarbeitsbedingungen nicht in Betracht kommen, greift bei»sozialen Verwerfungen«das Mindestarbeitsbedingungengesetz (s. 1 II, 3 I MindArbBedG) 512, das ebenfalls im Zuge der Mindestlohndebatte Anfang 2009 geändert wurde. 513 Fällt ein Betrieb in den Geltungsbereich verschiedener Tarifverträge, liegt entweder Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität vor. Sind für ein und dasselbe Arbeitsverhältnis nach Geltungsbereich, Tarifgebundenheit und Tarifzuständigkeit mehrere Tarifverträge einschlägig, spricht man von Tarifkonkurrenz. Tarifpluralität liegt vor, wenn verschiedene Tarifverträge, die in einem Betrieb für den Arbeitgeber gelten, nicht auf dieselben Arbeitsverhältnisse anwendbar sind. Dieser Fall kann insbesondere dann eintreten, wenn Arbeitnehmer unterschiedlichen Gewerkschaften angehören (z.b. GdL EVG; DGB-Gewerkschaft Christliche Gewerkschaft). Im Fall von Tarifkonkurrenz gilt der Grundsatz der Tarifeinheit, d.h. es gilt nur ein Tarifvertrag: der speziellere Tarifvertrag verdrängt den sachferneren. Bei Tarifpluralität entschied das BAG lange Zeit genauso. Es gab diese Rechtsprechung aber im Jahr 2010 auf und lässt nun unter Betonung des Wortlauts der 3 I, 4 I TVG und mit Blick auf die Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) beider Arbeitnehmergruppen bei Tarifpluralität eine Geltung der Tarifverträge nebeneinander für unterschiedliche Arbeitsverhältnisse zu. 514 Prüfen Sie, ob die»tarifgebundenheit«in unserem Übungsfall vorliegt! Da A Mitglied der Gewerkschaft»ver.di«ist und B Mitglied des Arbeitgeberverbandes der Papier verarbeitenden Industrie, liegen die Voraussetzungen von 3 I TVG vor. Unerheblich ist dabei, dass A nicht unmittelbar in der Papierverarbeitung, sondern als Kraftfahrer tätig ist. Denn eine bestimmte Gewerkschaft ist für alle in dem betreffenden Industriezweig tätigen Arbeitnehmer zuständig, gleichgültig, welche Arbeit Arbeitgeberverband [BAGE 122, 74 ( AZR 652/05); BAGE 128, 185 ( AZR 793/07)] oder nach einem Betriebsübergang maßgeblich [BAGE 124, 34 ( AZR 767/06); BAG, AZR 391/09, NZA 2011, 356]. 511 dtv-arbg Nr dtv-arbg Nr Darüber hinaus wurde zum in 3a AÜG eine Befugnis zum Erlass von Mindestlohnverordnungen für Leiharbeitnehmer verankert. 514 BAG, AZR 549/08, NZA 2010, 1068; BAG, AS 2/10, NZA 2010, 778; BAG, AZR 549/08 (A), NZA 2010, 645. Ausführlicher dazu Brox/Rüthers/ Henssler, Rn. 725 ff.; Dütz/Thüsing, Rn. 579 ff., 583 f.; Junker, Rn. 567 ff. 144
7 VI. Ablauf des Tarifvertrags der Beschäftigte im Einzelnen verrichtet (Schlagwort:»Ein Betrieb, eine Gewerkschaft«). Verständnisfrage: Aus welchem tarifrechtlichen Prinzip lässt sich dieser»schlagwortgrundsatz«herleiten? (Nachdenken!) Die Antwort steht oben Rn. 310! 515 Nach alledem handelt es sich in unserem Fall bei der»allgemeinen Vereinbarung zum Schutze der Arbeitsplätze«um einen Tarifvertrag. Damit der tarifgebundene A den Schutz der tariflichen Einzelregelung für sich in Anspruch nehmen kann, muss er schließlich noch die konkreten Voraussetzungen dieser Regelung erfüllen! Prüfen Sie, ob das zutrifft! A hat als 57jähriger das 52. Lebensjahr überschritten, die Vollendung des 65. noch nicht erreicht und ist auch länger als fünf Jahre im Betrieb tätig. Somit gilt die Vorschrift der»allgemeinen Vereinbarung«auch für ihn. Eine ordentliche Kündigung hat A daher nicht zu befürchten. Nicht für die Lösung unseres Falls, jedoch von genereller Bedeutung für das Tarifvertragsrecht ist das 314 V. Günstigkeitsprinzip Das Günstigkeitsprinzip besagt, dass vom Tarifvertrag abweichende einzelvertragliche Vereinbarungen nur zulässig sind, soweit sie eine für den Arbeitnehmer günstigere Regelung enthalten als der Tarifvertrag selbst. Lesen Sie dazu 4 III TVG! 315 VI. Ablauf des Tarifvertrags Nach Ablauf eines Tarifvertrags haben seine Normen noch tarifliche Nachwirkungen. Obwohl die Tarifvertragsparteien vorübergehend keine mehr sind (sich»gelöst«haben), wirken die Normen des Tarifvertrags bis zum Abschluss neuer Vereinbarungen zeitlich unbegrenzt 516 weiter ( 4 V TVG). Sie sind allerdings nicht mehr zwingend, sondern dispositiv. Daher kann von ihnen nunmehr durch einzelvertragliche Abreden unter Durchbrechung des Günstigkeitsprinzips abgewichen werden. 517 Lesen Sie nun die Zusammenfassung auf Übersicht 13 (nächste Seite) und dann ggf. etwas aus der Literatur zur Vertiefung (2. Kapitel, Rn ): Alpmann und Schmidt, AR II, 1. Teil, 2. Abschn., 3.; Bittner, Lohnt der Gewerkschaftsbeitritt?, Jura 2003, 560 (Klausurfall zur Thematik»Tarifvertrag Betriebsübergang Günstigkeitsprinzip«); Brox/Rüthers/Henssler, Kap. 9; Däubler, Ratgeber, 3. Kap.; Deckers, Der Mindestentgeltbegriff in 1a AEntG, NZA 2008, 321; Dütz/Thüsing, 9; Gaul/ Naumann, Gestaltungsrisiken bei der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge, DB 2007, 2594; Hanau/Adomeit, C., II.; Hohenstatt/Schramm, Tarifliche Mindestlöhne: Ihre Wirkungsweise und ihre Vermeidung am Beispiel des Tarifvertrags zum Post-Mindestlohn, NZA 2008, 433; Hromadka/ Maschmann, Bd. 2, 13; Junker, 8; Klebeck, Grenzen staatlicher Mindestlohntariferstreckung, NZA 515»Industrieverbandsprinzip«! 516 BAGE 108, 114 ( AZR 573/02). 517 Vgl. ausführlich Dütz/Thüsing, Rn
8 2008, 446; Lieb/Jacobs, 6; Löwisch, 7; ders., Kollektivverträge und Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, DB 2006, 1729; Mayer, Gesetzliche Mindestlöhne für die Leiharbeit, AuR 2011, 4; Michalski, Dritter Teil, Zweiter Abschn.; Olbertz, Gleichstellungsabrede Gestaltungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten für die betriebliche Praxis, BB 2007, 2737; Otto, 10; Preis II, ; Schleusener, Zustandekommen und Kündigung von Tarifverträgen Stellvertretung bei Tarifvertragsschluss Kündigung von mehrgliedrigen Tarifverträgen (Examensklausur), Jura 2006, 714; Schmitt-Rolfes, Unvorsichtigkeit kann teuer werden neue Rechtsprechung zu Bezugnahmeklauseln, AuA 2007, 455; Zöllner/Loritz/Hergenröder,
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