BGH, Urteil vom 4. November 1988, BGHSt 36, 1 AIDS
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- Sven Kurzmann
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1 BGH, Urteil vom 4. November 1988, BGHSt 36, 1 AIDS Sachverhalt: Anton unterzieht sich freiwillig einem AIDS-Test, der ergibt, dass er HIV-infiziert ist. Bei der Eröffnung des Untersuchungsergebnisses informiert ihn der Arzt in einem ausführlichen Beratungsgespräch über Art und Auswirkung der AIDS-Krankheit, wobei er besonderen Wert auf die Aufklärung über notwendige Schutzmaßnahmen beim Sexualverkehr legt. Er weist Anton eindringlich darauf hin, dass er ansteckend für den Rest seines Lebens sei und dass er zum Schutze seiner Partner grundsätzlich Kondome verwenden müsse. Ungeachtet dessen hat Anton in der Folgezeit mehrmals ungeschützten geschlechtlichen Verkehr, ohne seine Partner auf die HIV-Infektion hinzuweisen. Eine später vorgenommene Untersuchung zweier Partner, die Strafantrag stellten, ergibt wie von Anton erhofft keinen Nachweis einer Infizierung. Thema: Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit Materialien:
2 Lösungsübersicht: A. 212, 22, 23 StGB I. Tatbestand 1. Nichtvollendung, Strafbarkeit des Versuchs (+) 2. Tatentschluss, Problem: Eventualvorsatz? a) Billigungstheorie (BGH) ( ) a.a. vertretbar b) Gleichgültigkeitstheorie ( ) c) Wahrscheinlichkeitstheorie ( ) d) Möglichkeitstheorie (+) e) Theorie vom unabgeschirmten Risiko (+) II. Ergebnis: 212, 22, 23 StGB ( ) B. 223, 224, 22, 23 StGB I. Tatbestand 1. Nichtvollendung, Strafbarkeit des Versuchs (+) 2. Tatentschluss, Problem: Eventualvorsatz? a) bezüglich der Körperverletzung, 223 StGB aa) Möglichkeitstheorie (+) bb) Wahrscheinlichkeitstheorie ( ) cc) Billigungstheorie (BGH) (+) a.a. vertretbar dd) Gleichgültigkeitstheorie (+) a.a. vertretbar ee) Theorie vom unabgeschirmten Risiko (+) b) bezüglich gefährlicher Körperverletzung, 224 StGB aa) Gift (+) bb) Das Leben gefährdende Behandlung (+) 3. Unmittelbares Ansetzen (+) II. Rechtswidrigkeit, keine Einwilligung (+) III. Schuld (+) IV. Ergebnis: 224, 22, 23 StGB (+)
3 Lösungsvorschlag: A. 212, 22, 23 StGB Anton könnte sich durch den ungeschützten Geschlechtsverkehr wegen eines versuchten Totschlags strafbar gemacht haben. I. Tatbestand 1. Vorprüfung: Der Taterfolg ist nicht eingetreten. Der Versuch des Totschlags ist wegen des Verbrechenscharakters im Sinne des 12 StGB gemäß 23 I StGB strafbar. 2. Tatentschluss Es fragt sich, ob Anton mit Tatentschluss hinsichtlich einer Tötung handelte. aa) Teilweise wird auf der Basis der Billigungstheorie Tötungsvorsatz angenommen, weil dies bei Bejahung von Schädigungsvorsatz zwingend sei. Dagegen spricht aber, dass für den Tötungsvorsatz eine viel höhere Hemmschwelle zu überschreiten ist als für einen Gefährdungs- oder (Körper-)Verletzungsvorsatz. Es ist durchaus möglich, dass der Täter alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, ohne zugleich auch billigend in Kauf zu nehmen, dass sein Tun zum Tod des Opfers führt. Im Übrigen ist auch der Verlauf einer Infizierung nicht in allen Fällen tödlich, da zunächst die Krankheit ausbrechen muss.
4 Da zwischen der Infektion, dem möglichen Ausbruch der Krankheit und dem möglichen Tod des Opfers eine gewisse Zeitspanne liegt, und die Entwicklung eines Anti-AIDS-Serums und somit ein Mittel gegen die tödliche Wirkung der Krankheit nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, kann der Täter im Gegensatz zur unmittelbar stattfindenden Körperverletzung durch die Infektion durchaus glaubhaft vorbringen, er habe diesbezüglich auf einen glücklichen Ausgang vertraut. Im Ergebnis ist daher nach der Billigungstheorie Vorsatz abzulehnen. bb) Zum gleichen Ergebnis gelangt die Gleichgültigkeitstheorie. Denn dass Anton sich auch mit dem Tod der Partner gleichgültig abfand, ist nicht anzunehmen. cc) Da bereits die Infizierung selbst nicht unbedingt sehr wahrscheinlich war, muss auch die Wahrscheinlichkeitstheorie hier, wie oben, den Vorsatz ablehnen. dd) Anders ist es allerdings bei der Möglichkeitstheorie, denn Anton erkannte durchaus die Möglichkeit einer Infektion. Auch dass es zumindest möglich war, dass diese Infektion einen tödlichen Verlauf nehmen konnte, war ihm bekannt. Hiernach wäre Eventualvorsatz also anzunehmen. ee) Dieses Ergebnis erreicht auch die Theorie vom unabgeschirmten Risiko, denn ein solches wurde ja durch den Geschlechtsverkehr durchaus geschaffen. ff) Da die Theorien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ist der Streit zu entscheiden. Einzig die Möglichkeitstheorie sowie die Theorie vom unabgeschirmten Risiko kommen zu einer Bejahung des Vorsatzes. Gegen beide Theorien spricht aber, dass sie eine Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit nicht ermöglichen. Daher ist im Ergebnis der Vorsatz hier abzulehnen. II. Ergebnis: Anton ist nicht strafbar gemäß den 212, 22, 23 StGB.
5 B. 223, 224 Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 StGB Anton könnte sich durch den ungeschützten Geschlechtsverkehr wegen einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß 223, 224 Abs.1, Abs. 2, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben. I. Tatbestand 1. Vorprüfung Der Körperverletzungserfolg ist ausgeblieben, da keine Infizierung festgestellt wurde. Der Versuch der gefährlichen Körperverletzung ist strafbar gemäß 224 Abs. 2 StGB. 2. Tatentschluss Anton müsste zur Tat entschlossen gewesen sein, also vorsätzlich hinsichtlich einer gefährlichen Körperverletzung gehandelt haben. a) Grunddelikt aa) Die Infektion hätte einen Körperverletzungserfolg i.s. einer Gesundheitsschädigung (Hervorrufen eines krankhaften Zustandes) dargestellt. Auch wenn die Krankheit möglicherweise erst Jahre nach der Ansteckung ausbricht, führt schon die Infektion zu einem vom Normalzustand der körperlichen Funktion des Opfers nachteilig abweichenden Zustand. bb) Sofern es zu einer Infektion gekommen wäre, hätte Anton für diesen Erfolg eine ursächliche und auch objektiv zurechenbare Bedingung gesetzt, auf die sich seine Vorstellung auch bezog.
6 Die objektive Zurechenbarkeit entfällt nicht schon unter dem Aspekt der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung durch das Opfer. Eine solche kann allenfalls dann angenommen werden, wenn das jeweilige Opfer von Antons Infektion wusste, was hier nicht der Fall war, sodass eine Situation der Fremdgefährdung vorlag. Auch bewegte sich Anton nicht mehr im Rahmen des erlaubten Risikos. Wer seinem Geschlechtspartner seine HIV-Infektion verschweigt und ungeschützten Verkehr ausübt, verhält sich angesichts des großen Risikos nicht im Rahmen des erlaubten Risikos. cc) Fraglich ist jedoch, ob Anton bzgl. der Herbeiführung des Körperverletzungserfolges wenigstens mit Eventualvorsatz handelte. (1) Die Möglichkeitstheorie verzichtet auf ein voluntatives Element und lässt das Erkennen der Möglichkeit des Erfolgseintritts für den Eventualvorsatz ausreichen. Hier ist Anton ausführlich vom Arzt über die Möglichkeit einer Verbreitung des Virus aufgeklärt worden. Er kann sich demnach nicht mit dem Argument verteidigen, dass er den Erfolg nicht für möglich hielt. Vorsatz ist nach dieser Auffassung also zu bejahen. (2) Nach der etwas strengeren Wahrscheinlichkeitstheorie genügt nicht das Für-möglich-Halten, sondern der Täter muss den Erfolgseintritt für wahrscheinlich erachten. Bei Zugrundelegen der Wahrscheinlichkeitstheorie gelangt man wie schon bei der Prüfung des versuchten Totschlags wohl eher zur Ablehnung des bedingten Vorsatzes, weil die Wahrscheinlichkeit der Infektion, noch dazu bei einem einmaligen Verkehr, eher gering ist. (3) Nach der vorherrschenden Billigungstheorie liegt Eventualvorsatz erst vor, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung ernstlich für möglich hält und sie für den Fall ihres Eintritts billigend in Kauf nimmt. Dies ist dann der Fall, wenn der Täter sich mit dem Erfolgseintritt abfindet, auch wenn er ihm unerwünscht ist. Hier könnte gegen die Annahme von Eventualvorsatz sprechen, dass
7 Anton hoffte, dass die Partner sich nicht anstecken würden. Anton war aber durch seinen Arzt über die Risiken ungeschützten Geschlechtsverkehrs ausführlich informiert worden. Indem Anton keine Schutzmaßnahmen traf, machte er deutlich, dass er sich um des erstrebten Zieles willen mit einer Ansteckung seines jeweiligen Partners abfand. Daher hat er auch nach dieser Auffassung vorsätzlich gehandelt. (4) Nach der Gleichgültigkeitstheorie ist Eventualvorsatz dann zu bejahen, wenn der Täter deutlich gemacht hat, dass er den Eintritt des Erfolgs in bewusster Gleichgültigkeit in Kauf nimmt. Auch nach dieser Auffassung wird Vorsatz anzunehmen sein, da Anton durch sein Verhalten hinreichend deutlich machte, dass er es um der sexuellen Befriedigung willen in Kauf nahm, dass er seine Partner ansteckte. (5) Die Theorie vom unabgeschirmten Risiko prüft bereits im objektiven Tatbestand, ob der Täter eine unabgeschirmte Gefahr geschaffen hat und untersucht im subjektiven Tatbestand dann weiter, ob er dies auch erkannt hat. Hier hat Anton tatsächlich erkannt, dass er durch den ungeschützten Verkehr eine unabgeschirmte Gefahr geschaffen hat. Auch nach dieser Theorie wäre Vorsatz anzunehmen. (6) Im konkreten Fall kommt man einzig auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitstheorie zu einer Ablehnung des Vorsatzes. Ihr ist aber nicht zu folgen, denn entscheidend für die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit muss ein voluntatives Element und nicht der Grad der jeweiligen Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts sein. b) Vorsatz bzgl. 224 I StGB Anton müsste auch vorsätzlich hinsichtlich der Qualifikationsmerkmale des 224 I StGB gehandelt haben. aa) Er könnte zunächst Vorsatz hinsichtlich einer Beibringung von Gift ( 224 I Nr. 1 StGB) gehabt haben. Unter Gift ist jeder anorganische oder organische Stoff zu verstehen, der unter bestimmten Bedingungen durch chemisch-physikalische Wirkung im konkreten Fall gesundheitsschädlich ist.
8 Das Gift muss zudem dem Körper beigebracht und ursächlich für die Körperverletzung geworden sein. HIV-Viren können, sofern sie zur Infizierung führen, gesundheitsschädlich sein. Insofern wären sie durch den Geschlechtsverkehr den Partnern auch beigebracht und für den Ausbruch einer entsprechenden Krankheit auch ursächlich gewesen. Auch diesbezüglich genügt ein hier unter den oben genannten Voraussetzungen zu bejahender Eventualvorsatz. bb) Des Weiteren könnte Anton auch Vorsatz hinsichtlich einer das Leben gefährdenden Handlung ( 224 I Nr. 5 StGB) gehabt haben. Hierzu genügt es, wenn der Täter die tatsächlichen Umstände kennt, die diese Lebensgefahr ausmachen. Er muss sie nicht als lebensgefährdend bewerten. Dass Anton die das Leben seiner Sexualpartner gefährdenden Umstände kannte, steht nach der ausführlichen ärztlichen Aufklärung außer Zweifel. 3. Unmittelbares Ansetzen Anton muss schließlich gemäß 22 StGB zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt haben. Anton nahm mit Ausübung des Geschlechtsverkehrs bereits die Tathandlung vor, sodass an einem unmittelbaren Ansetzen nicht zu zweifeln ist. II. Rechtswidrigkeit Eine rechtfertigende Einwilligung liegt nicht vor. Gleichgültig ist insoweit, ob man hierfür verlangt, dass sich die Einwilligung auf den Verletzungserfolg erstreckt oder es ausreichen lässt, dass sie sich auf die riskante Verletzungshandlung bezieht. Denn auch dies würde die Kenntnis des Risikos bei den jeweiligen Sexualpartnern voraussetzen, was nicht der Fall war. III. Schuld: Anton handelte auch schuldhaft. IV. Ergebnis: Anton hat sich wegen einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß 224 I Nr. 1 und 5, II, 22, 23 StGB strafbar gemacht. Dahinter treten die 223, 22, 23 StGB zurück.
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