Vorlesung Öffentliches Recht I. Kommunikationsfreiheiten II
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- Ralph Bachmeier
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1 Vorlesung Öffentliches Recht I Kommunikationsfreiheiten II
2 Wiederholungsfall X und Y sind Mitglieder in einem Kleintierzüchterverein und einander seit Jahrzehnten in inniger Abneigung verbunden. Als es auf einer Mitgliederversammlung wieder einmal hoch hergeht, unterbricht X eine Rede von Y mit den Worten: Der Y soll erst mal Deutsch lernen, bevor er hier herumschwadroniert. Y kontert: Jetzt halten Sie endlich mal den Mund, Sie Dummschwätzer! X erstattet Strafanzeige. In der Folge wird Y wegen Beleidigung ( 185 StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. Zur Begründung führen die Strafgerichte aus, die Bezeichnung des X als Dummschwätzer sei als schwere persönliche Kränkung ohne jeden Sachbezug anzusehen. Y könne sich daher nicht auf seine Meinungsfreiheit berufen, um diese Äußerung zu legitimieren. Steht diese Begründung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG in Einklang?
3 Anforderungen an Auslegung und Anwendung von 185 StGB Keine Abwägung von Meinungsfreiheit und gegenläufigen Belangen erforderlich bei Schmähkritik Gerichte bejahen in der Sache Schmähkritik Aber nicht haltbar, Auseinandersetzung in der Sache und konkrete Kommentierung des Verhaltens von X Erforderlich daher Abwägung, die hier unterblieben ist Daher Verletzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG
4 Themen heute Meinungsfreiheit und politisches Strafrecht Versammlungsfreiheit
5 Einstiegsproblem 130 Abs. 4 StGB (Volksverhetzung) lautet: Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt. Handelt es sich bei dieser Vorschrift um ein allgemeines Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG oder genügt sie sonst dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in die Meinungsfreiheit? Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen bestehen ggfs. an die Auslegung und Anwendung von 130 Abs. 4 StGB?
6 Allgemeines Gesetz, Art. 5 Abs. 2 GG (1) Nach BVerfG (Wunsiedel-Beschluss) mehrstufige Prüfung Gesetz knüpft nicht an Meinungsinhalte an allgemeines Gesetz (+) Anknüpfung an Meinungsinhalte: Frage, ob Schutzgut der Norm in der Rechtsordnung auch sonst geschützt wird (unabhängig von einem bestimmten Meinungsinhalt) Nein: allgemeines Gesetz (-) Ja: Vermutung für allgemeines Gesetz Vermutung ist widerlegt, wenn Gesetz nicht lediglich inhaltsbezogen, sondern standpunktbezogen angelegt ist, sich also von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet
7 Allgemeines Gesetz, Art. 5 Abs. 2 GG (2) Anwendung auf 130 Abs. 4 StGB: Kein allgemeines Gesetz Norm knüpft an Meinungsinhalte an Schutz eines allgemein anerkannten Rechtsguts ist nur Indiz für Allgemeinheit, hier Richtung gegen eine bestimmte Ideologie, Norm wahrt keine Blindheit gegenüber denjenigen, auf die sie letztlich angewandt werden soll Kein Schutz der persönlichen Ehre, da Unterfall des allgemeinen Gesetzes BVerfG: Ungeschriebener Schrankenvorbehalt - Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für Vorschriften, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen
8 Allgemeines Gesetz, Art. 5 Abs. 2 GG (3) Anforderungen des ungeschriebenen Schrankenvorbehalts: Eingriff in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG darf nicht nur dazu dienen, eine rein geistig bleibende Wirkung von Meinungsäußerungen zu verhindern erforderlich ist eine weitergehende Gefährdung von Rechtsgütern 130 Abs. 4 StGB: Schutz vor Äußerungen, die ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutgefährdende Handlungen hin angelegt sind (Aggressionen, Rechtsbruch)
9 Auslegungs- und Anwendungsebene Äußerung muss Schwelle zur Rechtsgutsgefährdung überschreiten 130 Abs. 4 StGB: Gutheißung muss sich gerade auf den Nationalsozialismus als historisch reale Gewalt- und Willkürherrschaft beziehen und so eine potentielle Wiederholbarkeit real werden lassen Nicht ausreichend wären etwa eine falsche Geschichtsinterpretation oder das Bekenntnis zur nationalsozialistischen Ideologie
10 Beispiele Sind die folgenden Regelungen als allgemeine Gesetze i.s.v. Art. 5 Abs. 2 GG anzusehen: 1. 68b StGB: Danach kann einem freigelassenen Straftäter für einen bestimmten Zeitraum u.a. die Weisung erteilt werden, bestimmte Tätigkeiten nicht auszuüben, die [er] nach den Umständen zu Straftaten missbrauchen kann. Ein Weisungsverstoß kann wiederum strafbar sein a Abs. 1 StGB: Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft Abs. 2 des sächsischen Versammlungsgesetzes: Danach kann eine Versammlung u.a. verboten werden, wenn sie an einem Ort von historisch herausragender Bedeutung stattfindet, der an [ ] Menschen, die unter der nationalsozialistischen oder der kommunistischen Gewaltherrschaft Opfer menschenunwürdiger Behandlung waren, erinnert und wenn zu besorgen ist, dass die Versammlung die Gewaltherrschaft [oder] das durch sie begangene Unrecht [ ] leugnet, verharmlost oder gegen die Verantwortung anderer aufrechnet
11 1. Allgemeines Gesetz, keine Anknüpfung an Meinungsinhalte 2. Allgemeines Gesetz: Anknüpfung an Meinungsinhalt, aber Schutz eines allgemein anerkannten Rechtsguts (Bestand und Sicherheit des Staates) und kein Standpunktbezug 3. Kein allgemeines Gesetz wg. Standpunktbezugs; hins. kommunistischer Gewaltherrschaft verfassungswidrig
12 Versammlungsfreiheit: Schutzbereich Persönlicher Schutzbereich: Deutschengrundrecht Sachlicher Schutzbereich Versammlung Zusammenkunft mehrerer Personen Gemeinsamer Zweck Jeder beliebige Zweck ausreichend? Jüngere BVerfG-Rechtsprechung: Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung als Versammlungszweck Friedlich: Kein gewalttätiger oder aufrührerischer Verlauf der Versammlung insgesamt Schutzrichtung Abwehrrecht gegen imperative und faktische Beschränkungen Teilhabekomponente: Wahl des Versammlungsortes grds. Anspruch auf Nutzung aller (jdf. hoheitlich betriebenen) öffentlichen Flächen, die dem allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet sind
13 Eingriff Imperative Eingriffe etwa Anmeldepflicht bei Versammlungen unter freiem Himmel ( 14 VersG) Verbot/Auflösung/Auflagen ( 15 VersG) Faktische Beschränkungen etwa Bild- und Tonaufnahmen Psychische Einwirkung, z.b. durch Gefährderansprache
14 Eingriffsrechtfertigung (1) Gesetzesvorbehalt Einfacher Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel, Art. 8 Abs. 2 GG Vorbehaltlose Gewährleistung für Versammlungen in geschlossenen Räumen Beachte: Beschränkung, die an den Inhalt von Meinungsäußerungen anknüpft, ist an Art. 5 Abs. 2 GG zu messen
15 Eingriffsrechtfertigung (2) Einzelfragen Imperative Eingriffe Anmeldepflicht Grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, um behördliche Informationsgrundlage bereitzustellen Reduktion bei Spontan- und Eilversammlungen Keine Versammlungsauflösung als quasi-automatische Sanktion, sondern erst bei konkreter Gefahr im Einzelfall
16 Eingriffsrechtfertigung (3) Einzelfragen Imperative Eingriffe Verbot/Auflösung/Auflage Insb. öffentliche Ordnung (Gesamtheit ungeschriebener gesellschaftlicher Verhaltensregeln): Ermöglicht keinen Eingriff wegen des voraussichtlichen Inhalts von Äußerungen, sondern nur wegen Art und Weise der Durchführung (zb Einschüchterungseffekt, besondere Provokationswirkung) Rechtfertigt regelmäßig nur Auflage, kein Verbot Verhältnismäßigkeit eines Verbots Anforderungen an Gefahrenprognose Vorgehen gegen Versammlung als Nichtstörer nur ausnahmsweise Kooperation durch Veranstalter erschwert Verbot
17 Eingriffsrechtfertigung (4) Einzelfragen Faktische Eingriffe Bild- und Tonaufnahmen: Ermächtigungsgrundlage in 12a VersG Potentiell einschüchternde Wirkung (auch bei Übersichtsaufnahmen), die auf Grundlagen demokratischer Auseinandersetzung zurückwirkt Gefährderansprache : insb. verfassungsrechtliche Anforderungen an Gefahrund Störerprognose
18 Lehren des Tages Begriff des allgemeinen Gesetzes Versammlungsbegriff Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit Versammlungsfreiheit und öffentliche Ordnung
19 Nacharbeit BVerfGE 124, 300 (Wunsiedel) Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, 17 Vertiefung BVerfGE 69, 315 (Brokdorf) BVerfGE 128, 226 (Fraport)
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